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# taz.de -- Ästhetiken beim Festival Berlin Atonal: Sozial verinselt und durch…
> Mit stechender Brust: Essay von den Konzerten am Elektronik-Festival
> Berlin Atonal, die vor allem von körperlicher Überwältigung geprägt sind.
Bild: Versunken im Lärm: Die Schwedin Maria W. Horn am Freitagnacht live im Kr…
Aus der Box springt ein Sound, irgendwo zwischen Schlaflied und Detonation.
Er bleibt kurz stehen, schaut sich um und schlängelt sich durch die Halle,
bevor die Wände ihn wieder zurückschicken. Nervöses Zucken in der Brust,
dann Fluchtreflex. Es ist so laut, dass die wenige Luft, mit der die eigene
Stimme den Mund verlässt, vom Sound weggedrückt und in eine andere Ecke des
Raums geschickt wird. Ein bisschen wie die Angstlust beim Horrorfilm. Nur
dass die Monster echt sind und sich, seien sie auch noch so mächtig,
bändigen lassen.
Auch wenn oft nicht klar ist, wie. Tanzen sieht aus wie ein Baum im lauen
Wind. Herumstehen? Wirkt wie die Arbeitskolleg*innen aus der Agentur,
die sich hierher verirrt haben, um montags was erzählen zu können. Nicht
darüber nachdenken? Keine Chance, Denken läuft auf Houchtouren, an dieser
Freitagnacht im Berliner Kraftwerk vor der Mainstage des Atonal Festivals.
[1][An zwei verlängerten Wochenenden traten hier die angesagtesten
sonischen Ungeheuer der elektronischen Musik auf].
An diesem Abend etwa die sphärischen Sounds des
französisch-niederländischen Duos dj lostboi und Torus und die der
schwedischen Komponistin Maria W Horn. Ihre Musik dehnt die Zeit und das
liegt auch an den vielen Schichten, aus denen sie besteht. Nachdem es erst
mal wirkt wie eine undurchdringliche Wall of Sound, schälen sich bald
einzelne Klänge heraus. Laut Programmheft Field-Recordings, Orgeln,
Radio-Sequenzen und live gespielte Synthesizermelodien.
## Organisches trifft Künstlichkeit
In der Verbindung von Organischem mit Künstlichem, Undefinierbarem,
Ungeformtem, kurz: krassen Sounds liegt das Geheimnis fast aller
Künstler*innen. Krass heißt nicht immer nur laut, sondern auch mal
radikal leise, langsam, schnell. Oder unberechenbar, wie die zuckenden, von
Graphic-Novel-artigen Visuals von Sevi Iko Dømochevsky unterlegten Stücke
des Berliner Noise-Musikers Shapednoise, der sich herrlich beatfreudig
erweist.
Oder [2][die getragenen Rhythmen von Carmen Villain], deren
Live-Performance am Samstag gemessen am audiovisuellen Auftrumpfen der
meisten anderen super lakonisch ist. Das Gegenteil davon ist Dreamcrusher,
dessen Gig obige Fragen inspiriert hat – und innerhalb von Sekunden
beantwortet. Hier ist dem Körper völlig egal, wie das definiert ist, was da
auf den Brustkorb drückt und den Hohlraum drinnen zum Vibrieren bringt.
Dafür sorgen die erschütternden Drones zwischen Lärm, Fetzen aus Trap und
Free Jazz sowie das Gebrüll des queeren New Yorkers. Wer sich verliert,
kann sich mit den Bildern auf der Leinwand der Wirklichkeit versichern. Im
Video von Atelier Impopulaire von Pia Bolognesi und Giulio Bursi sind
ikonische Stills vorwiegend Schwarzer Personen zu sehen, die durch die
Straßen New Yorks spazieren und protestieren und damit das Flair der
kulturellen Kämpfe der Prä-Black Arts-Movement-Ära evozieren.
## Wie an der Dorfbushaltestelle
Konfrontativ ist nicht nur die Musik, auch die Ansagen – so beginnt
Dreamcrusher mit einer unmissverständlichen Botschaft: „If you dont fuck
with me, go home.“ Das weckt einige auf, doch die meisten stehen herum wie
an einer Dorfbushaltestelle. Man möchte sie in den Arm nehmen.
Einerseits ist es nicht nur laut, auch die Architektur, die hohen Wände aus
Beton, die den Klang verstärken, ist derart einschüchternd, dass man sich
manchmal am liebsten hinter der Vorderfrau verstecken würde. Andererseits
ist das hier nicht New York, wo Leute sich einfach so ansprechen lassen,
egal was du trägst, bist oder denkst, das hier ist Berlin. Und das liegt
immer noch in Deutschland, wo einer Person schon mal ein Zacken aus der
Krone brechen kann, wenn sie aus ihrer sozialen Verinselung gerissen wird
und spontan interagieren soll.
Etwas weniger verstockt geht es Samstag bei der australischen Pianistin
Corin zu. Ihre Mischung aus Techno, Trance und barocken Melodien bietet
genug vertrautes Identifikationsmaterial, um sich nicht allzu ausgeliefert
zu fühlen. Was wiederum eine gute Steilvorlage für dass Duo Emptyset ist.
Ihr musikalisches Leitmotiv klingt wie ein Fingernagel, der über raue
Metallrohre kratzt, aber in geil.
## Schlagstöcke und Renaissancegemälde
Den Macher*innen gelingt es dieses Jahr, das Monumentale früherer
Ausgaben aufzubrechen und für Abwechslung zu sorgen, etwa mit der
Zweiteilung der Halle durch zwei Bühnen statt einer großen – und der
Programmierung selbst. So folgt nach Dreamcrusher der australische
Noise-Musiker Marco Fusinato. Seine Ästhetik ist weniger auf Krawall denn
auf Einkehr gebürstet. Während er der E-Gitarre stehende Töne entlockt und
sie rückkoppeln lässt, zeigt die Leinwand Sequenzen aus Standbildern:
Verlassene Gebäude, Cops mit Schlagstöcken, Renaissancegemälde, Wüsten,
Mönche, Tränengasflaschen, Bäume, umgefallene Bäume, Massengräber und immer
wieder Pflanzen und Tiere im Close-up.
Der assoziative Strom öffnet eine Sound-Bild-Schere, die sich bis zum
Schluss am Sonntag nicht mehr schließen wird. So stapfe ich nach den
Konzerten in der Halle wie eine geöffnete Schere die Treppe hinunter,
irgendwie verloren und zugleich angenehm durchgenudelt vom Sound – und
stehe dann erst mal herum wie ein Gas auf der Suche, irgendwo irgendwie
fest zu werden.
Abhilfe schaffen DJ-Sets in den Clubs Ohm, Globus und Tresor: Hier setzen
Künstler*innen wie die Londonerin Shannen SP, die Niederländerin upsammy
und [3][Kode9] mit Sets [4][zwischen Afrobeat, Gqom, Dubstep und Jungle]
und wilden Temposprüngen die zersprengten Moleküle des Körpers wieder
zusammen. Dreamcrusher hätte das gut gefallen. Zwischen all den anderen
schwitzenden Körpern gibt es kein Zögern, hier gilt das Gesetz des Rave –
und der funktioniert nur, wenn niemand zuschaut und alle mitmachen – auch
die freigelassenen Monster.
18 Sep 2023
## LINKS
[1] /Berliner-Musikfestival-Atonal/!5959137
[2] /Neues-Album-von-Carmen-Villain/!5834393
[3] /Post-Brexit-Konzeptalbum-von-Kode9/!5863869
[4] /Revival-der-Breakbeats/!5671973
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Festival Berlin Atonal
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Musik
Festival Berlin Atonal
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Dub
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