# taz.de -- Debatte Grüne und Pädophilie: Trittin am Pranger | |
> Franz Walter betreibt die Aufarbeitung der Grünen-Geschichte als | |
> Kriminalwissenschaft. Mit historischer Forschung hat das wenig zu tun. | |
Bild: Trittin wird angeprangert. Und beworben. Ausschnitt aus einem Wahlplakat … | |
Nehmen wir einmal an, im Jahr 2213 fände ein Historiker das | |
Ergebnisprotokoll einer Vertrauensabstimmung im Bundestag. Der über Gerhard | |
Schröder und den Afghanistan-Einsatz, November 2001. Die Redeprotokolle | |
sind verschollen, Presseberichte nicht auffindbar, die Zeitzeugen tot. | |
Welche Schlussfolgerung wird er ziehen? | |
Wohl die: Nur vier grüne Aufrechte – Ströbele, Buntenbach, Simmert, Hermann | |
– waren gegen den Krieg und verweigerten ihrem Kanzler die Zustimmung, alle | |
anderen waren dafür. Dass weitere vier dagegen waren, aber dafür stimmten, | |
dass die vier Nein-Sager mit den vier Ja-Sagern ausgedealt hatten, genau so | |
abzustimmen, um ein Zeichen zu setzen, aber Schröders Amt nicht wirklich zu | |
gefährden, bleibt im Dunkel der Vergangenheit. | |
Die Grünen dürften sich derzeit insgeheim gehörig über die Idee ärgern, | |
Franz Walter mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte betraut zu haben. Zu | |
Recht. Der Göttinger Professor ist Politikwissenschaftler. Und dennoch | |
könnte er wissen, dass man Geschichtsaufarbeitung nicht betreiben kann, | |
indem man einzelne Dokumente in die Öffentlichkeit trägt, ohne sie | |
ausreichend im Kontext zu bewerten: Zeitzeugen zu befragen, den Horizont | |
der Gesamtgesellschaft und der Gruppe zu bewerten, den | |
Entscheidungsspielraum und die Perspektiven der Akteure zu berücksichtigen. | |
Walter betreibt Zeitgeschichtsforschung als Kriminalwissenschaft: Wer steht | |
unter welchem Programm, wer hat für es kandidiert, wer hat es redigiert? | |
## Walters Tätersuche | |
Sollte die Nachricht von Jürgen Trittins Beteiligung am Göttinger | |
AGIL-Programm von 1981 stilbildend für die weitere Aufarbeitung stehen, | |
sind noch eine Reihe ähnlicher Enthüllungen zu erwarten: Wer waren die | |
Grünen, die 1985 in NRW dafür stimmten, die Streichung der | |
Pädophilen-Paragrafen ins Wahlprogramm aufzunehmen? Wer unterstützte die | |
Forderung in anderen Landesverbänden? Wer druckte die Grundsatzprogramme | |
von 1980, wer verteilte sie? Und was machen sie heute? | |
Walter und Klecha differenzieren nicht zwischen den Interessengruppen der | |
Pädophilen und denen, die ihre Forderungen unterstützt haben, in welcher | |
Form und wie lange auch immer. Sie fragen kaum nach den Motiven: Wo war es | |
Unkenntnis, also ein damals üblicheres, aber heute naiv wirkendes | |
Verständnis von Liberalität? Fiel das Falsche der pädophilenfreundlichen | |
Positionen schon deshalb nicht auf, weil man sich permanent mit anderen, | |
innerparteilich viel relevanteren falschen Positionen beschäftigen musste? | |
War es Opportunismus oder Angst, weil man gegen die Positionen von | |
Minderheiten keinen Einspruch wagte und wagen konnte? Oder war es | |
Realpolitik – also die Hinnahme von Programmteilen, die man für falsch | |
hielt, aber angesichts der Machtverhältnisse nicht kurzfristig gestrichen | |
bekam? | |
## Biobauern und Ökofundis | |
Walter und Klecha scheinen an das Agieren in den Grünen der Gründungszeit | |
dieselben Maßstäbe anzulegen wie an eine Tätigkeit in der SPD. Als hätten | |
die Grünen damals nicht halbbraune Biobauern ebenso angezogen wie Freunde | |
des Realsozialismus, Ökofundis ebenso wie die Gegner des staatlichen | |
Gewaltmonopols. | |
Selbst jemand, der mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterm | |
Arm der Partei beigetreten wäre und das feste Ziel verfolgt hätte, die | |
Grünen zu der realpolitischen Partei zu machen, die sie heute sind, hätte | |
nicht agieren können, ohne mit seltsamen Gruppen von Zeit zu Zeit | |
Kompromisse zu schließen. Und das konnte auch heißen: weiter für die Grünen | |
zu kandidieren, obwohl man Teile des Programms ablehnte. | |
Auch eine differenzierte Einordnung in das gesellschaftliche Umfeld fehlt. | |
Dass das Thema heute so prominent aufschlägt, hat auch damit zu tun, dass | |
alle anderen Themen, die man mit den Grünen der Gründungszeit assoziiert, | |
schon gesellschaftlich verhandelt sind. Die Debatte über die gewalttätigen | |
Anfänge der Grünen-Prominenz etwa endete mit den Fotos des vermummten | |
Joschka Fischer. | |
Warum also diskutiert man erst heute über Grüne und Pädophilie? Die | |
Grünen-Dokumente, die Walter/Klecha aus den Archiven ziehen, waren ja, | |
anders als die Fischer-Fotos, keine geheimen Dokumente. Sie wurden | |
öffentlich beschlossen, an Ständen verteilt. Auch die sogenannte | |
„bürgerliche“ Presse scheint sich vor dem Wirbel um das grüne | |
NRW-Wahlprogramm 1985 kaum dafür interessiert zu haben. Weil die Linke | |
jenseits der SPD eine recherchefreie Zone war? Oder weil ein breiteres | |
gesellschaftliches Umfeld (und nicht nur Linke und Liberale) damals die | |
Forderung nach einer Aufhebung der Pädophilie-Paragrafen nicht für so | |
skandalträchtig hielt wie heute? | |
## Fragwürdige CDU-Geschichte | |
Die Ansichten über das, was im sexuellen Bereich erlaubt sein soll, haben | |
sich im letzten Jahrhundert einschneidend verändert: Der Kuppelei-Paragraf | |
etwa, der sogar Hauseigentümer bedrohte, wenn sie an unverheiratete Paare | |
vermieteten, wurde erst 1974 abgeschafft. Vergewaltigung in der Ehe ist | |
erst seit 1997 strafbar, nach jahrelangem Widerstand aus der Union. Heute | |
dürfte es fast der gesamten Bevölkerung seltsam erscheinen, dass sie je | |
erlaubt gewesen sein soll. | |
Gerade bei der Vergewaltigung, die bei allen Unterschieden am ehesten dem | |
Delikt des Kindesmissbrauchs ähnelt, wird deutlich, wie unsinnig der | |
kriminalistische Ansatz Walters und wie bigott die Empörung aus der CDU/CSU | |
über Trittin ist. Denn natürlich könnte man auch die Dokumente aus der | |
Union von vor 1997 durchforsten, um herauszufinden, welche Personen damals | |
Vergewaltigung in der Ehe straflos behalten wollen. Und weil das Ganze erst | |
16 Jahre zurückliegt, ließen sich vermutlich eine Reihe von | |
Christdemokraten finden, die man heute zum Rücktritt auffordern könnte. | |
Aber wenn man gesellschaftlichen Wandel auch als einen Prozess der | |
Aufklärung begreift, ist es absurd anzunehmen, dass schon zu Beginn einer | |
Debatte alle die Position gehabt könnten, die sich am Ende durchgesetzt | |
hat. Wer Jürgen Trittin heute wegen seines V.i.S.d.P von 1981 angreift, | |
betreibt nicht Aufklärung, sondern fällt ins Mittelalter zurück: Er führt | |
den Pranger wieder ein. | |
19 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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