# taz.de -- Neues Album von Carmen Villain: Ganz dick vermummt | |
> Die Norwegerin Carmen Villain veröffentlicht mit „Only Love from now on“ | |
> ein elektronisch grundiertes Konzeptalbum. Es geht um Liebe. | |
Bild: Macht ihre Musik mit ganz viel Liebe: Carmen Villain | |
Ob sich hinter dem Titel des neuen Albums der norwegisch-mexikanischen | |
Künstlerin Carmen Villain eine wackere Hoffnung, ein Postulat oder ein | |
Slogan versteckt, das wird noch zu ergründen sein. „Only Love From Now On“ | |
– von jetzt an nur noch Liebe; auch Villain schlägt mit ihrem Titel in eine | |
Kerbe, die in den letzten Jahren in der Diskurstheorie sorgsam bearbeitet | |
und feingeschliffen wurde. | |
Während die progressiven gesellschaftlichen Kräfte der Sechziger und | |
Siebziger, im Zuge der Forderung nach dem „Privaten, das politisch sein | |
müsse“, Liebe als formatierte Normierung in Frage gestellt hatten, | |
verkümmerte dieses diskursive Schlachtfeld seit den Achtzigern merklich. | |
Erst zum Höhepunkt der Finanzkrise 2009 veröffentlichte – ausgerechnet – | |
der französische Philosoph [1][Alain Badiou] nicht etwa eine Analyse des | |
Postkapitalismus, sondern ein „Lob der Liebe“. Diese Debatte nahmen seitdem | |
etliche auf. Carmen Villains „Only Love From Now On“ ist in der | |
Programmatik also eindeutig ein hot topic. | |
Wie klingt denn die Liebe überhaupt? Wenn man die 39-jährige Künstlerin | |
fragt, gibt sie komplexe Antworten. Ihr Auftaktsong „Gestures“ klingt zwar | |
verklausuliert, bezieht sich aber auf ein Video der bildenden Künstlerin | |
[2][Hannah Wilke] (1940–1993), die in ihrer gleichnamigen Arbeit den male | |
gaze, den normierten männlichen Blick, thematisierte. | |
## Schwebende Gesten | |
Villains Gesten sind eher schwebender Natur, hybride Bewegungen durch die | |
Raumzeit. Getragen durch einen vollen, dubbigen Beat, eingespielt auf einem | |
schlichten Percussion-Set-up und einem verwischten Soundteppich, ist das | |
Signalinstrument oftmals eine Trompete. | |
Gespielt vom norwegischen Jazzmusiker Arve Henriksen, katapultiert uns das | |
mal zärtliche, dann wieder wütende Spiel mittenrein in einen Disput, eine | |
Verhandlung. Hörbares Anblasen, dominantes Vibrato – es ist hochinteressant | |
und fesselnd, was hier passiert. Noch mehr, wenn man die Frage nach dem | |
Genre stellt. | |
Es ist nämlich ein viskoser, uneindeutiger Mix, den Villain präsentiert. | |
Janusköpfigkeit und Superfluidität sind zwei Hauptmerkmale der Karriere der | |
heute in Oslo ansässigen Produzentin. | |
## Dreampop mit Noise | |
Nachdem sie auf dem ersten Bildungsweg und unter ihrem bürgerlichen Namen | |
Carmen Hillestad als Model Karriere machte, setzte sie Anfang des letzten | |
Jahrzehnts vorsichtig ihren Fuß ins Musikbiz. Sie streute zärtliche | |
Singer-Songwriter-Dreampopsongs, die schon 2013, auf ihrem Debütalbum | |
„Sleeper“ einen Anflug von frühen [3][Sonic-Youth-Stücken] hatte. | |
Villain wollte sich in der Folge nicht festlegen, blieb auf der Suche nach | |
neuen Sounds, spielte mit Loop-Stations und Drum-Backings. Seit 2019 schält | |
sich dann immer konkreter ihre gegenwärtige Ästhetik heraus. Sie | |
konstruierte nicht nur mehr abstrakte Flächen, sondern involvierte auch | |
Gastmusiker*innen. Außerdem entstand eine Nähe zu attraktiveren, | |
deeperen Drum-Settings. | |
Exemplarisch ist da die Nähe zum Dub als Taktgeber und Puls im Stück | |
„Gestures“ auf ihrem neuen Album. Eine Landung nach all den Jahren des | |
ruhelosen Suchens? Schon im zweiten Track „Future Memory“ verwirft sie den | |
Dub, nur noch eine Spur eines Beats bleibt übrig. Die synthetischen Drums | |
sind subtil eingeflochten in ein dichtes Netz aus Ambientwabern. | |
## Hochmoderner Kryptojazz | |
Der Synth summt fast schon post-proggy dazu, Vogelrufe werden emuliert: In | |
diesem Klangraum ist wenig mehr als ein hochmoderner Kryptojazz zu | |
erkennen. Vorsichtig und teilweise bis zur Unkenntlichkeit vermummt ist | |
dieser romantische – da sind wir wieder bei der Liebe – Jazz eine Wohltat. | |
[4][Jazz als Weltbild], wenn man so will, taucht hier als Meta-Genre auf, | |
das verschiedene andere Spielarten, auch verschiedene Phasen der Karriere | |
von Carmen Villain, unter sich vereint. Der bereits erwähnte Dub gehört da | |
genauso dazu wie Ambient-Handgriffe, Computer-Musik und natürlich frei | |
flottierende Elektronik. | |
Denn neben der Trompete im Auftakt folgt zwar im Titeltrack „Only Love From | |
Now On“ eine charmante Flöte, allgemein ist Villains Musik dennoch an der | |
Tonerzeugung von elektronischer Avantgarde und sogar clubbigen Set-ups | |
geschult. Sie kreiert stilsicheren Sound. Durchdesignt werden die einzelnen | |
Tonspuren verbunden zu makellosen Tracks. | |
Ob das vierte Album von Carmen Villain zu clean geraten ist, das wird sich | |
erst später sagen lassen – wenn die Stücke Patina angesetzt haben. Zum | |
jetzigen Zeitpunkt ist nur klar: „Only Love From Now On“ verhandelt nicht | |
nur die Zukunft der Liebe, sondern auch gleich der Musik. Und das macht | |
Villains neues Album formidabel. | |
14 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Philosoph-Badiou-ueber-die-Finanzkrise/!5172866 | |
[2] /Chris-Kraus-Buch-I-love-Dick/!5396780 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=cP4I_kHmC-Q | |
[4] /Vier-Bilanzen-des-Popjahres-2021/!5822496 | |
## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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