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# taz.de -- Deflation von Sprache: Die Bedeutung von Zitronenglasur
> Sprache kann lähmen, statt verbinden. Zum Beispiel, wenn man gegrillten
> Fisch bestellt und frittierten bekommt. Die Lösung: Spielen.
Bild: Ich freue mich nicht nur im Spiel. Ich freue mich auch, dass meine Nichte…
Vor einiger Zeit wollte ich in Montpellier [1][gegrillten Fisch] essen. Da
viele Restaurants dort jedoch nur frittierten anbieten, frage ich mit
meinem schlechten Französisch, bevor ich mich hinsetze. Der Kellner sagt
„oui“ und zeigt auf eine Flasche Wein.
Aber ich will keinen Wein, ich will gegrillten Fisch. Der Kellner sagt
„oui“, zeigt auf die Kühltheke. Der Zeigefinger wandert zu jedem einzelnen
Fisch. „Und was passiert damit? Wird er gegrillt?“ Der Kellner zeigt auf
eine Weinflasche, aber ich will keinen Wein, ich will Fisch.
Dann kommt ein Paar rein, sie sprechen Englisch. Ich frage sie nach
gegrilltem Fisch. Sie schauen mich an, als hätte ich die komplizierteste
Frage gestellt, die sie je gehört haben – und murmeln was von „allemand“.
Beschämt gebe ich auf, zeige auf einen der teureren Fische.
Ich will nach dem Trouble nicht auch noch geizig sein. Der Fisch ist am
Ende frittiert. Um meinen Selbstwert zu schützen, verteile ich die Schuld
auf die Umstände und die [2][Sprachbarriere]. Strange, wie das Fehlen
einfacher Worte eine Kette von Missverständnissen auslöst. Wie Sprache
Distanz schaffen kann.
Letzte Woche erlebte ich das Gegenteil. Ich spiele mit meiner vierjährigen
Nichte Kindergeburtstag. Ein Stoffhund namens „Moddi“ (oder so) ist
eingeladen und galoppiert wie ein Pferd über den Teppich. Meine Nichte
setzt ihn zu einer Gruppe Lego-Menschen. Sie sitzen vor einem Heizungsrohr,
das zuvor Schornstein war und jetzt ein Geburtstagskuchen ist. Drei Minuten
später sind die Menschen Muffins, die braunen Haaere Schokoladen-, die
gelben Haare Zitronenglasur.
## „Brain Rot“ – klingt krass, hat wenig Substanz
Die Nichte fragt: „Was willst du für einen?“ Ich sage: „Den mit Zitrone.…
Wir lachen. Ich freue mich nicht nur im Spiel. Ich freue mich auch, dass
meine Nichte sich freut, dass ich mit ihr spiele, und darüber, dass sie
sich auch im Spiel darüber freut, dass ich mich im Spiel freue. So zu
leben, das wäre es. Mit einer Sprache spielen, die noch nicht von
Wirklichkeit verstellt ist – in der jedes Ding jedes Wort sein kann. Wobei
ich jetzt ungern Fisch aus Lego gegessen hätte.
Doch Sprache kann auch lähmen statt verbinden. So wie der Begriff
[3][„Brain Rot“] (Hirnfäule), das neue Oxford-Wort des Jahres 2024. Es
beschreibt digitale Erschöpfung. Wir können jetzt immer „Brain Rot“ sagen,
wenn wir zu viel gescrollt haben. Haha, voll edgy. Doch ist es nicht so,
dass die Beschreibung der Welt sie immer auch mitproduziert? Das Internet
macht dumm? O. k., bin ich halt dumm. Praktisch für die, die es
kontrollieren: Ein verfaultes Hirn stellt weder die Plattformen noch sich
selbst infrage.
Der Philosoph Franco „Bifo“ Berardi prägte den Begriff „Semio-Inflation�…
Konventionelle Inflation ist, wenn du mehr Geld brauchst, um weniger zu
kaufen. Semio-Inflation ist, wenn du mehr Informationen brauchst, um noch
eine minimale Bedeutung zu erhalten. Worte wie „Brain Rot“ klingen krass,
haben jedoch wenig Substanz. In der digitalen Welt überfluten mich Zeichen
bis zur Erschöpfung.
Im Restaurant scheitert Kommunikation an einer Fülle von Zeichen, die auf
nichts verweisen. Die Nichte zeigt, wie improvisierte Zeichen Welten
erschaffen.
Wie wäre es, nicht nur neue Wörter zu erfinden, sondern auch neue
Bedeutungen? Meine Nichte würde zustimmen. Ein Legostein ist ein Mensch ist
ein Muffin mit Zitronenglasur.
8 Dec 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Philipp Rhensius
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