# taz.de -- Attraktiver Nahverkehr: Freie Fahrt für Stadtbewohner | |
> In Estlands Hauptstadt Tallinn sind Busse und Straßenbahnen seit einem | |
> Jahr umsonst – für die Einwohner. In der Folge meldeten viele ihren | |
> Hauptwohnsitz in Tallinn an, die Steuereinnahmen stiegen. | |
Bild: Kostenlos: Nahverkehr in Tallinn für Tallinner. | |
TALLINN taz | Seit einem Jahr wird öfter über die estnische Hauptstadt | |
Tallinn berichtet als sonst. Der Grund ist: Tallinns Bürger haben seit dem | |
1. 1. 13 einen kostenlosen Nahverkehr. Es ist die erste europäische | |
Hauptstadt, die diesen Schritt geht. Das Ergebnis? Busse, Straßenbahnen und | |
Oberleitungs-Busse sind reichlich, zu zehn Prozent mehr ausgelastet. Der | |
Autoverkehr im Zentrum reduzierte sich um 15 Prozent, im gesamten | |
Stadtgebiet um neun Prozent. Den Ausstoß von CO2 verminderte das um 45.000 | |
Tonnen. | |
Stadtoberhaupt Edgar Savisaar von der Zentrumspartei spricht in dem | |
Zusammenhang auch von „Zukunftsfähigkeit“ und „Umweltentlastung“ – u… | |
„Sozialraumentwicklung“. Jetzt können Menschen unabhängig von der Höhe | |
ihres Einkommens die Vielfalt der Stadt nutzen und leichter Freunde und | |
Angehörige treffen. | |
Der Entschluss zur Kostenfreiheit wurde durch ein Referendum bestärkt; 75 | |
Prozent der Bürger, die an der Abstimmung teilgenommen hatten, | |
befürworteten diesen Schritt. Schon vorher fuhren Einwohner der Stadt | |
günstiger als Auswärtige, Senioren stiegen kostenlos ein. Aber frei für | |
alle – die Idee kam bei der Bevölkerung gut an. | |
Finanziell ist die Sache bisher kein Problem. Ohnehin wurden die Kosten des | |
ÖPNV nur zu einem Drittel durch den Ticketverkauf gedeckt – 2012 waren es | |
12,5 Millionen Euro. Gleichzeitig stiegen, seit es die Freitickets gibt, in | |
Tallinn die Anmeldezahlen. Gut 12.000 Menschen, die in Tallinn arbeiten, | |
aber im Umland oder sogar anderen Städten wohnen, verlegten ihren | |
Hauptwohnsitz. Dazu kommen diejenigen, die bisher unter der Adresse ihrer | |
Datsche außerhalb der Stadtgrenze polizeilich gemeldet waren, und Leute, | |
die gar nicht registriert waren. Sie alle zahlen nun ihre Steuern in die | |
Stadtkasse. Pro Person sind das durchschnittlich 1.200 Euro. Damit ist das | |
Projekt momentan solide gegenfinanziert. | |
Die Umstellung gelang ohne viel Aufhebens. Chipkarten wurden als | |
elektronische Tickets eingeführt, die Fahrscheinentwerter abmontiert und | |
durch Karten-Lesegeräte ersetzt. Touristen und Auswärtige bezahlen den | |
Fahrschein beim Fahrer oder laden ihr elektronisches Ticket per Handy, | |
E-Mail oder Banktransfer auf. | |
Dass dabei Bewegungsdaten gesammelt werden, wirkt im Lande nicht anstößig. | |
Schon vorher waren die ID-Cards multitaskingfähig, Esten können mit ihnen | |
per Internet wählen. Zum Datenschutz kommt in Estland die Transparenz: Per | |
Gesetz darf jeder Bürger die Steuererklärung seiner Nachbarn einsehen. | |
Kontrolleure sind auch weiterhin unterwegs. Ohne die Begrenzung auf die | |
eigenen Einwohner wäre der Zuzug ausgeblieben, der die Finanzierung erst | |
ermöglicht. Vereinbarungen mit dem estnischen Staat, Teilkosten zu | |
übernehmen, kamen nicht zustande. Andere Kommunen müssen sich nun | |
ihrerseits etwas ausdenken, um die Einwohner zu halten, und sind daher | |
verstimmt. | |
Als im Oktober 2013 das Stadtparlament neu gewählt wurde, konnte sich | |
Stadtoberhaupt Savisaar seiner Mehrheit sicher sein – und das trotz der | |
Umwidmung von Auto- zu Busspuren, trotz gelegentlicher Nörgeleien, die | |
Busse seien zu voll. Und trotz anfänglicher Beschwerden, dass Obdachlose | |
nun zu viel Bahn fahren würden. | |
Die politischen Achsen haben sich verschoben – auch die Parteienkonkurrenz | |
sagt unisono, dass eine Rückkehr zu bezahlten Tickets weder möglich noch | |
beabsichtigt sei. Zu viele gute Effekte gebe es – auch wenn sie dem sich | |
linkspopulistisch gebenden Savisaar den Erfolg nicht gönnen. | |
Im November wurde das Projekt sogar auf die innerstädtischen | |
Eisenbahnlinien ausgedehnt. Fahrgäste nutzten die Züge des Stadtgebietes | |
bis dato weniger, da dort ja Kosten anfielen. Die so entstandene | |
Mehrbelastung bei Bus und Bahn konnte nun verringert werden – durch ein | |
Fahrgastplus der Bahn von 300 Prozent. | |
Eine weltweit kritische Begleitung des Projektes begann schon lange vorher. | |
Warum sollten die Esten schaffen, was bisher nirgends auf Dauer realisiert | |
wurde? Welche ungewollten Nebeneffekte gibt es? Wie viel kostet das Modell | |
– und wie soll es finanziert werden? Liest man die Kommentare, so teilen | |
sich diese scharf in Befürworter und Kritiker. Mehr Mobilität, grüne Stadt, | |
Modernität loben die Einen, die Anderen schimpfen über Steuerverschwendung | |
oder die Benachteiligung Auswärtiger. Doch neun von zehn Befragten sind | |
zufrieden. | |
Das Konzept wird weiterentwickelt, beispielsweise sollen die Bedürfnisse | |
von Radfahrern und Fußgängern noch stärker berücksichtigt werden. Der | |
Rückbau von Parkplätzen in der Innenstadt wird thematisiert. Auch braucht | |
der Fuhrpark mehr als frische Farbe; nur wenige Wagen sind | |
kinderwagenfreundlich. Behindertengerecht sind sie nicht – doch daran | |
mangelt es im ganzen Land. Und schließlich soll es nach einem Jahr Praxis | |
einen genauen Check geben, welche Faktoren wirklich einen Umstieg auf den | |
ÖPNV bewirken. | |
Die formelle Völkerwanderung innerhalb des Landes wäre vermeidbar gewesen – | |
doch der Parteienclinch zwischen Landes- und Stadtregierung ließ im Vorfeld | |
keine weitergehenderen Vereinbarungen zu. Sollte sich das Land an den | |
Kosten beteiligen, würde das System noch günstiger – durch völligen Wegfall | |
von E-Tickets, Automaten, Kontrolleuren und Verwaltung. Der | |
stellvertretende Bürgermeister Taavi Aas arbeitet in diese Richtung. Er | |
will das kostenfreie Verkehrsnetz in ganz Estland. | |
Durch das Projekt in Tallinn ist etwas in Bewegung gekommen. Die scheinbare | |
Alternativlosigkeit des innerstädtischen Autoverkehrs scheint gebrochen. Zu | |
ÖPNV-Konferenzen melden sich Teilnehmer aus aller Welt. Endlich wird | |
thematisiert, wie teuer das Asphaltieren einer Straße oder der Neubau einer | |
Parkbucht ist und welche Langzeitschäden Lärm und Abgase in Ballungszentren | |
mit sich bringen. Überlegungen für kostenloses Fahren regen sich nun auch | |
in der Nachbarschaft: in St. Petersburg, Helsinki, Riga und Vilnius. Auch | |
in Deutschland gab es kleinere Versuche in Templin und Lübben, in Marburg | |
liegen die Anträge auf dem Tisch. | |
Und es könnten bald noch mehr Städte werden, auch in anderen Ländern | |
Europas. Siim Kallas, der Vizepräsident der Europäischen Kommission und | |
EU-Kommissar für Verkehr, ist ein Kenner und Förderer des Tallinner | |
Konzepts: Kallas ist Este. | |
29 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Holger Klemm | |
## TAGS | |
Tallinn | |
Öffentlicher Nahverkehr | |
Estland | |
Verkehrspolitik | |
Bremen | |
Bremen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte über den öffentlichen Nahverkehr: Neue Konkurrenz | |
Der öffentlichen Personennahverkehr wird teurer, gleichzeitig sinken die | |
Subventionen. Das führt zu steigenden Fahrpreisen. Was ist zu tun? | |
Ticketloser Nahverkehr: Piraten gegen Fahrscheine | |
Bremen wäre der ideale Standort, um die Tickets einfach abzuschaffen, | |
selbst der Chef der Nahverkehrsbetriebe wäre dabei. 20 Euro pro Monat | |
müsste jeder Bremer bezahlen. | |
Kostenloser Nahverkehr: Nie wieder Schwarzfahren! | |
Im belgischen Hasselt ist er gescheitert, im estnischen Tallinn Realität: | |
der Nahverkehr zum Nulltarif. In Deutschland ist er auch möglich: ein | |
Sieben-Punkte-Plan. |