# taz.de -- Berlin Atonals Openless: Rhythmen aus dem Jenseits | |
> Am Wochenende veranstaltete Berlin Atonal das dreitägige Festival | |
> „Openless“. Der Sound war sphärisch, doch viele Fragen blieben offen. | |
Bild: Nachkommen des 2015 verstorbenen senegalesischen Perkussionisten Doudou N… | |
Wie ein Bandwurm wirkt die Menschenschlange vor dem Kraftwerk Köpenicker | |
Straße. Nur langsam werden Besucher:innen am Eingang abgefertigt. Um | |
das Gelände für das Festival „Berlin Atonal“ zu betreten, braucht es am | |
Eröffnungsfreitag viel Geduld. Rätselraten um das Motto „Openless“: Wenig… | |
offen? Geschlossen? Bodenlos? | |
Vergangenes Jahr wurde vermeldet, [1][Berlin Atonal] fände fortan nur noch | |
alle zwei Jahre statt, in der Vollversion also erst wieder 2025. „Openless“ | |
ist somit ein Zwischenspiel. Festival nennt es sich aber dennoch, die | |
Kommunikation ist verwirrend. An den drei Abenden selbst werden die | |
Unterschiede zum „echten“ Atonal dann aber deutlich: „Openless“ ist nic… | |
nur kürzer – [2][2023 dauerte Atonal ganze elf Tage] – sondern auch | |
fokussierter. Jeder Konzertabend hat ein eigenes Thema, das mitunter | |
Atonal-untypisch musikalisch und performativ durchgespielt wird, eine | |
Ausstellung gibt es auch nicht. | |
Der Freitag ist für Projekte reserviert, in denen Sound, Kunst und | |
Recherche verzahnt werden, wie bei „A Forbidden Distance“, das den großen | |
Raum des Kraftwerks bespielt: Die Zusammenarbeit der iranisch-kanadischen | |
Brüder Mohammad und Mehdi Mehrabani (alias Saint Abdullah), der | |
italienisch-australisch-jüdischen Videokünstlerin Rebecca Salvadori und des | |
irischen Elektronikproduzenten Eomac (Ian McDonnell) macht aus den | |
Bindestrich-Biografien Bindestrich-Kunst. | |
Opulente Bild-Klang-Textmaschine | |
Die vier Beteiligten werfen dafür eine opulente Bild-Klang-Textmaschine an. | |
Auf einer Leinwand sind Homemovies einer ungenannt bleibenden Familie zu | |
sehen. Zu sehen gibt es eine Stadt in Nordamerika, darin eine vermutlich | |
migrantische Familie, der Vater ist abwesend. Die Kamera wird von der | |
Mutter Mehrabani geführt und sie filmt ihre vier Kinder, zwei Jungen, zwei | |
Mädchen, die beide Kopftücher tragen. Die Szene wirken unbeschwert, | |
lachende Kinder lachen, bei Alltagsverrichtungen zu Hause, auch mal betend | |
mit dem Koran. Was den religiösen Kontext angeht, kann man nur rätseln. | |
Schon öfters haben sich Saint Abdullah mit ihren Musikprojekten um eine | |
differenzierte Darstellung von schiitischem Glauben bemüht. Ihre Familie | |
musste aus dem Iran emigrieren. Salvadori, deren deutsche Großmutter vor | |
den Nazis nach Australien flüchtete, schreibt in Echtzeit Untertitel, die | |
dann als Textbänder aufblitzen. | |
Etwa „Es gibt keine Geheimnisse jenseits der Bilder“. Die Tonspur der | |
Bilder fehlt, stattdessen gibt es Fieldrecordings mit Stimmfetzen zu hören, | |
HipHop-Beats unterlegt mit Soundschnipseln von Begräbniszeremonien und | |
andere, impressionistisch anmutende Elektroniksounds. | |
Im Programmheft steht, das audiovisuelle Projekt untersuche „den | |
Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl und Entwurzelung“. Die Musiker | |
liefern dazu teils verkitschte, Sounds. Trügt der Schein von der Idylle des | |
Familienlebens? | |
Muskulöse Akrobatik und Death Metal | |
Voll auf die Zwölf geht es beim Laptop-gestützten Blastbeat-Brutalismus des | |
kenianischen Deathmetalduos Lord Spikeheart. Beide Künstler, dünn wie | |
Silberfische, bieten muskulöse Akrobatik, für die der Sänger theatralisch | |
auf einem Gerüst herumturnt, während aus dem Laptop 147 bpm | |
Doublebassdrumschläge prasseln und Gitarrensoli mit der Kraft von 50 | |
Kreissägen quietschen. | |
Den Globus-Dancefloor eröffnet später US-Produzentin Laurel Halo mit einem | |
formstrengen Ambientset. Einige Anwesende machen dazu Yoga-Übungen am | |
Boden, stretchen ihre Glieder, andere schlafen ein, kriegen die Musik gar | |
nicht mit, die sich so gerade oberhalb des Gesprächspegels vom Tresen | |
durchsetzt. Der ganz normale Atonal-Wahnsinn. | |
Am Samstag ist die Energie wieder voll da, angeheizt wird sie vom | |
eindringlichen Trommeln der Sabar, wie sie der 2015 verstorbene | |
senegalesische Perkussionist Doudou N’Diaye Rose meisterlich beherrschte. | |
Sein rhythmisch-musikalisches Erbe ist Thema des Abends. | |
Aber wie! Das hat man bei Atonal auch noch nicht erlebt, dass einer die | |
zumeist schwarzgewandete, ernst dreinblickende Menge zum Mitsingen und | |
Mitklatschen auffordert – und diese das auch noch tut. Viermal tragen | |
Nachkommen von N’Diaye Rose am Samstag sichtlich bewegt von den Reaktionen | |
des Publikums dessen Rhythmen und Kompositionen vor. | |
Geisterbeschwörung von Nkisi | |
Aber nicht nur die Family, auch das Duo Studio Labour, bestehend aus | |
Farahnaz Hatam und Colin Hacklander, und Produzentin Nkisi huldigen ihn in | |
ihren Performances. Magische Momente schafft vor allem [3][Nkisi] analog | |
wie elektronisch, gehüllt in einen transparenten, floral bestickten | |
Überwurf und schwelendem Räucherwerk scheint sie singend und trommelnd und | |
mit Synthesizer und Drum-Computer als spirituelle Hilfsmittel den Geist | |
N’Diaye Roses beschwören zu wollen. Nicht ganz konsequent erscheint nach | |
all dem der zweite Clubabend, der rhythmischer, drumlastiger hätte | |
ausfallen können. | |
Am Sonntag schließlich fühlt es sich dann doch so an, wie man es von Berlin | |
Atonal kennt: Lichtblitze, Trockeneisnebel und flächiges Dröhnen von den | |
italienischen Musiker*innen Grand River und Abul Mogard erfüllen die | |
monumentale Kraftwerkhalle – passenderweise heißt die Komposition „In Uno | |
Spazio Immenso“. | |
Die italienische DJ und Vokalistin Sara Persico und die | |
französisch-japanische Klangkünstlerin Mika Oki erforschen mittels | |
Fieldrecordings das nie vollendete, von Oscar Niemeyer in Tripolis geplante | |
Kuppeltheater. Hinter sich haben sie einen riesigen Mond aufgehängt, der in | |
allen Farben in die Dunkelheit strahlt. | |
Dem dominikanischen Produzenten und Songwriter Kelman Duran und Frankie, | |
bekannt vor allem für ihre Zusammenarbeit mit [4][Künstlerin Anne Imhof], | |
genügen indes Laptop, Kontrabass und Gesang, um in himmlische Höhen zu | |
entführen. | |
26 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Julian Weber | |
Beate Scheder | |
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