# taz.de -- Die Mode und der Tod: Ungespielte Stücke | |
> Glass Skin und Liquid Metal: Die aktuelle Mode tut so, als wäre sie | |
> unsterblich. Doch die, die sie tragen, sind es nicht. | |
Bild: Die letzte Stunde vor der Schließung der Galeries Lafayette – ein Absc… | |
Bis zuletzt bin ich in den Berliner Galeries Lafayette spazieren gegangen, | |
die im Juli [1][für immer geschlossen wurden]. Die Regale leerten sich, die | |
restlichen Waren wurden zusammengeschoben, ganze Tanzflächen wurden frei. | |
Es war ein Abschied, der mir überraschend schwerfiel. Ganz zum Schluss | |
lagen ein paar Mützen neben seltsamen Smartphonetaschen. Es gab noch | |
Sonnenbrillen, Hosen, glitzernde schwarze Einstecktücher und einen Rest | |
Abendmode. | |
Die Preisnachlässe hatten über Wochen bei 70 Prozent gelegen. Dinge, an | |
denen man sonst achtlos vorbeigegangen wäre, waren plötzlich einen Versuch | |
wert. Ein Pullover in 1980er-Kupfergold-Farbe, ein frech-dreistes | |
Chanel-Bouclé-Jäckchen-Imitat, eine Lederjacke wie für das Motorrad. Ein | |
Irrtum würde nicht so viel kosten wie gewöhnlich, und wer weiß, vielleicht | |
lernt man eine neue Seite an sich kennen, wenn vorne auf dem Jäckchen | |
goldene Knöpfe blitzen. „The winner takes it all.“ An einem Nachmittag war | |
ABBA über die Lautsprecher zu hören. Ob sterbende Kaufhäuser Sinn für | |
Ironie entwickeln? | |
„Forget your perfect offering / There is a crack in everything / That’s how | |
the light gets in.“ [2][Leonard Cohen] habe ich nicht gehört während meiner | |
Abschiedsrunden am gläsernen Trichter der Galeries entlang. Aber es wäre | |
schön gewesen. Ein Riss, ein Sprung, eine Lücke – was das Selbstbild | |
angeht, wissen die eigenen Kleider eine Menge darüber. Einige von ihnen | |
ließen sich sogar nach Schweregraden der Projektion und Verdrängung | |
sortieren. Ein kurzes weißes Schalkleid, das ich sechzehnjährig unbedingt | |
haben wollte, hatte erkennbar wenig mit mir und meinem eigenen Körper, | |
sondern eher mit einer Sehnsucht nach einer luxuriösen Inszenierung | |
verwöhnter Weiblichkeit zu tun. Mit Linda Evans zum Beispiel. Die Folge | |
war, dass ich es nur ein einziges Mal getragen habe. Es war ein pubertärer | |
narzisstischer Irrtum, ein Fehlkauf, den ich mir hätte sparen sollen. | |
Andererseits fände ich es schade, das Kleid nur so zu sehen, denn ein paar | |
dieser Fehler bleiben einem auf unverzichtbare Weise erhalten. Sie werden | |
zum Requisitenschatz für nicht gespielte Stücke. Die Nostalgie, die Liebe, | |
die Neugier auf das, was der Irrtum verbirgt, hindern einen, sie zu | |
vergessen. | |
Die aktuelle Mode hingegen verhält sich ausgesprochen kühl gegenüber dieser | |
Art der Erinnerung. Eskapistisch wie selten werde sie sich in diesem Herbst | |
präsentieren, so die Prognose der französischen Vogue. Von außen | |
betrachtet, sei vieles zurückgekehrt. Die 1970er, die Liebe zum Weltall und | |
zur technischen Neuerung, ein an den Vorlieben und Empfindlichkeiten des | |
Zeitgeistes angepasster Hang zum Glamour. Von Nostalgie aber keine Spur. | |
Auch nicht von Ironie und Humor, ließe sich ergänzen. Alles ist ernst | |
gemeint, und vermutlich besteht darin der eigentliche Trend. | |
## Glass Skin und Liquid Metal | |
Ein gegenwärtiges Schönheitsideal, das sich von Südkorea aus dank sozialer | |
Medien in der Welt verbreitet hat, heißt Glass Skin. Verlangt wird | |
tatsächlich die absolute Perfektion. Es genügt nicht, eine straffe Haut zu | |
haben, nein, sie muss porenlos erscheinen. Ihre Durchlässigkeit, ihre | |
Wandelbarkeit, sämtliche lebendige Eigenschaften müssen aushärten und | |
verschwinden. Dazu muss unter Umständen sehr viel Fruchtsäure auf die Haut. | |
Diese soll sich schälen, bis sie die Verbindung zum Alterungsprozess quasi | |
gekündigt hat. Es ist eine Disziplinierung der robusteren Art. | |
Dazu kommt eine zweite momentane Vorliebe der Mode, genannt Liquid Metal. | |
Sie kann sich auf Möbel beziehen, auf Schmuck oder auf Stoffe, die den | |
Körper wie geschmolzenes Metall umspielen. Die spanische Königin wurde im | |
Sommer nach Gerüchten über den Zustand ihrer Ehe bei einem Filmfest in | |
einem silbernen, fließenden Sommerkleid fotografiert. Die Bild druckte ein | |
Foto, das die Rückenansicht und damit auch den offensichtlich hart | |
trainierten Hintern der Herrscherin zeigt, und titelte „Letizias | |
Rachekleid“. | |
Die Haut muss nicht mehr atmen. Das Metall gibt seinen Widerstand gegenüber | |
einem für große Hitze begabten Körper auf. Man ahnt, dass sich ein derart | |
gerüsteter Mensch für die Unsterblichkeit, mindestens aber für eine | |
blendende Erbarmungslosigkeit empfiehlt. Den Gedanken an Abschied und | |
Erinnerung gibt er auf. Doch Vorsicht, Metaphern sehen manchmal in Abgründe | |
hinein. Eine Haut wie Glas. Das ist gefährlich. Ein kleiner Stoß, und das | |
Glas zerspringt. | |
Der Zeitgeist kokettiert unbewusst mit seinem Ende. Das wäre auch eine | |
Möglichkeit. Die Mode ist für den Tod jedenfalls keine Fremde. Für den | |
italienischen Dichter Giacomo Leopardi waren die beiden sogar Geschwister, | |
von der Vergänglichkeit geboren beide. Ihr Zwiegespräch gehört zu seinen | |
zwischen 1824 und 1832 geschriebenen „Operette morali“. Der Tod erinnert | |
sich an nichts, hat kein Gedächtnis und keine Vergangenheit, und die Mode, | |
seine liebende Schwester, tut alles, damit die Menschen vergessen, was | |
ihnen wichtig ist. Es liegt ihr viel an der Anerkennung ihres Bruders. | |
## Die Unsterblichkeit der Mode | |
Eine Freundin meiner Mutter muss dieses Gespräch belauscht haben. Sie | |
liebte die Mode, und sie war manisch-depressiv. Vor vielen, vielen Jahren | |
hat sie sich in einer der teuersten Boutiquen meiner Heimatstadt | |
eingekleidet und, so die Rekonstruktion der Ereignisse, am selben Tag das | |
Leben genommen. Ich erinnere mich an den Sonntagnachmittag, an dem ich | |
hörte, sie sei seit Tagen verschwunden und dass es sein könnte, dass sie | |
nicht mehr lebe. Ich wollte das nicht glauben. Später wurde ich den | |
Gedanken an die zuletzt gekauften Kleider nicht los. Wenn man so will, hat | |
sich die Unsterblichkeit der Mode, ihr Vergehen und Wiederkommen wie ein | |
Geheimnis über diesen Suizid gelegt. | |
Ich schicke einem Psychiater eine Mail in dieser Sache. Ein paar | |
Stichwörter kommen zurück. Ich könnte doch mal über den Starnberger See | |
nachdenken, womit wohl der Tod von König Ludwig II. gemeint ist, über das | |
Sprichwort, dass das letzte Hemd keine Taschen habe, über den Wunsch, | |
würdevoll aufgefunden zu werden, über den Übergang, den Stolz und die | |
Eigenverantwortlichkeit. Sicher, verstehe, Diagnosen über den Tod hinaus | |
verbieten sich, und Stolz und Eigenverantwortlichkeit klingen gut, denke | |
ich, und dass dies eben die Eigenschaften der Freundin, nicht die ihres | |
Todes sind. | |
Mein Mitgefühl, meine jugendliche Bewunderung für sie wünschen sich, dass | |
es ein flaschengrünes Samtkostüm gewesen ist, das sie für ihren Tod gewählt | |
hat. So als wäre ihr Verschwinden im Fluss in einem Kleid dieser ruhigen, | |
tiefen Farbe leichter gewesen, oder als hätte sie sich darin in einen | |
seltsam schönen Fisch verwandeln können, der einfach weiterschwimmt. | |
Ob sie beim Anprobieren ihrer letzten Garderobe, beim Blick in den Spiegel | |
ihre Absichten für den späteren Tag vergessen hat? Ob sie die neuen Kleider | |
wie einen Begleiter brauchte, um den letzten Schritt nicht ganz allein zu | |
gehen? Oder war es anders, und der Tod kam ihr erst nach dem Kauf der neuen | |
Kleider in den Sinn, nach einem kurzen Flash der Begeisterung, das letzte | |
„Back to Black“? | |
Kleine Fehler seien mit das Wichtigste für ein richtig gutes Outfit. | |
Unebenheiten, Widersprüche. Das hat sie mal an einem ihrer vor Ideen und | |
Temperament überbordenden Tage gesagt, aber damals habe ich es nicht | |
verstanden. Ich dachte, es ginge dabei um etwas rein Dekoratives, das dazu | |
da ist, den anderen zu sagen, dass man irgendeinen Code beherrscht, ein | |
Geheimnis kennt. Heute denke ich, dass sie etwas anderes gemeint hat. | |
Freiheit vielleicht. | |
Haben Sie suizidale Gedanken? Eine Liste mit Hilfsangeboten finden Sie | |
unter [3][taz.de/suizidgedanken]. | |
3 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Elisabeth Wagner | |
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