# taz.de -- Kostenloser Nahverkehr: Nie wieder Schwarzfahren! | |
> Im belgischen Hasselt ist er gescheitert, im estnischen Tallinn Realität: | |
> der Nahverkehr zum Nulltarif. In Deutschland ist er auch möglich: ein | |
> Sieben-Punkte-Plan. | |
Bild: Hat den Nahverkehr kostenlos gemacht: Tallinns Bürgermeister Edgar Savis… | |
1 Erst einmal ist immer diese Grundskepsis da, diese grauen Bedenken. Die | |
müssen weg. Man braucht Platz im Kopf, um sich auszumalen, wie schön es | |
sein könnte, einfach so, ohne Kleingeld, Chip-Card, Stempel in den nächsten | |
Bus zu steigen, ohne sich mit Fahrschein-Automaten rumzuärgern und ohne | |
Kontrolleursangst. Wie schön, sich den Autostress zu sparen, wie schön, die | |
Staus zu reduzieren, die Unfallzahlen zu verringern, Schwarzfahren als | |
Haftgrund zu eliminieren, die Luft zu verbessern, die FahrerInnen vom | |
Klimpergeld zu entlasten, das ja oft genug ein Überfallanreiz ist – all das | |
sind Effekte, die sich mit einem fahrscheinlosen öffentlichen | |
Personennahverkehr erzielen lassen, nicht automatisch, und keiner hat | |
gesagt, dass es ganz einfach wäre. Aber es ist einfacher als man denkt. Und | |
es ist möglich. Nur wollen muss man’s | |
2 Irgendwo muss man damit anfangen. Aber wo? Es gibt eine Reihe Faktoren, | |
die ein Pilotprojekt bräuchte: Die Stadt sollte nicht zu klein, das Netz | |
funktionstüchtig sein, aber auch nicht zu teuer. So hat Hamburg eine | |
U-Bahn, und deren Erweiterung ist ähnlich schwer zu kalkulieren wie ein | |
Konzerthaus-Neubau. In Frage kämen eher Orte wie Braunschweig oder Kiel | |
oder Schwarzfahrerhochburgen, da liegt Hannover in Norddeutschland auf | |
Platz eins, etwas vor Bremen – vielleicht eingedenk dessen, dass in diesen | |
zwei Städten 1967 das revolutionäre Potenzial des ÖPNV zu Tage getreten | |
war. Ja, eigentlich hat Bremen die besten Voraussetzungen. So hat | |
einerseits Wilfried Eisenberg, der Chef der dortigen Straßenbahn AG (BSAG) | |
durchaus schon Sympathien für die Idee gezeigt, was hilfreich ist und | |
keineswegs die Regel. In Bremen ließe sich zudem das neue System entweder | |
als Landesgesetz austüfteln, das die zwei Städte Bremen und Bremerhaven zur | |
Umsetzung zwänge, oder aber als kommunale Satzung. Und schließlich sind | |
dort finanzwirksame Volksbegehren zulässig. Denn: Wenn, dann wird das | |
Schwarzfahren ja wohl über direkte Demokratie abgeschafft – oder glauben | |
Sie, dass Ihre Stadtverordnetenversammlung sich das traut? | |
3 Dafür braucht man Mitstreiter. Die Voraussetzungen sind gut. Es gibt | |
sogar CDU-Leute, die dafür wären. Einige FDP-Landesverbände hatten die Idee | |
schon mal im Programm. Im Grunde, das ist ja das Schöne, kann jede gängige | |
Ideologie fahrscheinlosen ÖPNV gut finden. Er lässt sich als | |
Vergesellschaftung öffentlicher Infrastruktur darstellen. Er erleichtert | |
die Teilhabe. Er ist, wie die Beispiele Hasselt und Tallinn zeigen, | |
ökologisch und ökonomisch sinnvoll … Hauptantrieb sind in Bremen bislang | |
die Piraten. Die haben das Thema am weitesten ausgearbeitet. Dass sie bei | |
den Wahlen bislang nicht so richtig erfolgreich waren, ist fast ein | |
Vorteil, weil es noch stärker zur Partnersuche zwingt. Mit der Linken hat | |
man eine Arbeitsebene gefunden. Ein sich schärfer links verortendes Bündnis | |
hat mehrfach eher anarchische Umsonstfahrtage ausgerufen, so als Aktion, | |
ist zwar versandet, aber: Das Potenzial gibt’s. Der BUND ist in Bremen | |
stark und kampagnefähig, und in dessen Haus residiert noch dazu der | |
Landesverband des ökologischen Verkehrsclubs Deutschland, des VCD. Die | |
kritische Masse wäre also vorhanden. | |
4 Was finanztechnisch nicht klappt ist: Nulltarif einführen und fertig. In | |
Hasselt hat man den ÖPNV einfach aus dem Investitions-Budget bezahlt, was | |
ein Problem wird, wenn dessen Kosten und die Steuereinnahmen nicht im | |
Gleichschritt wachsen – und auch im deutschen Haushaltsrecht kaum möglich | |
scheint. „Die ultimative Form ist das beitragsfinanzierte ’Bürgerticket‘ | |
für alle“, stellt eine Studie des VCD über „Möglichkeit und Grenzen des | |
ÖPNV zum Nulltarif“ fest: ein Modell also, bei dem alle BürgerInnen zahlen | |
müssten – genauso wie die Müllabfuhr oder den Rundfunk, einfach damit die | |
Dienstleistung bereit steht. Das wäre auch eine sehr transparente Form der | |
Finanzierung. Denn, darauf weisen die Piraten hin, allein 2012 hat Bremen | |
mehr als 54 Millionen Euro an die BSAG überwiesen, um Verluste | |
auszugleichen – eine Summe, um die sich der öffentliche Haushalt per | |
Beitragsmodell entlasten ließe. Der Monatsbeitrag läge in Bremen wohl noch | |
unter 30 Euro. BSAG-Chef Eisenberg hatte im August in der taz sogar von 25 | |
Euro gesprochen – weniger als halb so viel wie eine Monatskarte für die | |
gesamte Stadt | |
5 Ein Investitionsprogramm müsste man skizzieren: Denn der ÖPNV ist ja gut | |
ausgelastet, eine Fahrgastzahlenexplosion würde er ohne Verbesserung des | |
Angebots weder verkraften, noch, umgekehrt, erzielen. Und beides ist | |
wünschenswert: Je größer der Zuwachs, desto stärker die Abnahme des | |
Autoverkehrs, Baumaßnahmen fördern die Konjunktur. Die Chancen, dafür | |
Förderungen abzugreifen sind gut, denn die EU hat die Verkehrsinfrastruktur | |
als neuen Schwerpunkt definiert – und die entsprechenden Mittel bis zum | |
Jahr 2020 verdreifacht. | |
6 Jetzt muss man das in Form bringen, als Gesetz oder Satzung: Etwas | |
knifflig wird es bei der Frage, wie man die Pendler einbeziehen kann (das | |
wäre wichtig) und wie die Touristen schröpfen (das ist eher Populismus). | |
Politisch debattieren muss man die Definition von Ausnahmen: Klar sollten | |
Menschen mit Behinderung weiter gratis fahren, Kinder auch, aber dann: Ist | |
eine soziale Staffelung möglich, um Familien zu entlasten? Und: Wie lässt | |
sich das Modell mit dem Verkehrsverbund koordinieren, und wie mit dem | |
Semesterticket vereinbaren? An solchen Fragen entzünden sich gern Klagen. | |
7 Und dann? Am besten wäre es gewesen, direkt mit Inkraftreten der Erhöhung | |
der Ticketpreise mit dem Unterschriftensammeln zu beginnen, denn | |
verbreiteter Ärger ist ja für so was ein guter Antrieb. Wahnsinn: Um 4,6 | |
Prozent im Schnitt sind sie in Bremen zum Jahresbeginn gestiegen – und | |
ausgerechnet der Preis fürs gesondert bezuschusste Sozialticket um stolze | |
23,7 Prozent! Noch reicht jedenfalls die Zeit, um initiativ zu werden: Die | |
nächste Landtagswahl kommt erst 2015. den ganzen Schwerpunkt "Kostenloser | |
Nahverkehr" lesen Sie in der taz.am Wochenende oder hier | |
25 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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