# taz.de -- Gedanken zur Weltlage: Der Teppich, der Wurm und die Sneaker | |
> Unterwegs in Paris erkennt unser Autor ein harmloseres Äquivalent zur | |
> Trump-USA. Und die eigene Komplizenschaft in der Verdrängung | |
> Marginalisierter. | |
Bild: Paris: von der Schönheit der Stadt geblendet | |
Vor ein paar Wochen war ich in Paris, kurz [1][nach Olympia.] Ich war | |
gerade beim Friseur und habe neue Schuhe gekauft. Viel zu große Sneaker, | |
schwer wie Öltanker. Sie halten den Boden unter meinen Füßen auf eine | |
seltsame Distanz. Meine Frisur ist eine Mischung aus Straßenköter und | |
Top-Gun-Pilot. Irgendwie cringe, aber es entfremdet mich ein bisschen von | |
mir selbst, indem es mir eine Rolle als Träger eines modischen Kompromisses | |
zuweist. Eine allgemeine Form als Tarnung? | |
Falls ja, sie hat nicht funktioniert. Bei meiner Ankunft am Bahnhof Gare du | |
Nord stoppen mich schwer bewaffnete Polizisten. Während sie mich | |
durchsuchen, bewundere ich die aggressive Geschwungenheit des | |
Maschinengewehrs. Nach einigen Minuten lassen sie mich gehen und ich denke | |
so: eigentlich auch eine Lektion in [2][kritischer Männlichkeit]: | |
Sicherheit besteht auch darin, sich selbst als allgemeine Form zu sehen, | |
die eine potentielle Gefahr darstellt. | |
Daran musste ich denken, als ein kleiner Mann zum US-Präsidenten gewählt | |
wurde. Ich fühle alles und nichts. Ich bringe die Gefühle um mit Worten und | |
kehre sie unter den Teppich. So wie der kleine Mann sich die Haare | |
zurechtkämmt, um die kahlen Stellen zu verbergen. So wie ich mit meinem | |
modischen Kompromiss. | |
Versuchen wir nicht alle ständig, die Lücke zu füllen zwischen dem, was wir | |
denken, was sein soll, statt was ist? Wird die Wirklichkeit nicht stetig | |
mit negativen Emotionen bombardiert – sodass sich alle aus den Trümmern | |
eigene basteln? 8 Milliarden Wirklichkeiten – und die mit dem lautesten | |
[3][Twitter-Account] oder größten Marketing-Etat triumphieren am Ende doch. | |
Was Massen überzeugt, sind keine Fakten, sondern die Konsistenz der | |
Erzählung – egal wie gelogen sie ist, schrieb die Philosophin Hannah Arendt | |
in den 60er Jahren. Ha, klingt wie 2024. | |
## Das harmlosere Äquivalent | |
Auch das Seine-Ufer hat eine neue Erzählung, es wurde ebenfalls aufgeräumt | |
wie der Bahnhof. Statt den Zelten der Unbehausten stehen Bars und sitzen | |
Menschen vor Picknickdecken. Sie trinken Wein aus echten Gläsern. Vögel | |
kreischen hämisch wie hoch gepitchte Beyoncé-Vocals, die Leute ownen ihre | |
eigene Schönheit auf ihre diversen Weisen. Später schaltet die Sonne beim | |
Untergehen auf das deepste Orange um, das ich je gefühlt habe, und alles | |
glänzt. Die Stadt grinst mich an und ich grinse zurück, als wüsste ich | |
nicht, dass sie mich verarscht. | |
Wie korrumpierbar ich bin, abseits der Wirklichkeit unter dem Teppich. Wie | |
easy ich meine Komplizenschaft in der Verdrängung Marginalisierter | |
ignoriere. Aber so ist das: Vielleicht heißt Macht heute auch, die Realität | |
zu pervertieren. Die Politikvorhaben des kleinen Mannes, der seinen | |
Haarausfall versteckt, und die Olympia-Doktrin sind sich ähnlich. | |
Könnte es sein, [4][dass das Great-America-Projekt] hier sein, wenn auch | |
ungleich harmloseres Äquivalent am Seine-Ufer findet, wo ich auf den | |
unsichtbaren Ruinen der sozialen Missstände flaniere und denken wollen | |
soll: hach, Paris 2024. | |
Aber Moment, die Story geht noch weiter. Beim Verlassen des Ufers trete ich | |
auf einen Wurm. Die Sohlen der Sneaker verhindern jedes Gefühl zum Boden, | |
wie die SUVs, die vorbeirauschen. Scheiße, der ist jetzt tot, einfach so, | |
umgebracht von einem achtlosen Säugetier. | |
Und jetzt? Fuck, ich weiß doch auch nicht. Aber eins auf jeden: Jeder | |
zertretene Wurm ist ein Stern – es ist das unsichtbare Leid, das ihn | |
scheinen lässt. | |
12 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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