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# taz.de -- Das neue Album von Neneh Cherry: Emotionen erraten
> Breakbeats, Rapsalven und Jazz. Dazu eine Stimme, die affektive
> Uneindeutigkeit herstellt. Neneh Cherry ist zurück mit dem Album „Blank
> Project“.
Bild: Feiert nach 16 Jahren Stille ein famoses Comeback: Neneh Cherry.
Es gibt einen Mythos in der Popmusik, und er folgt einem einfachen Muster.
Auf das tolle Debütalbum folgt das vielversprechende zweite. Beim dritten
Werk entscheidet sich dann bereits der Weg zwischen One-Hit-Wonder und
„Gekommen, um zu bleiben“. Bei Neneh Cherry folgten auf das dritte Album 16
Jahre Stille.
„Blank Project“ heißt ihr fabelhaftes neues Album, das heute erscheint.
Tabula rasa also, ein Start am Nullpunkt. „Does my ass look big in these
new trousers?“, singt sie im Titelstück, während im Hintergrund vor sich
hinwütende Breakbeats immer wieder mit einem Verstärker kollidieren. Als ob
sie sich um so was kümmern würde.
Rewind: 1988 trat Neneh Cherry mit ihrem HipHop-Hit „Buffalo Stance“ im
britischen Fernsehen auf. Unter der Goldjacke trug sie einen schwarzen
Spandex-Rock. Und darunter ein Kind – Cherry war im achten Monat schwanger.
Heute singt sie „My Fear is for my Daughters“, nach langer Pause vom großen
Popgeschäft, in der sie sich hauptsächlich dem Großprojekt „Familie“
gewidmet hat. Warum auch nicht? Von den Einnahmen, die ihr die Radio- und
Best-of-Rotation von „Buffalo Stance“ und ihren anderen Hits bescheren,
lässt sich prima leben.
Aber Neneh Cherry hatte neben einem Händchen für Hits immer auch eine
Leidenschaft für Abseitiges. Bevor sie Songs wie „Manchild“ und „7
Seconds“, den Balladenschmachtfetzen, eingesungen zusammen mit dem
senegalesischen Sänger Youssou N’Dour berühmt machte, spielte sie auch mit
der Postpunkband Rip, Rig & Panic. Später legte sie regelmäßig bei einem
Londoner Piratenradiosender Platten auf, komponierte gleichzeitig die
Arrangements für das Debütalbum von Massive Attack mit.
## Grime-Queens und Bashment-Ladys können sich bei Cherry bedanken
Sie war immer stilbildend: Bereits Neneh Cherrys Soloalbumdebüt „Raw like
Sushi“ von 1989 stellt eines der ersten Alben einer britischen HipHop-MC
dar, für das sich die Grime-Queens und Bashment-Ladys der Londoner
Bassmusikszene von heute gehörig bedanken können. Zwei Soloalben
veröffentlichte Cherry danach noch. Das eine („Homebrew“) war ein
minimalistisch gehaltenes Old-School-HipHop-Album mit präzise gesetzten
Beats und Reimen.
Das andere („Man“) ein überproduziertes Downbeat-Album, in dem Cherry
HipHop-Skills unter einer Schicht überbordender Piano- und Streichersounds
verschwanden. Kein Wunder, dass ausgerechnet „Man“ Neneh Cherry größten
Erfolg bescherte: „7 Seconds“ schaffte es in vier Ländern an die Spitze der
Charts.
Und nun? Ein echtes Comeback ist „Blank Project“ nicht. Bereits Sommer 2012
veröffentlichte Neneh Cherry das Album „The Cherry Thing“, eine
Kollaboration mit dem schwedischen Freejazz-Saxofonisten Mats Gustaffsson
und seiner Noisecore-Band The Thing. Über sägenden Saxofonläufen und
markerschütternden Bassfiguren coverte Cherry Postpunk- und
HipHop-Klassiker, dazu kam ein Stück von Ornette Coleman und ihrem
Adoptivvater, dem Jazztrompeter Don Cherry. Schon im Kindesalter nahm
dieser Neneh Cherry und ihren Bruder Eagle-Eye mit auf Tour.
Auch „Blank Project“ ist ein Jazzalbum geworden, selbst wenn weit und breit
kein Saxofon zu hören ist. Aber der Kern von Jazz ist ohnehin etwas
anderes: die Improvisation, das Musizieren im Kollektiv, in dem sich
Stimmen und Instrumente in den Dialog begeben. Damit passt Neneh Cherry gut
in das Raster von Smalltown Supersound, dem tollen norwegischen Label, das
seit über einem Jahrzehnt Jazz mit Electronica und experimenteller Musik
versöhnt und dabei nie ins Esoterisch-Muckerhafte abdriftet, sondern immer
um Oberflächenreize bemüht bleibt.
Auf „Blank Project“ werden diese Reize von RocketNumberNine geliefert,
einem Duo mit einem rohen, aufs Notwendigste reduzierten Zusammenspiel von
Schlagwerk und Synthesizern. Aufgenommen haben sie das Album in einer
Woche, alle gemeinsam in einer Kirche in Woodstock, US-Bundesstaat New
York. „Ich arbeite am besten im Kollektiv“, erzählte Neneh Cherry einmal in
einem Interview.
## Samplefragmente wie eine holistische Komposition
##
Zur Besetzung auf „Blank Project“ gehört auch ihr Produzent Kieran Hebden.
Unter seinem Pseudonym Four Tet ist er der Virtuose unter den
zeitgenössischen Dancefloor-Produzenten. Hebden spielt den Laptop wie
andere ein Jazzensemble anführen würden: Er lässt Tonspuren in- und wieder
auseinanderfliegen. Dabei bearbeitet er die Sollbruchstellen mal so
sorgfältig, dass die Samplefragmente wie eine holistische Komposition
wirken, dann wieder brechen die Loops aus dem Sequenzerraster, und Hebden
verliert sich in der freien Improvisation mit und gegen den Takt der
Maschine.
Auf „Blank Project“ arrangiert er Cherrys Stimme so, dass sie immer wieder
im Call-and-Response-Modus auf den spröden Unterbau trifft und sich in
diesem Treffen eine Art affektiver Uneindeutigkeit herstellt. Man fühlt
etwas – nur was dieses Etwas ist, das wird niemals klar. Denn Neneh Cherrys
Stimme jagt eben nicht im Castingshowmodus durch die Oktaven, greift
niemals nach dem Sternenhimmel einer Diva, die sie aufgrund ihres
Stimmumfangs eh niemals geben könnte. Stattdessen flüstert Neneh Cherry.
Oder sie tut, als ob sie flüstern würde, selbst wenn sie dabei schreit.
Oder noch präziser: Sie spricht. Mal schneller, mal langsamer, mal spricht
sie Melodien, mal einen Monolog.
Aber es fühlt sich an, als wäre jede Atempause der letzte Atemzug vor dem
Freakout, in dem sich ein unglaublicher Stimmenorkan entfalten könnte, was
dann aber doch nicht eintritt. So viel Punk muss sein. Denn Cherry ist
natürlich schlau genug, der Idee von Stimme als Ausdruck ’echter‘ Emotionen
zu misstrauen. Stattdessen reißt sie ihre Hörer immer wieder dadurch mit,
dass das Erraten der Emotionen ihm überlassen wird. Ist es Wut oder Trauer,
wenn sie von ihrer verstorbenen Mutter singt? Und hasst sie den Typen im
Titelstück „Blank Project“ jetzt für seine Rücksichtslosigkeit oder sich
selbst dafür, dass sie noch immer mit ihm zusammen ist?
## Glasklare Stimme
Als Gegenpart für ihre raue Emotionalität hat sich Cherry die glasklare
Stimme der schwedischen Synthie-Pop-Sängerin Robyn gesucht. Diese hatte im
Video zu ihrem Song „U should know better“ ein Poster von Neneh Cherry im
Jugendzimmer ihres Teenage-Alter-Egos platziert.
Jetzt singen die beiden also zusammen. Anders als man es vielleicht
erwartet, ist ihr Duett keine Empowerment-Hymne für den feministischen
Third-Wave-Dancefloor geworden. Sondern die Parodie eines
HipHop-Battletracks, in dem die beiden Sängerinnen ihre eigene Ecke erst
ein wenig ausschmücken, um sich beim Refrain in der Mitte des Rings zu
treffen. Im Hintergrund halten Drums und Synthesizer stoisch den Takt,
während sich die beiden Sängerin gesanglich zuprosten.
Das Highlight hebt sich Cherrys Album aber für das Finale auf. Auf
„Everything“ sampelt Kieran Hebden den Gesang von Neneh Cherry zu einem
Loop, der mit zunehmender Dauer immer maschinenhafter wird, während Cherry
ihre Stimme völlig frei darüber improvisieren lässt. „Good things comes to
those who wait“ ist der letzte verständliche Satz, bevor Cherry ihre
Melodien in Yeah-Fragmente, Gutturalsounds, Rapsalven und Gelächter enden
lässt. Recht hat sie.
28 Feb 2014
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
Jazz
Dub
Neneh Cherry
Musik
Free Jazz
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Popmusik
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Schwerpunkt Syrien
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