# taz.de -- Popkultur in Wilhelmshaven: Als Punk noch stank | |
> Eine Ausstellung im Küstenmuseum Wilhelmshaven erinnert an die örtliche | |
> Konzertkultur der 80er und 90er Jahre. Viel übrig ist davon heute nicht | |
> mehr. | |
Bild: Wo der Punk abging: eine Nacht 1984 im Schaar3Eck in Wilhelmshaven | |
„Nein, überhaupt niemand hat da gekotzt!“ Der Streit in der oberen | |
Ausstellungshalle des Wilhelmshavener Küstenmuseums spitzt sich zu. „Es | |
stimmt einfach nicht, was du sagst“, echauffiert sich ein Besucher in | |
Oberhemd und Funktionsjacke mit langsam echter Wut in der Stimme: „Du | |
redest von einem komplett anderen Abend.“ Vier Männer um die 50 drängeln | |
sich vor einem Stadtplan an der Wand und fahren mit dem Finger rote | |
Markierungen entlang der Schillerstraße ab. „Wenn hier das York war und da | |
das Flic-Flac“, versucht es der Wütende ein letztes Mal, „dann müsste dein | |
Laden irgendwie hier oben gewesen sein. Und da ist kein roter Punkt.“ | |
Überlieferte Geschichte ist nie ganz zuverlässig, mündlich weitergetragene | |
schon gar nicht – und für diese spezielle Ausstellung gilt das sogar noch | |
verschärft, weil die Ausgestellten erstens nicht gerade bekannt für | |
zuverlässige Archivpflege sind und zweitens schon damals kaum jemand | |
nüchtern war. „[1][Pop. Punk. Kultorte]“, heißt die Ausstellung über | |
Musikkneipen und Discos im Wilhelmshaven der 1980er und 1990er Jahre. | |
Und davon gab es damals tatsächlich eine ganze Menge – so viele, dass auch | |
Kuratorin Clara Ooster nicht die Hand ins Feuer legen kann für die | |
Vollständigkeit der mit rund 30 Lokalen bestückten Übersichtskarte. | |
Das muss sie aber auch gar nicht. Denn Reiz und Zielsetzung dieser Schau | |
liegen ja gar nicht in der lückenlosen Chronik der erlebnisorientierten | |
Gastrosparte, sondern in der heute verblüffenden Erinnerung daran, dass | |
es so ein ausuferndes Nachtleben überhaupt mal gab in dieser | |
niedersächsischen Mittelstadt am Jadebusen, [2][die man heute leicht abtun | |
könnte als Marinestützpunkt] plus Wohn- und Einkaufsmöglichkeiten. | |
Die Popkultur jedenfalls, wie sie sich in den zahllosen für die Ausstellung | |
zusammengetragenen Flyern, Plakaten und Eintrittskarten niederschlägt, | |
fühlt sich hier noch ein bisschen mehr nach großer, weiter Welt an als | |
üblich: mit Konzerten von Chuck Berry, New Model Army oder Rammstein. | |
## Der Pop fürs Lebensgefühl | |
Aber auch, wer hier an der Nordsee damals nicht selbst dabei war, wird sich | |
beim Gang durch die Schau erinnern, in welchem Maße Pop einmal Lebensgefühl | |
gestiftet hat – und wie die unterschiedlichen Sparten und Musikgenres ganze | |
Subkulturen gespeist haben. Eine Stärke der Wilhelmshavener Ausstellung ist | |
das Fingerspitzengefühl, mit dem die Sortierarbeit für Schauwände zu Heavy | |
Metal, Gothic, Punk und so weiter jeweils wieder runtergebrochen werden | |
aufs Lokale: von der Band The Color Red, die es als „Britpop aus | |
Wilhelmshaven“ bis zum Musiksender Viva geschafft hat, über die Metal-Combo | |
Crossroads bis zu Uxmu Flüpü, die irgendwo zwischen Jazz- und Artrock Dinge | |
veranstalten, die auch 40 Jahre später noch nach ferner Zukunft klingen. | |
Entscheidend ist aber: Das alles ist lange vorbei. | |
Sucht man heute etwa nach der für die Ausstellung zentralen | |
Progressive-Disco Palazzo, dann findet man eine Ruine hinterm Bauzaun mit | |
zerbrochenen Scheiben an splitternden Fensterrahmen: Lost Place und | |
Problemimmobilie im wirtschaftlichen Niemandsland zwischen Publikumsschwund | |
und Denkmalschutz. Auch von den anderen legendären Läden hinter den roten | |
Punkten auf dem Stadtplan gibt es heute kaum noch einen. | |
Aber gut: Discosterben ist keine Wilhelmshavener Besonderheit, sondern ein | |
mindestens bundesweites Phänomen, mit jeweils regionalen | |
Erklärungsversuchen wie sterbende Betreiber:innen, gentrifizierte | |
Viertel und andere regionale Krisen. Aber auch da überwiegen allgemeine | |
Untergangstendenzen. Dass die Stammdisco zwar allerorten als jeweiliges | |
„Wohnzimmer“ der Szene bekannt war, hat die Eventisierung des Nachtlebens | |
eben nicht aufgehalten. Gerade den Indie- und Alternativediscos dürften | |
auch die wie Pilze aus dem Boden sprießenden Festivals das Genick gebrochen | |
haben. Spätestens um die Jahrtausendwende blieben die Tanzflächen vor allem | |
im Sommer jedenfalls spürbar leer. Und die Kassen eben auch. | |
## Wissenschaftlicher Blick zurück | |
Wilhelmshavens Küstenmuseum ist auch nicht die erste | |
geschichtswissenschaftliche Institution, die sich der Sache annimmt. Selbst | |
im näheren Umfeld gibt es diverse Beispiele aus den vergangenen Jahren. Im | |
Schlossmuseum Jever etwa – keine 20 Kilometer entfernt – hatte man den | |
„Tanzschuppen, Musikclubs und Diskotheken im Weser-Ems-Gebiet“ vor einer | |
Weile die breit rezipierte Ausstellung „[3][Break on through to the other | |
side]“ gewidmet. Studierende aus dem ebenfalls nahen Oldenburg haben der | |
Szene mit „Zu laut zu dunkel to düür“ ein filmisches Denkmal gesetzt. Und | |
im Museumsdorf Cloppenburg hat man vor drei Jahren die Landdisco Zum | |
Sonnenstein aus Harpstedt als [4][begehbares Ausstellungsstück] wieder | |
aufgebaut. | |
Sei es nun aus nostalgischen Anwandlungen alt gewordener | |
Discogänger:innen oder weil man dieses Stück Popalltag inzwischen als | |
historische Besonderheit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannt | |
hat: Das Thema beschäftigt die Leute. Was die Wilhelmshavener Ausstellung | |
nun besonders auszeichnet, ist die breite Involviertheit einer dann doch | |
wieder überschaubar großen Stadtgesellschaft. Kurz gesagt: Dass es hier | |
eben nicht um ein, zwei oder drei verkiffte Kultläden geht, in deren besten | |
Zeiten 100 Leute reinpassten. Sondern – womit wir wieder bei diesem | |
Stadtplan wären – um ganze Straßenzüge und das gemeinsame Nachtleben einer | |
Stadt. | |
Außerdem lässt sich in Wilhelmshaven am Beispiel des Pumpwerks, das es als | |
[5][Konzertort und soziokulturelles Zentrum] immer noch gibt, auch noch | |
ein etwas weiterer Bogen schlagen als entlang der zahlreichen kurzlebigen | |
und von häufigen Eigentümerwechseln geprägten Kleinbetrieben. | |
Die Vorgeschichte des Pumpwerks reicht bis in die 1960er Jahre, als die | |
örtliche Jazzszene einen Club betrieb; zunächst mit finanzieller | |
Unterstützung der Stadt, später ganz in öffentlicher Trägerschaft. Sehr | |
früh hat man hier erkannt, dass Ausgehen, Musik, Kunst und politisches | |
Engagement Hand in Hand gehen. Das 1976 eröffnete und bis heute auch aus | |
der erweiterten Region angefahrene Kulturzentrum Pumpwerk entstand aus | |
diesen Überlegungen und in diesem personellen Umfeld. Auf lokaler Ebene ist | |
das soziokulturelle Zentrum damit so was wie Geburtshelfer, Wegbegleiter | |
und Erbe privatwirtschaftlicher Disco- und Musikkneipenkultur zugleich. | |
Dass über Professionalisierung, Zentralisierung und Verstaatlichung des Pop | |
zwangsläufig ein bisschen Charme auf der Strecke bleibt, lässt sich in der | |
Ausstellung zum Beispiel an den handschriftlichen Plakaten der Punkkneipe | |
Schaar3Eck ablesen. Wie Konzert- und Veranstaltungskultur nach dem | |
wirtschaftlichen Kollaps aber überhaupt weitergehen konnte, ist vielleicht | |
auch ganz grundsätzlich von Bedeutung: als Botschaft aus dem Poplabor an | |
der Nordsee. | |
26 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kuestenmuseum.de/ausstellungen/sonderausstellungen | |
[2] /Wilhelmshavens-Last-der-Vergangenheit/!5844372 | |
[3] https://www.schlossmuseum.de/ausstellungen/archiv/break-on-through-to-the-o… | |
[4] https://museumsdorf.de/besuch/eine-disco-kommt-ins-museum/ | |
[5] https://www.pumpwerk.de | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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