| # taz.de -- Buch über Baumwollkapitalismus: Weißes Gold, voller Blut | |
| > In „King Cotton“ erzählt der Historiker Sven Beckert, wie sich aus der | |
| > Geschichte der Baumwolle die gegenwärtige Weltgesellschaft entwickelte. | |
| Bild: Der weiche Kern der Textilwirtschaft: Baumwolle. | |
| Wer die Welt von gestern nicht kennt, kann die Welt von heute nur schwer | |
| verstehen. Gute Bücher können zwischen beiden Welten vermitteln und das | |
| Verständnis des Ganzen fördern; Hegel nannte dieses Ziel der Erkenntnis | |
| anspruchsvoll: Totalität. | |
| Bücher, die eine gesellschaftsgeschichtliche Totalität erfassen, sind | |
| äußerst selten zu finden; aber seit die Geschichtswissenschaft begonnen | |
| hat, ihre nationalen Scheuklappen abzuwerfen, wird der neugierige Leser | |
| immer öfter von großen globalgeschichtlichen Würfen überrascht, die einen | |
| die Welt von gestern mit anderen Augen sehen lassen und auf die Welt von | |
| heute ein neues Licht werfen. | |
| Mit „King Cotton“ ist dem in Harvard lehrenden Historiker Sven Beckert ein | |
| solcher Wurf gelungen, der den Rezensenten in staunende Bewunderung einer | |
| gelungenen weltgeschichtlichen tour d’horizon versetzt. Beckert gelingt es | |
| in einem atemberaubenden Tempo auf fünfhundert prallen Seiten, aus der | |
| Geschichte der Baumwolle die Genesis der gegenwärtigen Weltgesellschaft zu | |
| entwickeln. | |
| Das dicke Buch ist flüssig geschrieben; die Geschichte wird spannend und | |
| anschaulich erzählt. Beckerts weltumfassende Materialkenntnis beruht auf | |
| einem soliden Wissen, das er aus dem Bestand vieler Bibliotheken und | |
| Archive von Osaka bis Bremen, von Barcelona bis Mumbai, von Manchester bis | |
| Harvard mit einem beeindruckenden Mitarbeiterstab geschöpft hat. Das Buch | |
| beginnt mit der Weltgeschichte des Baumwollanbaus in den zivilisatorischen | |
| Anfängen der Menschheit und endet in der Weltgesellschaft der Gegenwart. | |
| Das Herzstück bildet allerdings die Epoche von 1860 bis 1960, in der sich | |
| die Konstitution des globalen Kapitalismus ablesen lässt. Das Produkt | |
| Baumwolle ist gut gewählt; denn das Baumwollimperium mit King Cotton steht | |
| im Mittelpunkt dieses Konstitutionsprozesses. Die Ware Baumwolle ist ein | |
| ganz besonderer Stoff und es ist kein Zufall, dass im ersten Kapitel von | |
| Karl Marx’ „Kapital“ das „Bekleidungsbedürfnis“ am Anfang seiner | |
| Erläuterung des Gebrauchswerts einer Ware steht. Dieses universelle | |
| Bedürfnis wird auch heute von einer global agierenden Textilwirtschaft, | |
| deren weicher Kern immer noch die Baumwolle ist, befriedigt. | |
| ## Zivilisation und Barbarei bedingen sich einander | |
| Beckerts Ziel im Unterschied zu Marx ist es nicht, die Gesellschaft unter | |
| dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit zu beschreiben, sondern er will den | |
| „Kapitalismus in Aktion“ als ein sich ständig selbst revolutionierendes | |
| System zeigen. Beiden Versuchen, die weltgeschichtliche Dynamik zu | |
| begreifen, ist die Einsicht gemeinsam, dass in der Geschichte des | |
| Kapitalismus Zivilisation und Barbarei sich einander bedingen. Der | |
| Amerikanische Bürgerkrieg 1861 bis 1865 wird bei Beckert zum Schnittpunkt | |
| zwischen einer Phase des „Kriegskapitalismus“ und des aufkommenden | |
| Industriekapitalismus. | |
| Mit der glücklichen Begriffswahl „Kriegskapitalismus“ gelingt es Beckert | |
| die Rolle von Kolonialismus, Gewalt und Zwang in den Konstitutionsprozess | |
| der modernen Gesellschaft zu integrieren – Landraub, Menschenverschleppung | |
| und Zwangsarbeit sind unabdingbare Voraussetzungen der „Great Divergence“ | |
| (Kenneth Pommeranz), der globalen Wohlstands- und Machtungleicheit, die | |
| noch in den weltpolitischen Konflikten der Gegenwart wirksam ist. | |
| Die apologetischen Begründungen westlicher Überlegenheit, die viel | |
| beschworenen westlichen Werte, schmelzen wie Schnee in der Sonne, wenn man | |
| Beckerts Schilderung des Empire folgt, das Liverpool – und nicht Paris – | |
| zur Hauptstadt des 19. Jahrhunderts machte: „… die erste industrialisierte | |
| Nation, Großbritannien, war ein imperialistischer Staat mit enormen | |
| Militärausgaben, mit einer stark in das Wirtschaftsleben eingreifenden | |
| Bürokratie, hohen Steuern, hoher Staatsverschuldung und Protektionismus – | |
| und dieser Staat war auf keinen Fall demokratisch“. | |
| Der Reichtum Liverpools lag in der Schlüsselfunktion dieser Stadt, die von | |
| schwarzen Sklaven in den Südstaaten der USA billig produzierte Baumwolle | |
| mit der textilverabeitenden Industrie Lancashires vermittelte. Von hier | |
| belieferten Handelsschiffe die ganze Welt mit industriell erzeugter | |
| Kleidung, eroberten riesige neue Märkte wie zum Beispiel Indien, dessen | |
| einst Europa überlegene Baumwollproduktion durch den Kolonialismus zerstört | |
| worden war. | |
| Doch das Ende der Sklavenwirtschaft in den USA erforderte eine Umstellung | |
| der Rohstoffproduktion auf Billiglohnarbeit, die den Baumwollanbau schon | |
| Ende des 19. Jahrhunderts nach Asien zurückkehren ließen. Im letzten | |
| Jahrhundert ist auch die Textilproduktion nach Asien ausgewandert, deren | |
| Ziele von großen Handelskonzernen wie Wal Mart, Metro oder Carrefour | |
| diktiert werden. | |
| Wer den Einsturz der Textilfabrik in Bangladesch vor Augen hat, muss kein | |
| Moralist sein, um zu wissen, dass nicht nur an jedem T-Shirt Blut klebt. | |
| Von den ökologischen Kosten ganz zu schweigen: Insektizide, Herbizide, die | |
| Böden und Gesundheit ruinieren, 2.700 Liter Wasser für ein einziges | |
| T-Shirt. Beckerts realistischer Blick auf den „Kapitalismus in Aktion“ | |
| macht den Leser frösteln. | |
| 21 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Detlev Claussen | |
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