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# taz.de -- Berliner Musikfestival Atonal: Die kalte Rache der Motorsäge
> Gegensätzlich und herausfordernd gut sind die ersten Konzerte und
> Performances. „Berlin Atonal“ läuft erstmals seit Jahren wieder als
> Festival.
Bild: Die britische DJ und Produzentin Aya bei ihrem Auftritt auf der Stage Nul…
Berlin taz | Traditionell war Schwarz die Farbe des Existenzialismus. Von
den Exis wanderte Schwarz via Punk Ende der 1970er zum Exorzismus von
Industrialmusik, Noise und Gothic. Unvermeidlich also, dass Schwarz auch
die Signalfarbe am Donnerstagabend zur Eröffnung des Festivals „Berlin
Atonal“ im Kraftwerk war. US-Produzent Speaker Music schlug neulich vor,
„Berlin Atonal“ als Genrebezeichnung zu etablieren. Eigentlich gut, aber
die jungen Leute ganz in Schwarz sahen dafür viel zu adrett und
durchtrainiert aus. So höflich, so gewandt bewegte sich diese Meute über
die Treppen und Stockwerke des Berliner Kraftwerks zu den verschiedenen
Bühnen und Performance-Plätzen, die in dem riesigen Industriegebäude
installiert wurden.
Den Anfang machte die US-Elektronikproduzentin Laurel Halo. Zusammen mit
der Cellistin Leila Bordreuil enterte Halo die Bühne und setzte sich an den
Flügel, den sie meist nur mit einer Hand bespielte, da diverse Effektgeräte
und Synthesizer mit der anderen Hand zu bedienen waren. Und so klang die
„Atlas“ betitelte Arbeit des Duos keineswegs neoklassizistisch. Anflüge von
impressionistischen Piano-Tupfern wurden von schneidenden Störsignalen
weggefräst, das Cello winselte und Halo killte cineastische Ambientmomente
rasch mit kalter Rache: wie eine Motorsäge, die Seerosen entzweit.
Gleich nebenan spielte „Eros“. Privat wahrscheinlich alle sehr nett, aber
auf der Bühne herrschte Grabkammernatmosphäre: Kein Wunder, der britische
Technohärtner Regis spannt hier zusammen mit Boris Wilsdorf (Produzent der
Einstürzenden Neubauten) am Bass und dem ultrasonoren Liam Andrews am
Mikrofon. Eine Geburtstagsfeier in der Postpunk-Kühltruhe von Killing Joke,
es fröstelte!
Zur auditiven Entspannung lief im kleinen Club Ohm Uplifting-Sound, DJ
Stella Zekri etwa wagte es mit Deephouse-Klassikern Berlin Atonal angenehm
melodiös klingen zu lassen.
Kunst mehr als nur Beiwerk
[1][Vier Jahre ist es her, dass das Atonal zuletzt als Festival stattfand].
2020, [2][im ersten Coronajahr, erschien stattdessen ein Musikalbum], 2021
gab es ein paar Konzerte, vor allem aber mit „Metabolic Rift“ eine
vielbeachtete Ausstellung, die das Kraftwerk in einen immersiven
Kunstparcours verwandelte. Richtungsweisend offenbar: Kunst ist auch 2023
nicht nur dekoratives Beiwerk, sondern in das Festival als eigenständige
Programmpunkte integriert. So präsentierte etwa James Richards am
Donnerstagabend eine neue Videoarbeit auf der großen Bühne. Auch
[3][Kunstweltliebling Florentina Holzinger], ohne die es zurzeit nicht zu
gehen scheint, war am Eröffnungswochenende zugegen.
Die umtriebige österreichische Choreographin inszenierte die Performance
„Etude for Church“: Ein brachialer 20-minütiger Trip, der wortwörtlich
unter die Haut ging. Zunächst schwenkte beim Lustwandeln zwischen den
Zuschauer:Innen eine Nackte Weihrauch und führte die Gemeinde zu einer
riesigen Kirchenglocke, die Holzinger in die kathedralenartige Haupthalle
des Kraftwerks gehängt hatte. Um und in dieser baumelten fünf nackte
Performerinnen, zum Teil an Fleischerhaken aufgehängt, und läuteten mit
ihren Körpern als Klöppel zum Techno-Gottesdienst. Wie ein barockes
Deckenfresko mit dem Orgien- und Mysterientheaters eines [4][Hermann
Nitsch] und dem Endzeit-Knowhow der kalifornischen
Survival-Research-Laboratories.
Gegensätzlich und herausfordernd gut geriet auch der Auftritt der
italienischen Künstlerin Caterina Barbieri mit [5][dem Elektronikduo Space
Afrika aus Manchester]. Barbieri schlüpfte in eine neue Rolle als
Folksängerin, die mit der akustischen Gitarre berückenden Minimalismus bot,
zu dem die Glitchsounds von Space Afrika wie Fliehkräfte wirkten.
Wabernder Vibrato, kehlige Songs
Der Freitagabend stand dann im Zeichen der Stimme. Siddharta Belmannu,
klassisch ausgebildeter Hindustani-Sänger, stellte mit auratisch waberndem
Vibrato zusammen mit dem in Berlin lebenden britischen Dubstep-Produzenten
Shackleton und dem polnischen Jazzmusiker Wacław Zimpel das kürzlich
veröffentlichte gemeinsame Album vor. Im Anschluss versuchte Venus Ex
Machina mit dem versunkenen Kontinent Lemuria Kontakt aufzunehmen, mit
mythischem Industrial, hämmernder Drum Machine und eben ihrer Stimme.
Danach stimmte die Avantgarde-Violinistin und Folksängerin Sara Parkman,
die von Aasthma – dem poppigeren Sideprojekt der schwedischen
Technoproduzenten Pär Grindvik und Peder Mannerfelt – eingeladen worden
war, kehlige Wikingerlieder an.
Zu späterer Stunde dann pfefferte Aya von der kleineren Stage Null aus dem
Publikum ihre Zeilen wie Wurfgeschosse um die Ohren. Die britische DJ und
Produzentin vermengte rhythmischen Noise, wild zusammengestoppelte
Clubmusik, Spoken Word und Grime und das mit vollem Körpereinsatz.
Aggressiv und rotzig klang das, emotional und verschroben komisch, absolut
umwerfend. Richtig verstehen konnte man ihre Texte während des Konzerts
leider nicht. Nachhören kann man sie auf Ayas 2021 veröffentlichten Album
„Im Hole“.
Die diesjährige Ausgabe von Atonal sei die spektakulärste aller Zeiten,
behauptete das Festival vorab. Ist sie das nun? Das müssen die nächsten
Tage erst noch zeigen. Das Festival geht noch bis zum kommenden Sonntag.
11 Sep 2023
## LINKS
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[2] /Berlin-Atonal-als-Album/!5730085
[3] /Florentina-Holzinger-in-Berlin/!5952928
[4] /Nachruf-fuer-Hermann-Nitsch/!5849534
[5] /Dub-Duo-Space-Afrika/!5807073
## AUTOREN
Beate Scheder
Julian Weber
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