# taz.de -- Kommentar Lewitscharoffs Halbwesen: Kulturkampf mit aller Härte | |
> Die Tirade der Büchnerpreisträgerin gegen die Reproduktionsmedizin ist | |
> nicht die erste dieser Art – und wird nicht die letzte bleiben. | |
Bild: Die heilige Dreifaltigkeit rettet das Abendland: Sarrazin, Lewitscharoff,… | |
„Darf ich nicht sagen, was ich denke?“ In Interviews heute gefällt sich | |
Sibylle Lewitscharoff in der Pose der unschuldig Verfolgten. Als ob die | |
Berliner Autorin nicht gewusst hätte, wie weit sie gegangen ist. Fraglich, | |
ob bei dieser Frau wirklich nur Sicherungen durchgebrannt sind, als sie | |
ihren Vortrag „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über | |
Geburt und Tod“ im Dresdner Staatsschauspiel vom Stapel ließ. Unter dem | |
beeindruckenden Bildungsgut loderte schon immer ein konservativer Kern. | |
Erst im letzten Jahr hatte sie die evangelische Kirche für die Neigung | |
kritisiert, sich „an alle Gegebenheiten der modernen Welt anpassen zu | |
müssen“. Theologinnen wie die Ex-Bischöfin Margot Käßmann schalt sie für | |
ihren „modernen Plapperatismus“. Spätestens als Lewitscharoff sagte: „Me… | |
Abscheu ist stärker als die Vernunft“, ging ihre Tirade so in die deutsche | |
Kulturgeschichte ein wie die Thesen von Thilo Sarrazin. Hier outete sich | |
eine christliche Fundamentalistin. | |
Natürlich darf Lewitscharoff jederzeit und überall ihre Skepsis gegenüber | |
der Reproduktionsmedizin äußern. Eine Schriftstellerin ihrer Sprachgewalt | |
sollte freilich auf die Worte achten. Inzwischen hat Lewitscharoff ihren | |
Satz erst bereut, dann zurückgenommen, nach dem sie Kinder, die dem | |
Nachwuchswunsch lesbischer Paare entspringen, als „Halbwesen“ und | |
„zweifelhafte Geschöpfe“ schmähte. Das ist zu akzeptieren. Ändert aber | |
nichts an dem Tonfall hetzerischer Antimoderne, der ihre restliche Rede | |
immer noch durchtränkt. Etwa wenn sie Patientenverfügungen als | |
„Blähvorstellung der Egomanen“ abtut. Oder das Autonomiebegehren der | |
Frauenbewegung als männernegierende „Selbstermächtigung“ kritisiert. | |
Anders denn als Geschenk aus „Gottes Hand“ scheinen Lewitscharoff Zeugung | |
und Geburt nicht denkbar. Schon dass die Büchnerpreisträgerin des Jahres | |
2013 das heikle Thema künstliche Befruchtung als „Fortpflanzungsgemurkse“ | |
bezeichnet, sprengt den Rahmen selbst einer Polemik gegen ein sensibles | |
Thema. | |
## Intellektuelles Armutszeugnis | |
Bei einer festlichen Sonntags-Rede zu Grundfragen der menschlichen Existenz | |
erst mit Sätzen dieses Kalibers aufzuwarten, und sie dann auf dem Wege | |
einer Echternacher Springprozession widerwillig zurückzunehmen, ist ein | |
intellektuelles Armutszeugnis allererster Rangordnung. Vielmehr offenbaren | |
diese Vokabeln und die Leichtfertigkeit, mit der Lewitscharoff sie | |
einsetzt, ein moralisches Desaster bei einer öffentlichen Intellektuellen, | |
von der man Differenzierungsvermögen erwarten kann. Sie offenbaren einen | |
Umgang mit Sprache, der einen das Fürchten lehrt. Und ein erschreckendes | |
Maß an Menschenverachtung. | |
Lewitscharoff hat in Dresden eine anfangs sensible Rede über den Umgang mit | |
dem Tod gehalten. Und sich an den Suizid ihres Vaters und den Tod ihrer | |
Großmutter erinnert. Die Verdrängung des Todes und die Verfügbarkeit von | |
Leben, die Frage nach der Künstlichkeit des Lebens, all das, was mit der | |
Reproduktionsmedizin einhergeht, ist jede kritische Nachfrage wert. Doch | |
daraus einen Menschenzüchtungs- und Selektionswahn à la Nazis zu | |
konstruieren ist perfide. | |
Kinderlose Paare, gleich welchen Geschlechts, die über künstliche | |
Befruchtung nachdenken, wollen die Welt nicht mit dem neuen Menschen Adolf | |
Hitlers beglücken. Wer diese Form der modernen Medizin „abartige Wege“ | |
nennt und sie damit in die Nähe der NS-Eugenik rückt, begibt sich | |
sprachlich selbst in deren Nähe. Von der impliziten Abwertung | |
schwul-lesbischer Regenbogenfamilien, die darin steckt, ganz zu schweigen. | |
## Reale Menschen diffamiert | |
Die fatale Ähnlichkeit mit einer überwunden geglaubten Rhetorik zieht sich | |
durch Lewitscharoffs fünfzig, christlich durchschwiemelte Minuten lange | |
Rede. Wer Kindern, die von einem Samenspender abstammen, das vollwertige | |
Menschsein abspricht, teilt Leben in lebenswertes und weniger lebenswertes. | |
Und er diffamiert damit real existierende Menschen empfindlich und herzlos. | |
Das hat weder etwas mit dem christlichen Menschenbild zu tun, das | |
Lewitscharoff für sich reklamiert. Noch kann man glauben, dass diese Frau | |
Schriftstellerin ist. Zeichnet diese Spezies nicht aus, dass sie Empathie | |
mit ausnahmslos allen ihren selbst erschaffenen Figuren zeigt? Und ähnelt | |
Lewitscharoff mit dieser Fähigkeit letztlich nicht selbst „Frau Doktor und | |
Herr Doktor Frankenstein“, als die sie die zeitgenössischen | |
Reproduktionsmediziner verunglimpft? | |
Lewitscharoffs Tirade ist ein weiteres Indiz für einen längst nicht | |
beendeten Kulturkampf. Den die Verfechter des Normalen, Natürlichen gegen | |
die Abweichler und Unreinen führen. Dass das biologistische Retrovirus am | |
Stammtisch grassiert, wundert niemanden. Dass es im Herzen der Intelligenz | |
nistet, macht einem dann doch Angst. Mit seinen Tiraden gegen Migranten gab | |
der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin den Auftakt. Mit seiner Attacke gegen die | |
Homosexualität vollendete der Kulturkritiker Matthias Matussek seine | |
Rückkehr zum Katholizismus. | |
Und nun will die ehemalige Trotzkistin Lewitscharoff als wiedergeborene | |
Christin die gottgegebene Kopulationsordnung wiederherstellen. So wie sie | |
die Erbsünde, das biblische Onanieverbot und das „natürliche Gezeugt- und | |
Geborensein“ der „Schöpfungsmythen“ beschwört. Man kann sich ausmalen, … | |
diese Rede nicht der letzte Aufstand gegen die fortschreitende Moderne | |
gewesen sein wird. | |
7 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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