# taz.de -- Kult-Schuhe Doc Martens: Immer da, wenn man sie braucht | |
> Punk ist tot, aber die Dr. Martens sind noch da. Ob auf dem Laufsteg oder | |
> im Club, auch heute bleibt der Schuh vor allem wandelbar. Eine Hommage. | |
Bild: Ikonisch auch unter Punks – wie hier in London 1983 | |
Vor 21 Jahren verabschiedete sich eine kleine Website von ihrem Publikum: | |
„Wir bedanken uns bei allen unseren Kunden für das langjährige Vertrauen | |
auf die Vorteile der Original Dr. Maertens Luftpolster-Sohle.“ | |
Bis 2003 hatte es noch einen Hausverkauf am Starnberger See gegeben, direkt | |
am Wohnhaus des Erfinders Dr. med. Klaus Maertens, damit war nun Schluss. | |
Im selben Jahr endete auch vorerst die Produktion am Traditionsstandort in | |
der Cobbs Lane Factory in Northamptonshire. 1.200 Arbeiter*innen | |
schauten in eine ungewisse Zukunft. Aufgrund Verlagerung der Produktion | |
nach Asien. | |
Es wäre ein großer Verlust gewesen, wäre die Geschichte hier zu Ende, denn | |
die [1][Schuhe], besonders das Urmodell, der 1460, gehören in den | |
[2][kulturellen Kanon] des 20. Jahrhunderts wie das T-Shirt und die | |
Colaflasche. Auch die 1460er waren Massenprodukte. | |
Nachdem der englische Schuhhersteller R. Griggs & Co. die Rechte am Schuh | |
von Klaus Maertens und seinem Partner Herbert Funck erworben hatte, kam der | |
1460 am 1. April 1960 als Arbeitsstiefel auf den Markt. | |
Kirschrotes Leder, Gummisohle, acht Ösen, zum Preis von zwei Pfund: ein | |
Derby-Stiefel, also ein legerer Schuh mit offener Schnürung, in dem man | |
bequem lange stehen und laufen konnte. Die ersten Gruppen, die sich den | |
Schuh aneigneten, waren Fabrikarbeiter*innen und die Briefträger von | |
Royal Mail. Für rund zehn Jahre sickerte das Design ins kollektive | |
Bewusstsein ein. | |
Dr. Martens laufen durch alle Straßen, stehen regelmäßig mit der Post an | |
der Haustür. Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie ein erschöpfter | |
Postbote abends in sein Back-to-Back-Haus zurückkehrt und dankbar seine | |
eingelatschten Docs tätschelt, weil sie seine Füße einen weiteren Tag vor | |
Regennässe bewahrt haben. | |
## Für Mods und Skinheads | |
Wenn es das richtige Paar ist, sind Schuhe wahrhaftige Gefährten. | |
Jugendliche aus der Arbeiterklasse, die gerne einen draufmachen, können | |
solche Gefährten gut gebrauchen. Mods und Skinheads geben den Schuhen ihre | |
nächste Bedeutungsschicht. Sie tragen den Arbeiterschuh und treffen damit | |
eine modische Entscheidung, die nicht nach „oben“ greift, sondern | |
selbstbewusst von ihrer Klassenzugehörigkeit Auskunft gibt. | |
Nachdem die „British Invasion“ mit Beatles, Stones und Kinks in den 1960ern | |
schon klargemacht hatte, woher der heiße Wind weht, eröffnet 1970 in | |
Düsseldorf ein langhaariger Junge, Heiner Hoppe, Kölner, Stones-Fan, gerade | |
18 Jahre alt, einen Laden. | |
Er nennt ihn BBC: Best British Clothing. Zu dieser Entscheidung | |
radikalisiert hat ihn womöglich das Begleiten einer Rolling Stones Tour | |
noch als Schüler. Direkt auf der Ratinger Straße, zwischen Studierenden der | |
Kunstakademie und dem Ratinger Hof, der späteren Keimzelle des deutschen | |
Punk, bietet Heiner an, was er mit seinem Renault R4 aus England | |
rangeschafft hat: Jeans, Lederjacken, Patches, Nieten, Gürtel, Schuhe. | |
Bis zur Cobbs Lane Factory soll Heiner mit seiner Gurke damals gefahren | |
sein – um sich dort vom Dr. Martens Chef Bill Griggs höchstselbst beim | |
Beladen seines Wagens helfen zu lassen. Heiners Nachfolger Christian Werner | |
meint: „Damals war die Marke Dr. Martens erst zehn Jahre alt. Es kann schon | |
sein, dass Griggs da selbst noch mit angepackt hat.“ | |
Zu diesem Zeitpunkt sind die Schuhe mindestens etwas Cooles, Britisches, | |
sie haben den Nimbus von Arbeiterklasse, sind praktisch und günstig. | |
Heiners Laden heißt heute Pick Up und behauptet, der erste in Deutschland | |
gewesen zu sein, der Doc Martens im Sortiment hatte und bis heute hat. | |
Der nächste Schritt in der Biografie des ehemaligen Gartenschuhs von Dr. | |
Klaus Maertens ist seine massenmedial gestützte Aufladung mit Rebellion, | |
Aggression, Konzertgestank und Freiheitsdrang. | |
Am harten Ende der „British Invasion“ zertrümmern The Who Musikinstrumente | |
und Hotelzimmer. Der Kopf der Band, Pete Townshend, trägt Dr. Martens auf | |
der Bühne und läutet damit die popkulturelle Wende für die Schuhe ein. Die | |
musikversessene Jugend zieht die günstigen Stiefel an und nimmt sie fortan | |
mit, in immer weiter verästelte subkulturelle Gruppen – von den | |
klassenbewussten Skinheads zu Ska, Punk, New Wave, Goth, Metal, in | |
feministische Zirkel, zum Grunge in den 1990ern und zu den HipHop-Zecken | |
der 1990er Jahre in Hamburg. | |
Bevor „alles sehr uniformiert wurde“, wie ein Augenzeuge berichtet, gab es | |
das: Dr. Martens mit Baggypants im Publikum einer noch unbekannten Band | |
namens „Absolute Beginner“. Natürlich sind die kulturell aufgeschlossenen | |
jungen Menschen auch unter denen, die demonstrieren gehen. Dr. Martens | |
waren bei so vielen subkulturell bedeutsamen Reisen dabei, dass die | |
Bedeutungs-Pantina des Schuhs inzwischen meterdick ist. | |
Im Nachhinein drängt sich die Frage auf, warum die durchaus diversen | |
subkulturellen Gruppen kein stärkeres Bedürfnis nach Distinktion | |
untereinander hatten. Ob es ihnen gereicht hat, mit Personalisierungen wie | |
bunten Schnürsenkeln oder Bemalungen der Stiefel ihre Gruppenzugehörigkeit | |
auszudrücken. | |
Ach, überhaupt: die Sache mit den Schnürsenkeln. Weil sich die Neonaziszene | |
immer wieder am Kulturgut anderer Szenen bedient, hat auch der Stiefel zu | |
ihnen gefunden, aber ein Nazistiefel ist er nicht. Regeln für die Schnürung | |
können durchaus Auskunft über die Einstellung des Trägers geben, aber: Die | |
Unterschiede sind schon regional so unterschiedlich, dass, so empfiehlt es | |
auch Christian Werner, der betrachtende Blick lieber auf das gesamte | |
Outfit, den Kontext, in dem die Schuhe stattfinden, gelegt werden sollte. | |
## Von „Copkiller“ bis Gay Pride | |
Einige Beispiele: Rote Schnürsenkel können Punk andeuten, aber auch | |
National Front. Weiße Schnürsenkel können „White Pride“, aber auch „Bl… | |
and White united“ bedeuten. Lila Schnürsenkel können für die emanzipierte | |
Frau stehen, aber auch Gay Pride – hier ist wenigstens mal kein totaler | |
Gegensatz vorhanden. Blaue Senkel sollen mancherorts einen „Copkiller“ | |
anzeigen, könnte woanders aber auch „I love Schalke 04“ bedeuten. | |
So dürfte es sich auch mit der Toleranz subkultureller Gruppen ihrem | |
liebsten Allerweltschuh gegenüber verhalten: Er entfaltet seine Bedeutung | |
erst im Kontext, den zu lesen, Insiderkenntnisse erfordert. Das genügt. | |
„Freunde, ihr wisst, es gibt viel Trouble in der Welt. Wir brauchen etwas, | |
das uns vereint. Was ist die eine Sache, die wir alle teilen, die uns | |
vereint?“ An Weihnachten 1982 gibt der englische Künstler Alexei Sayle die | |
Antwort: Es ist nicht „class or ideology“, sondern die Sache ist | |
„classless, genderless, waterproof“ und kostet nur 19 Pfund und 99 Pence. | |
Wenn die Gesellschaft noch einen Minimalkonsens zustande bringen kann, dann | |
den: Dr. Martens passen. Sogar [3][die Polizei] hat sie an. Heute ist die | |
Gesellschaft wieder zerrissen, der Preis für ein Paar Stiefel liegt | |
allerdings inzwischen eher bei rund 200 Eiern. 11,5 Millionen Paar hat Dr. | |
Martens im letzten Geschäftsjahrs weltweit verkauft. | |
Weil sie in der Regel länger halten als ein Geschäftsjahr, sehen wir sie | |
überall. Es gibt seit 2007 wieder „Made in England“-Schuhe, die im Werk an | |
der Cobb Lane hergestellt werden. Aficionados meinen häufig, deren Qualität | |
sei besser. Für den Verkäufer Christian Werner haben aber alle Dr. Martens | |
Ehre verdient: „Die Maschinen sind gleich. Und es ist immer noch alles | |
Handarbeit, egal wo die Hände sind. Man muss die Schuhe halt auch pflegen, | |
mit Lederpflege und Ruhetagen.“ So vermeidet man nach seiner Empfehlung die | |
Tragefalten, die zu Tragerissen werden können am besten. | |
Durch die Aufladung des Schuhs mit über 60 Jahren Geschichte kann man sich | |
heute freimütig aus der in die Schuhe eingeschriebene Referenzmenge | |
bedienen. Dr. Martens kombiniert mit Kleid oder Anzug, als Arbeitsschuh, | |
militaristisch-erotisch oder öko-nachhaltig: Theoretisch kann man immer den | |
gleichen Schuh tragen und sich dennoch jeden Tag, wenn es denn sein muss, | |
anders inszenieren. | |
Wann haben wir genug davon? Das Design des 1460 ist fast 65 Jahre alt. | |
Eigentlich Zeit für Rente, aber er ist stattdessen im Berghain. Ist das | |
vielleicht einfach so gutes Design, dass es bis heute kein besseres gibt? | |
„Natürlich gibt es besseres“, sagt Antonelle Giannone der taz. Sie ist | |
Professorin für Modetheorie, Modegeschichte und Bekleidungssoziologie an | |
der Kunsthochschule Weißensee. Jedoch hielten wir Menschen affektiv an | |
Objekten fest. „Wir suchen Kontinuität, nicht nur Neues, Besseres. | |
Besonders daran, was als Klassisches bezeichnet wird, halten wir gerne fest | |
– man denke nur an den Trenchcoat. | |
Es gibt einen Bedarf an Erinnerungskultur; Geschichte, die über unser Leben | |
hinausgeht. Wir brauchen das anscheinend.“ Eventuell liege das daran, dass | |
ein Teil unseres Gedächtnisses an digitale Utensilien ausgelagert wurde. | |
Das Gedächtnis ist ins Mobiltelefon gewandert – und an die Füße. | |
13 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Donata Künßberg | |
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