# taz.de -- Kolumne Nullen und Einsen: Zukunft gestern, heute, morgen | |
> Früher träumte man davon, mit Schießbaumwolle zum Mond fliegen, heute | |
> entfernt Apple die Röhrenmikrofone aus seinen Handys. Und was ist 2063 | |
> los? | |
Bild: So sah die Zukunft vor 115 Jahren aus: Reklame-Sammelbilder der Schokolad… | |
„Wie sieht unsere Zukunft in 50 Jahren aus?“, fragt mich eine PR-Mail. Als | |
wäre es nicht schon schwer genug, sich zu überlegen, wie die Welt in 50 | |
Jahren aussieht, nein, jetzt muss es schon die Zukunft der Zukunft sein. | |
Die einfache reicht uns wohl nicht mehr. | |
So blöd ist die Frage dann aber doch nicht, sah doch etwa die Zukunft vor | |
50 oder 100 Jahren noch ganz anders aus als heute, selbst wenn es um | |
Zeitpunkte geht, die immer noch in der Zukunft liegen, also etwa um 2081. | |
Denn Zukunftsvorstellungen verlängern meist einfach nur die Gegenwart, was | |
dazu führt, dass die Leute bei Jules Verne mit Hilfe einer 270 Meter langen | |
Gusseisenkanone und Schießbaumwolle zum Mond fliegen. | |
Mit dem Retrofuturismus beschäftigt sich inzwischen ein ganzes | |
Science-Fiction-Subgenre damit, wie die Zukunft in der Vergangenheit | |
aussah: Im Steampunk sind Computer und Luftschiffe dampfbetrieben und im | |
Stile der viktorianischen Zeit gestaltet, im Dieselpunk sehen sie aus wie | |
die Stahlungetüme in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Und wenn wir uns | |
heute die Flugtaxis – warum eigentlich immer diese Flugtaxis? – im Jahr | |
2100 vorstellen, haben sie selbstverständlich Touch-Displays und | |
Sprachsteuerung. | |
Auch bei der Implementierung der Zukunft im Jetzt wird gern auf | |
Retroelemente zurückgegriffen. Der beliebteste Handyklingelton? Ein | |
Rrrrrring wie von Opas Wählscheibenapparat. Das Geräusch beim | |
Smartphonefoto? Ein sattes Schnappklack wie bei einer alten Nikon. | |
Skeuomorphismus nennt sich dieses Designprinzip, das Wort gibt es seit über | |
100 Jahren, schon die ersten elektrischen Wasserkocher sahen aus wie die | |
Teekessel, die sie verdrängten. | |
Skeuomorphismen sind gut, denn sie nehmen den Leuten die Angst vorm Neuen | |
und sorgen für intuitive Usability. Skeuomorphismen sind zugleich schlecht, | |
denn sie wählen nicht das effektivste Design und die beste Bedienmethode, | |
sondern einfach nur Vorhandenes, was sich dann oft auch nie mehr ändert. | |
Vor ein paar Wochen hat übrigens Apple die neue Version seines | |
iPhone-Betriebssystems ausgeliefert, in der das Design grundlegend | |
verändert wurde. Viele Grundfunktionen sehen jetzt nicht mehr aus wie aus | |
Holz und Leder, die Notiz-App ist nicht mehr karteikartengelb, und bei der | |
Aufnahme von Sprachmemos blickt man nicht mehr auf ein Röhrenmikrofon. Die | |
Welt ist ein wenig unskeuomorpher geworden und so wird auch die Zukunft | |
bald wieder eine andere sein. | |
„Wie die Vergangenheit in 50 Jahren aussieht, darüber kann man schon jetzt | |
recht verlässliche Aussagen treffen“, kommentierte jemand auf Facebook den | |
PR-Mail-Satz. Na ja. So verlässlich dann auch wieder nicht, denn auch die | |
Vergangenheit konstituiert sich ja andauernd neu, es ist kein Zufall, dass | |
wir von „Geschichte“ sprechen, die in der Regel nicht „beschrieben“, | |
sondern „geschrieben“ wird. | |
Über das Bild der Menschen im Jahr 2063 von unserer Zeit können wir uns | |
daher nur grobe Vorstellungen machen. Wird der NSA-Skandal als Beginn einer | |
Zeitenwende gelten? Wird er nur eine Anekdote sein, so skurril wie Mata | |
Hari? Oder wurde der gesamte Vorgang bis dahin schon komplett aus der | |
Geschichte wegzensiert sein? | |
11 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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