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# taz.de -- Nachruf auf Komponisten Phill Niblock: Keine Melodie, kein Bullshit
> Der Komponist Phill Niblock, Pionier der Video-Art und Minimal Music, ist
> im Alter von 90 in New York gestorben. Nachruf auf einen Maximalisten.
Bild: Phill Niblock am Mischpult vor einem Konzert in der Merkin Concert Hall, …
Maximal waren nicht nur seine musikalischen Werke minimalistischer Prägung:
Äußerst verdichtete Klangtexturen in raumimprägnierender Lautstärke. Sound
als eigenständiges, architektonisch anmutendes akustisches Volumen, quasi
plastisch gemeißelt. Maximal war auch sein filmisches Werk, insbesondere
„The Movement of People Working“, das Phill Niblock immer
multiperspektivisch und in zahlreichen Kompositionen als Simultanereignis
zeigte und mit seiner Musik aufführte oder aufführen ließ.
Er war ein Komponist im wortwörtlichen Sinne: Niblock fügte Filme und
Klänge zusammen, die in ihrer Eigen- und Einzigartigkeit, frei von
jeglicher illustrierender Synchronizität, Bestand hatten. Keine
„Soundtracks“ also, und auch kein Film zur Musik: Phill Niblock setzte sie
so ins Unabsehbare und „Unerhörte“, in eine Pendelbewegung auch der
Betrachter, die nie auf eine zentrale Leinwand starrten.
Bewusst setzte Phill Niblock mehrere simultan projizierte Filme in den
Raum, oft so, dass eine spielerische Bewegung der Zuhörer- und
Zuschauerschaft im Raum provoziert wurde. Niblocks Musik besteht aus
mehrschichtigen Klangblöcken, Clustern mit mikrotonal changierenden
Klangtexturen: Zu Drones, früher mittels Tonbandverfahren, seit Ende der
1990er mithilfe der Computertechnologie aufgezeichnet. Dazu flechten sich
Klänge klassischer Instrumente wie Violoncello und Klarinette, aber auch so
unterschiedliche Instrumente wie E-Gitarren, Dudelsäcke, Analogsynthesizer,
Kesselpauken, sowie menschliche Stimmen ein.
## Massive Klangblöcke in Verbindung mit Architektur
Lautstärke ist dabei ein Gestaltungsmittel, das herkömmliche „Zeitgestalt“
auflöst und auf „verschärfte Nachbarschaften“ verweist: In mikrotonalen
Reibungen öffnen sich ungeahnte Räume. Anders als in den Werken von
Minimal-Music-Protagonisten wie Steve Reich geht es um den Aufführungsraum
selbst. Er wird als Reflektor und akustischer Raum ausgetestet und so als
Instrument in Bewegung gebracht.
Niblocks eigentliches Instrumentarium waren die Lautsprecher, die er in
Bezug zu Räumen setzte – massive Klangblöcke in Verbindung mit Architektur.
„Für mich geht es beim Minimalismus darum, Dinge zu entfernen und einen
sehr kleinen Ausschnitt zu betrachten, Melodie und Rhythmus und typische
harmonische Verläufe loszuwerden“, sagte Niblock in einem Interview. Der
Komponist Tom Johnson brachte das in einem Village-Voice-Artikel in den
1970ern zur New Yorker Downtown-Szene auf den Punkt: „Keine Melodie, keine
Harmonie, kein Rhythmus. Kein Bullshit.“
Ein quasiepiphanisches Erlebnis soll sich auf einem Motorradtrip 1960 in
North Carolina ereignet haben. Niblock fuhr hinter einem Lkw eine Steigung
hinauf, als sich die Drehzahlen der beiden Motoren fast synchronisierten.
„Die starke physische Präsenz der Beats, die aus ihnen resultierte, die mit
leicht unterschiedlichen Frequenzen liefen, versetzte mich in eine solche
Trance, dass ich fast von der Straße abgekommen wäre.“
## Erst fotografierte er
Phill Niblock wurde am 2. Oktober 1933 in Anderson, Indiana, geboren. Nach
seinem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften diente er in der US-Army.
1958 zog es den Jazzliebhaber nach New York, wo er als Fotograf Stars wie
[1][Duke Ellington], aber auch Persönlichkeiten der Avantgardeszene wie
[2][Yoko Ono] ablichtete. Mitte der 1960er entstanden seine ersten Filme
für und über die Tänzer und Choreografinnen des Judson Church Theater.
In diesem Umfeld lernte er Elaine Summers, Choreografin und Filmemacherin
kennen, die in den späten 1960ern die Experimental Intermedia Foundation
gründete, deren Mitglied Phill Niblock seit 1968 war. Ab 1985 leitete er
diese Stiftung und veranstaltete, Maximalist, der er war, über 1.000
Konzerte und Performances in seinem legendären Loft in der Central Street.
## Das Filmen des Handwerks
Phill Niblocks wohl bekanntestes Werk ist „The Movement of People Working“,
das im Oktober aus Anlass seines 90. Geburtstag in Berlin gezeigt wurde:
Mehr als 25 Stunden Film, gedreht seit 1973 erst auf
16-Millimeter-Farbfilm, später mit Video und digitaler Technik etwa in
Peru, auf Sumatra und in der Arktis. Zu sehen ist lediglich Handarbeit.
Dokumentarisch, extrem minimalistisch geschnitten, präsentiert Niblock
Menschen bei ihren täglichen Tätigkeiten und zeigt Arbeit in ihrer
elementarsten Form: Was Leute tun, „einfach machen“.
Im Filmen des Handwerks, im Beobachten der Werktätigen stellt sich nichts
herkömmlich Handwerkliches ein. Kein voyeuristischer Blick, kein Plot –
kein Schnitt nach Handbuch. Wir „schauen einfach zu“: das repetitive
Verrichten, der handwerkliche Vorgang, nicht die Her- oder Anleitung oder
das fertige Produkt werden gezeigt. Schnitte sind mit feinem Gespür für die
eigentliche Handlung, das Handwerk gesetzt. Hier erweist sich die Haltung
des Filmemachers und Kameramannes Niblock als performative Involviertheit:
„In Wirklichkeit ist das Werk von den meisten Dingen, die einen Film
ausmachen, befreit.“
16 Jan 2024
## LINKS
[1] /Gedenken-an-Orchester-in-NS-Zeit/!5845261
[2] /Yoko-Ono-wird-90/!5913736
## AUTOREN
Valerian Maly
## TAGS
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