# taz.de -- Fashion in Riga: Auf dass der Stoff sein Schatten sei | |
> Schon zu Sowjetzeiten war Riga eine Modestadt. Jetzt feierte die Fashion | |
> Week Riga ihr 20. Jubiläum. Vergangenheit und Gegenwart Lettlands | |
> schwingen mit. | |
Bild: Ninja, Nonne und Fischfang-Kolchose: Iveta Vecmanes Kollektion „X“ (l… | |
Riga – das lag in meiner sowjetisch geprägten Jugend weit, weit im Westen. | |
Was wir mit sechzehn, siebzehn von der dortigen Mode mitbekamen, das war | |
vom Feinsten: Kleidungsstücke, die wir geliebt, gepflegt und gerne getragen | |
haben. Die Zeitschrift Rīgas Modes war ein Fenster zum Westen und gar nicht | |
mehr so weit entfernt von Paris. – Und jetzt, im Jahr 2024, stehe ich in | |
Riga, auf Einladung der Baltic Fashion Federation, und sehe die Vielfalt | |
der lettischen Mode, erstaunlich und nah wie noch nie. | |
In Europa liegt [1][Riga] jetzt am anderen Ende: im Osten. Diese | |
historische Doppelperspektive gibt Lettinnen und Letten auch nach dreißig | |
Jahren noch zu denken. Viele begreifen sie aber nicht als Last, sondern als | |
Potenzial, verorten sich im Herzen Europas, dessen Souveränität auch in | |
Osteuropa beginnt. Wo könnte man das besser verstehen lernen als in der | |
Mode, die so eng mit dem Leben der Menschen und zugleich der Wirtschaft | |
eines Landes verwoben ist? | |
Die Rigaer Fashion Week, die Ende Oktober ihr zwanzigstes Jubiläum feierte, | |
ist ein Stelldichein osteuropäischer, baltischer, westeuropäischer Mode. | |
Lookbooks und Kataloge sind durchweg auf Lettisch, Englisch und Russisch, | |
mit den meisten Modeleuten spreche ich Russisch. Deutsche Labels sind keine | |
zu sehen, aber die italienische Botschaft in Lettland hat einen Teil der | |
Veranstaltung organisiert und gesponsert. | |
Neben den Shows findet auch viel anderes statt. Das Modemuseum, dessen | |
Leiterin Natalja Muzičkina eine Dame voller Geschichten und tiefem Wissen | |
über Mode ist, zeigt eine Ausstellung der Kollektionen [2][Vivienne | |
Westwoods] aus einer privaten Sammlung, eine Art Crashkurs in westlicher | |
Punk-Kultur. Am dritten Abend findet in der Art Academy of Latvia eine | |
Diskussionsveranstaltung statt: „Fashion as Heritage“. Die zwei | |
Diskutant*innen sind bemerkenswerte Persönlichkeiten. | |
Die lettische Designerin Laima Jurča, aufgewachsen zum Teil noch in | |
Sowjetzeiten, zweisprachig, nahe der russischen Grenze, hat im Westen | |
gelernt, war 2021 Finalistin des Wettbewerbs beim französischen | |
Hyères-Festival für junge Designer*innen und Stipendiatin der Pariser | |
Stickmanufaktur Maison Lesage. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über | |
nachhaltige Mode mit dem programmatischen Titel: „Fashion as a Gardening: | |
Developing Fashion Design Processes Towards a Reparative Strategy of | |
Care“. Vor Kurzem kehrte sie nach Lettland zurück und unterrichtet jetzt an | |
der lettischen Kunstakademie junge Designer*innen. Ihre Aufgabe, sagt sie, | |
sehe sie darin, jungen Leuten beizubringen, wie man einen eigenen und | |
nachhaltigen Stil erfindet. Und dazu brauche man gar nicht so viel. | |
Lettland selbst habe Firmen, in denen Stoffe aus alten Kleidern aufbereitet | |
werden. | |
## Ein Spiel mit den Stilen | |
Jurčas Diskussionspartner auf dem Podium, der Modehistoriker Matteo | |
Augello, tritt etwas anders auf: Queerstyle, wallendes Haar wie | |
Michelangelos Erzengel – ein Botschafter aus der Welt der Diversity. | |
Matteo, der gebürtige Italiener, der am London College for Fashion | |
arbeitet, geht – das ist Fashion Heritage live – spielerisch mit den Stilen | |
um. Für den Auftritt hat er sich dezent geschminkt: ein Statement gegen die | |
sonst so rigide LGBTQ-Politik Lettlands, zu einer Zeit, in der Diversity | |
das große Thema in den Modehauptstädten der Welt ist. | |
Drei Tage lang präsentieren sich dann die Kollektionen der Sommersaison | |
2025. Iveta Vecmane etwa, ein lettisches Label, das seit 2017 existiert, | |
zeigt „X“, eine Kollektion aus der Serie „Melanholija“. X steht dabei n… | |
etwa für Twitter, sondern für etwas Unbekanntes, das sich je nach Gleichung | |
ändert. Man sieht junge Nonnen oder heimliche Ninjas in langen Roben, die | |
Taille betont, ganz ohne Accessoires | |
. Auf den Roben sitzen gehäkelte Einsätze, wie Teile von Fischernetzen, | |
abnehmbar als Kragen, oder wie kleine Servietten auf Jacke und Rock als | |
All-over-Muster genäht. Die Models tragen lange, dünne Zöpfe, wie früher | |
junge Frauen auf dem Land. Auch im Gespräch denkt die Designerin über Haare | |
nach: wie viel Information jede*r in seinen Haaren trägt und wie viel | |
Geschichten es gibt, in denen Frauen ihre Haare abschneiden und dadurch | |
magische Kräfte verlieren. Auch wenn wir uns ändern wollen, schneiden wir | |
die Haare ab. In der Show rieselt von oben plötzlich schwarzes | |
Papierkonfetti, und eine Frau erhebt sich neugeboren aus der Asche – nach | |
Ende des Kriegs. | |
## Das „heilig gehaltene Handwerk“ | |
Oder Lena Lumelsky, eine Lieblingsdesignerin der Fashionblogger und | |
High-Society-Diven. Sie ist auf der Krim geboren, studierte in Tel Aviv und | |
Antwerpen, war Finalistin des Mango Fashion Award. Zurzeit lebt und | |
arbeitet sie in Belgien. Jahrelang hat sie mit Handwerksbetrieben in | |
Lettland zusammengearbeitet, und als das schwieriger wurde, hat sie sich | |
2011 entschlossen, ganz in Lettland herstellen zu lassen. Sie wolle jetzt, | |
sagt sie mir, bewusst im postsowjetischen Raum produzieren. | |
Lange habe sie beim Designkaufhaus Harvey Nichols in London, den USA und in | |
Tokio verkauft, in Lettland selbst weniger. So sei die Idee aufgekommen, | |
das lettische Label Artisaint zu gründen, das „heilig gehaltene Handwerk“ | |
(eine Wortkombination aus den französischen artisan und saint). Es soll | |
neben der Haute Couture-Linie aus Belgien ein Label für zeitlose und | |
tragbare Mode sein, mit angemessenen Preisen, um Handwerker und Kreative in | |
Riga an einem Ort zusammenzuführen. Die Produktion ist auf neue, | |
nachhaltigere Arbeitsweisen angelegt. Bis 2023 habe es zweimal im Jahr eine | |
saisonale Kollektion gegeben, jetzt produziere man unabhängig von diesem | |
Rhythmus – raus aus dem verrückten Tempo. Dafür sei, so Lumelsky, Osteuropa | |
genau der richtige Ort. | |
Ein doppelschichtiges Kleid mit neogotischer Hochzeitsschleppe | |
Lumelskys Outfits sind fantastisch und wie von [3][René Magritte] erdacht. | |
Zwei lange Oberteile gehen an den unteren Säumen ineinander über und bilden | |
eine einzige lange Stoffbahn, eine Art Schlauch: Outfit für Meerjungfrauen | |
oder neogotische Hochzeitsschleppe. Ein Stück, sagt sie, ziehen wir an und | |
das Stück auf der anderen Seite ist wie sein Schatten. Das sind die Ängste, | |
die wir hinter uns herziehen. Aber wir müssen Körper und Schatten | |
zusammenführen und unsere Unvollkommenheit in Würde verwandeln. Auch im | |
Alltag ist das Kleid tragbar, es hat mehrere Varianten – die Schleppe für | |
den Abend, und untertags, wenn beide Teile übereinander angezogen werden, | |
ist es ein doppelschichtiges Kleid. | |
## Wo Natur und Tradition noch zusammengehen | |
Fantastisch ist auch die Kollektion des estnischen Labels Carolxot: | |
vielschichtige, farbfleckige Outfits aus übrig gebliebenen Stoffstreifen | |
zusammengeknüpft und -gehäkelt wie ein Fetzenteppich, mit handgemachten | |
Prints, die Wasserverläufe zeigen. Darüber Gesichter, bedeckt von | |
Sonnenbrillen wie die Fischaugen futuristischer Amphibienmenschen. | |
Die Kollektion ist jedoch nicht dem Science-Fiction-Klassiker Alexander | |
Beljajevs gewidmet („Der Amphibienmensch“, 1928), sondern einer ehemals | |
bekannten Einrichtung: der 1947 gegründeten größten Fischfang-Kolchose | |
Estlands S. M. Kirov, getauft nach einem Gefährten Stalins. Der gigantische | |
Industriebetrieb prägte einmal die gesamte Ostseeküste östlich von Tallin. | |
Die Kollektion ist ein Stück Widerständigkeit des Küsten- und Insellebens, | |
wo Natur und Tradition noch zusammengehen. | |
Dagegen huldigt die Kollektion des spanisch-lettischen Labels mit dem | |
schönen Namen Novalis der Nacht, wie Novalis sie in seinen Hymnen besang, | |
das Ritual. Weiße Hochzeitkleider tauchen auf, mit langen Bändern und viel | |
Stoff kombinieren sie spanischen Madonnenkult und nordische Legenden: | |
Geisterbeschwörungstänze baltischer Göttinnen und Götter. Sie lieben Mode | |
aus Riga. | |
Transparenzhinweis: Die Baltic Fashion Federation hat die Recherche | |
unterstützt. | |
21 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Ein-Streifzug-durch-Rigas-Literaturszene/!5871468 | |
[2] /Nachruf-auf-Punkikone-Vivienne-Westwood/!5905795 | |
[3] /Surrealismus-in-Belgien/!6046982 | |
## AUTOREN | |
Marina Razumovskaya | |
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