# taz.de -- Nachruf auf Phil Lesh von Grateful Dead: Der mit dem singenden Bass | |
> Er ließ die Grateful-Dead-Idee einfach immer weiterleben. Phil Lesh, der | |
> Bassist der legendären US-Avantgarderock-Band, ist 84-jährig gestorben. | |
Bild: Phil Lesh im Jahr 2005 | |
Die heute gängigen Techniken des Matchmaking dürften dem abenteuerlustigen | |
Folk-Sänger und -Gitarristen Jerry Garcia unbekannt gewesen sein, als er | |
sich 1965 in San Francisco Musiker für eine Band zusammensuchte. Also | |
entschied er sich für einen trunksüchtigen Hell’s Angel als Frontmann und | |
Organisten, einen klassisch ausgebildeten Violinisten, Komponisten und | |
Jazz-Trompeter als Bassisten, einen minderjährigen R&B-Enthusiasten für die | |
Schlagzeug-Position und einen noch jüngeren Schulabbrecher und | |
Gitarrenanfänger, dessen Äußeres immerhin die gängigen | |
Popstar-Erfordernisse erfüllte. | |
Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – schrieb diese heterogene | |
Truppe, die sich zudem den sinistren Namen [1][The Grateful Dead gab, eine | |
der überzeugendsten Erfolgsgeschichten der Pop-Historie], baute sich | |
kompromisslos eine ganz eigene stilistische Nische aus und blieb außerdem | |
in dieser Formation zusammen, bis dass der Tod ein Bandmitglied nach dem | |
anderen zu sich nahm. | |
Nun hat es wieder einen erwischt: Phil Lesh, Bassist. Der mit der | |
klassischen Musikausbildung, wobei „klassisch“ einerseits Johann Sebastian | |
Bach, andererseits die [2][Nachkriegsavantgarde wie Karlheinz Stockhausen], | |
Pierre Boulez oder Milton Babbitt hieß. Lesh, 1940 geboren, studierte | |
zunächst in Berkeley, später am Mills College in Oakland unter dem | |
italienischen Komponisten Luciano Berio, wo der spätere | |
Minimal-[3][Music-Papst Steve Reich] einer seiner Mitstudenten war. In | |
seiner Eigenschaft als musikalischer Direktor der San Francisco Mime Troupe | |
bestellte Reich auch gelegentlich Kompositionen bei Lesh. | |
Jerry Garcia lernte er 1959 auf einer Party kennen. Garcia spielte dort ein | |
paar Songs und Lesh war sofort fasziniert – obwohl Folk für Jazzer | |
eigentlich nicht als ernst zu nehmende Musik galt. Und die Sympathie war | |
gegenseitig. Als Garcia keinen passenden Bassisten zur Realisierung seiner | |
Bandidee fand, beschloss er einfach, dass Lesh diese Aufgabe zu übernehmen | |
hatte. Als Lesh zögerte, weil er schließlich noch nie Bass gespielt hatte, | |
bügelte ihn Garcia ab mit den Worten: „Du bist ein Musiker, du lernst das | |
schnell.“ | |
## Die Regeln der Tonalität brechen | |
Lesh lernte nicht nur schnell auf der Bassgitarre die Folk-, R&B- und | |
Blues-Standards zu begleiten, die bis dahin das Repertoire der Band | |
ausmachten, sondern entwickelte einen ganz eigenen singenden Bass-Sound. | |
Außerdem brachte er die Band auf ganz neue Ideen – es war womöglich auch | |
das, was Garcia mit seiner Casting-Entscheidung im Sinn hatte. Lesh spielte | |
seinen Kollegen Charles Ives und [4][John Coltrane] vor, öffnete sie für | |
die Vorstellung, dass Improvisation nicht nur reihum absolvierte Soli | |
bedeuten muss, sondern auch im Kollektiv geschehen kann und dass die Regeln | |
der Tonalität dazu da sind, gebrochen zu werden, wenn man neue Ufer | |
erreichen will. | |
Inspiriert von Berio hatte sich Lesh auch Kenntnisse in Tontechnik und | |
Elektronik verschafft und prägte damit entscheidend „Anthem Of The Sun“, | |
das 1968 veröffentlichte zweite Album der Band, das sich vom gängigen | |
Songformat komplett verabschiedete und eher eine psychedelische Collage aus | |
Studio- und Live-Aufnahmen und elektronischen Klang-Manipulationen war. | |
Auch als danach die Band einen neuen Kurs einschlug und zusammen mit dem | |
Textdichter Robert Hunter in wenigen Jahren einen einzigartigen Kanon an | |
kunstvollen Country-Folk-Songs schuf, war Lesh zunächst an vorderster Front | |
dabei, führte seine Kollegen in die Kunst des Satzgesangs ein und half bei | |
den Kompositionen. | |
In den Folgejahren konzentrierte er sich vor allem darauf, aus dem | |
Hintergrund bei den wilden Kollektivimprovisationen Regie zu führen. | |
Zwischendurch fand er auch Zeit, seinen avantgardistischen Neigungen | |
nachzugeben, etwa bei dem 1975 veröffentlichten Album „Seastones“ mit dem | |
Avantgarde-Elektroniker Ned Lagin. Nach Garcias Tod 1995 ließ Lesh die | |
Grateful-Dead-Idee in lockeren Kollektiven wie Phil Lesh & Friends und | |
Furthur weiterleben und stand trotz zunehmender gesundheitlicher Probleme | |
bis zuletzt regelmäßig auf der Bühne. Er starb am 25. Oktober. | |
27 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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