# taz.de -- Jürgen Trittins Rückzug: Dem Gegner einen Schritt voraus | |
> Der Kampf gegen die anderen, die Konfrontation, zieht sich durch Jürgen | |
> Trittins Biografie. Auch über seinen Abgang entscheidet der mächtigste | |
> Grüne selbst. | |
Bild: Jürgen Trittin: mit Würde abtreten, freiwillig und nicht vertreiben las… | |
BERLIN taz | Um kurz vor 14 Uhr stehen die versammelten Abgeordneten der | |
Grünen, die Alten und die Neuen, von ihren Stühlen auf. Sie fangen in dem | |
hohen Protokollsaal 1 des Berliner Reichstages an zu applaudieren, erst | |
wenige, dann alle, minutenlang. Ernste, bewegte Gesichter. Vorn steht | |
Jürgen Trittin, bis vor kurzem der mächtigste Grüne der Republik, um dessen | |
tiefen Fall es in dieser Geschichte gehen wird. | |
Gerade hat er den Abgeordneten, die sich teilweise zum ersten Mal treffen, | |
erklärt, dass er sich aus der ersten Reihe verabschiedet. “Wir müssen uns | |
aufstellen für das Jahr 2017.“ Den nächsten Wahlkampf führen, den nächsten | |
Versuch starten, die Grünen in die Regierung bringen, das müsse „eine neue | |
Generation tun“. | |
Trittin wiederholt seine Analyse, warum es dieses Mal so schiefging. Die | |
Partei habe ein Programm angeboten, von dem sie geglaubt habe, es | |
repräsentiere die gesellschaftliche Mehrheit. Das habe sich als Fehlschluss | |
erwiesen. | |
Trittin meint damit auch sich selbst. Er, der Vollprofi, der die Dinge so | |
lange voraus plant wie kein anderer, hat sich verschätzt. Die Gesellschaft | |
wollte Trittins Reformen nicht. | |
Mit seiner Ansprache endet ein persönliches Drama. Ein Absturz, der unfair | |
ist und schmutzig, aber um Fairness geht es nicht in diesem Betrieb. Das | |
weiß keiner besser als Trittin. Er hat sein ganzes Leben der Politik | |
verschrieben, er betreibt dieses wilde Spiel leidenschaftlich und besessen, | |
seitdem er als Student der Sozialwissenschaft in verqualmten Göttinger | |
Hörsälen die Revolution diskutierte. | |
Noch vor einem Jahr war Trittin ganz oben. Die Chancen für Rot-Grün standen | |
gut. Gerhard Schröder persönlich bescheinigte ihm einen „staatsmännischen | |
Habitus“. Die Zeitungen druckten wohlwollende Porträts. Trittin, der sich | |
für ziemlich großartig hält, nahm das, sagen wir: zufrieden zur Kenntnis. | |
Er wollte Finanzminister und Vizekanzler werden, der zweitwichtigste Mann | |
der Republik. | |
Jetzt ist Trittin abgestürzt. Er geht gerade noch rechtzeitig, um es | |
freiwillig zu tun. Das ist ihm wichtig, er behält bis zum Schluss die | |
Kontrolle. Wer über den Moment des Abschieds selbst bestimmt, geht in | |
Würde. Am Wahlabend sei Trittin sofort klar gewesen, dass die 8,4 Prozent | |
auch sein Ende bedeuteten, sagen Vertraute. Ein Trittin, so die Botschaft, | |
lässt sich nicht wegmobben. | |
In der Hinsicht gibt sich seine Partei seit Tagen Mühe, und die Einschläge | |
kamen näher. In der Fraktion zählen sie seit Wochen durch, mit welchen | |
Stimmen man Trittin ablösen könnte. | |
Abgeordnete des Realoflügels diskutierten auf einem internen Flügeltreffen | |
am Montag die Causa, „ziemlich einhellig“, wie es heißt. Renate Künast, | |
bisher Fraktionschefin, kündigte am Dienstag an, nicht mehr zu kandidieren. | |
Claudia Roth, bisher Parteichefin, gab bekannt, sich auch zurückzuziehen. | |
Beide konkurrieren jetzt darum, Bundestagsvizepräsidentin zu werden. | |
## Bütikofer und Fischer | |
Plötzlich meldeten sich auch zwei Grüne zu Wort, die früher einmal sehr | |
mächtig waren, sich aber sonst heraushalten. Exparteichef Bütikofer ließ | |
sich in der [1][Süddeutschen Zeitung] mit der Einschätzung zitieren, eine | |
personelle Neuaufstellung sei nötig. | |
Und Joschka Fischer, ehemals Außenminister, analysierte auf [2][Spiegel | |
Online], es sei ein „fataler Fehler“ gewesen, die Grünen „strategisch auf | |
einen Linkskurs zu verringern“. | |
Jede Silbe solcher Zitate wird im politischen Betrieb autorisiert, alle | |
Grünen wissen sofort, wie sie gemeint sind. Als wuchtige, offene Angriffe | |
auf Trittin. Es wird einsam um ihn. | |
## Das Drama beginnt | |
Ein Mittwoch vor zwei Wochen, vor einer halben Ewigkeit also. Die | |
Katastrophe deutet sich in Umfragen an, aber die Grünen kämpfen noch. | |
Jürgen Trittin philosophiert auf der Rückbank eines VW-Busses über seine | |
Zukunft, irgendwo auf der Autobahn hinter Mannheim. Stimmt es, dass 2013 | |
seine letzte Chance für ein Spitzenamt ist? „Wenn ich die Beschlusslage der | |
Grünen richtig sehe, dann sind wir für die Rente mit 67.“ | |
Trittin schiebt die Zunge unter die Unterlippe, grinst sein maliziöses | |
Trittin-Grinsen. | |
Ein großer Witz. Allein die Idee, dass er sich mal verabschieden müsste, | |
ist für ihn absurd. Zumindest tut er so. | |
Das hassen viele an Trittin. Das Oberlehrerhafte. Das Dozierende. Seine | |
schneidende Arroganz, mit der er Leute in die Ecke stellen kann. Wenn viele | |
jetzt über ihn herziehen, schimmern da auch Verletzungen durch. Und die | |
Genugtuung, es ihm endlich heimzahlen zu können. | |
Wenn Merkel anruft, wird Trittin in die Sondierungsgespräche gehen, mit | |
Katrin Göring-Eckardt und den beiden Parteivorsitzenden. Das haben sie im | |
Vorstand verabredet, dabei bleibt es. Trittin sieht das als letzten Dienst | |
an seiner Partei, als Management in einer Situation, in der fast alles ins | |
Rutschen gerät. Die Frage, welches Mandat eine solche Führungscrew von | |
gestern eigentlich noch hat, ist im Grunde egal, denn Schwarz-Grün halten | |
selbst die größten Fans des Bündnisses für aussichtslos. | |
## Die soziale Frage | |
Es geht nicht mehr um die Regierung, es geht um die Frage, wie die Partei | |
in Zukunft aussehen soll. Trittin, der hinter der Idee stand, | |
Besserverdiener moderat zu belasten, um soziale Instrumente finanzieren zu | |
können, hinterlässt ein Vakuum. Diejenigen, die die Grünen auf die Ökologie | |
und die Energiewende fokussieren wollen, werden es zu nutzen wissen. | |
Trittin machte die wichtigen Dinge schon immer mit sich selbst aus. Aber in | |
den Tagen nach dem Wahlsonntag gab es Momente, in denen er fast abwesend | |
wirkt. | |
Als das Spitzenquartett am Montag auf einer grün ausgeleuchteten Bühne | |
versucht, das Desaster mit Erklärungen zu füllen, steht Trittin daneben und | |
starrt ins Leere. Er hat die Arme um den Oberkörper gewickelt, in dieser | |
typischsten aller Trittin-Gesten. Als er dran ist, redet er ruhig, | |
gelassen, als habe er schon losgelassen. | |
Ein Reporter will wissen, ob die Grünen die bürgerliche Mitte vergrätzt | |
haben. Trittin antwortet: „Man verändert die Gesellschaft nicht, indem man | |
sich ihr anpasst, sondern indem man für seine Überzeugungen streitet.“ | |
## Kampagne gegen die Grünen | |
Kein Satz drückt besser aus, wie Trittin Politik denkt. Der Kampf gegen die | |
anderen, die Konfrontation, das Stehenbleiben im Sturm zieht sich durch | |
seine Biografie. Als Umweltminister mit Schnauzbart boxte er das Dosenpfand | |
und den Emissionshandel durch. Er stand auch dieses Mal wie eine Eins, als | |
die Lobbys der Wirtschaft und Privatkrankenkassen eine Kampagne gegen die | |
Grünen starteten. | |
Trittin ist der Dozent des politischen Spitzenpersonals, er hackt am | |
Rednerpult des Plenarsaales mit dem Zeigefinger in die Luft und weiß immer | |
eine Zahl mehr als der Gegner. | |
Die Regierungsbeteiligung 2013 sollte sein Meisterwerk werden, akribisch | |
bereitete er die Partei darauf vor. Die Grünen lernten aus der Agenda 2010. | |
Sie beschlossen in den vergangenen Jahren, sich um soziale Gerechtigkeit zu | |
kümmern, und von Besserverdienern etwas mehr Geld zu fordern. Es war | |
Trittins Meisterwerk. Das ehrlichste und präziseste Programm, mit dem die | |
Grünen jemals angetreten sind, breit getragen, von den Linken wie von den | |
Realos. | |
Die Zeit nach einer Wahl ist immer die Zeit der Umdeutungen. Dennoch kann | |
man sich nur wundern, wie schnell manche Grüne ihr eigenes Programm | |
vergessen. | |
## Einige wollten es vorher gewusst haben | |
Plötzlich laufen in Berlin viele herum, die schon immer wussten, dass | |
Steuererhöhungen so ziemlich das Verrückteste seien, was man in einem | |
Wahlkampf anstellen kann. So redete in der vergangenen Woche noch Hermann | |
Gröhe. | |
Und noch etwas ist wichtig, um das Drama von Trittins Abschied zu | |
verstehen. Die Sache mit der Pädophilie. Seitdem die taz einen Gastbeitrag | |
des Politologen Franz Walter veröffentlichte, in dem er Trittins | |
presserechtliche Verantwortung für ein Kommunalwahlprogramm beschrieb, | |
klebt sie an ihm. | |
Dazu muss man sagen, dass Trittin selbstverständlich kein Pädophiler ist. | |
Er teilte auch die Position derjenigen nicht, die ihre Neigungen im | |
Windschatten der allgemeinen Liberalisierung legalisieren wollten. Trotzdem | |
hat er sich sofort entschuldigt. | |
Trittin hat, kurz gesagt, offen und professionell auf den Anwurf reagiert. | |
Trotzdem wird etwas haften bleiben von dem Skandalgebrüll der | |
CSU-Schreihälse. Und das, genau das hat Jürgen Trittin wirklich nicht | |
verdient. | |
24 Sep 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-wahlniederlage-der-gruenen-buetikof… | |
[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/joschka-fischer-rechnet-mit-gruen… | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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