# taz.de -- Nach Lewitscharoffs Dresdener Rede: Warum schweigen sie bloß? | |
> Sibylle Lewitscharoff drückt ihre Abscheu vor homosexuellen Familien aus. | |
> Das kann sie ruhig machen. Aber: Warum protestiert niemand? | |
Bild: Sibylle Lewitscharoff, die Martin Walser ihrer Zeit. | |
Über die Rede dieser Schriftstellerin, die durch den vorjährig an sie | |
verliehenen Büchner-Preis bekannte Sibylle Lewitscharoff, ist Hinlängliches | |
schon gesagt worden: von Dirk Knipphals etwa in der taz [1][unter dem Titel | |
„Eine schreckliche Tirade“], aber er war der Erste aus der Riege der | |
Schreiben- und Beschreibenden im Literaturmilieu, und er ist es bis jetzt | |
geblieben. Das ist das eigentlich Traurige an dieser Causa, das ist der | |
Skandal, den näher sich anzuschauen überhaupt nur lohnt. | |
Lewitscharoff lehrte uns, dass eine Autorinnenschaft, der „Sprachartistik“ | |
in größter und scheinneutraler Gewogenheit attestiert wird, sich stark auf | |
das Grundrecht der freien Meinungsäußerung berufen muss, um noch halbwegs | |
für satisfaktionsfähig gehalten zu werden. | |
Bei dieser bekennenden Schwäbin, die auf ihren gesunden Menschenverstand | |
viel hält und insofern auch auf ihre dialektal starke Färbung ihres | |
Sprechens, ist nun laut geworden, was neulich, nur heterosexuell-männlicher | |
und mit der Mentalität des Entnervten, auch aus Mathias Matussek in der | |
Welt herausbrach: Er findet die Geringschätzung Homosexueller in Ordnung, | |
bekennt sich zur „Homophobie“ und mochte damit nur sagen, was offenbar nie | |
gesagt werden durfte. | |
Die Suhrkamp-Autorin hingegen weidet sich am (Selbst-?)Ekel, der sie | |
befällt, denkt sie an Schwule und Lesben und Kinder und Sex und Samen und | |
derlei Dinge. [2][Hier ist es zu hören.] | |
## Wie Zombies | |
Sie darf natürlich sagen, was sie zu sagen hat. Selbst ein Thilo Sarrazin | |
und seine obskure These von der politischen Korrektheit, die alles – vor | |
allem ihn – unterdrücke, könnte nicht umhin, genau das zu bilanzieren: | |
Sibylle Lewitscharoff hat eine Bühne für ein Sprechen bekommen, das | |
repräsentativer nicht sein könnte. | |
Was sie aber sagt, muss umstritten sein. Recht eigentlich vertritt | |
Lewitscharoff aus der Position einer christlichen Fundamentalistin eine | |
Weltanschauung, die Kinder nur als Produkt eines Akts der Kopulation sich | |
vorstellen möchte. Die anderen, die etwa aus Samenbanken und | |
Reproduktionsmedizinischem erwachsen sind, kommen ihr halbgar, man könnte | |
sie paraphrasieren und sagen: wie Zombies vor. | |
Davon abgesehen, dass solche Auffassungen bis 1945 in Deutschland populär | |
waren im Hinblick auf Jüdisches, ja, dass überhaupt die Zuweisung der | |
Lewitscharoff auf das, was sie für gesund und seelisch stabil hält, an die | |
übelsten antijüdischen Anwürfe erinnert, bleibt doch, dass sie keineswegs | |
umdenken soll: Hat man ihre Romane, hat man ihr jemals bei Radiointerviews | |
oder bei Podien zugehört, durfte gewusst werden, dass sie nicht zur Schar | |
der Verständigen, der Gutmenschen, der Allesinkludierenden gehört. | |
Frau Lewitscharoff ist keine Opferversteherin, wahrlich nicht. Sie | |
operierte stets vom Plateau des hausfrauisch-angemessenen | |
Pfarrhausverstandes: Das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen, gell? | |
Verblüffend ist hier nur, dass noch nie jemandem aufgefallen ist, dass | |
hinter dieser Sprachartistin natürlich auch eine | |
pietistisch-fundamentalische Tochter im Geiste ... Ja, in wessen Ungeiste | |
eigentlich? | |
Auf Jesus Christus kann sie sich nicht berufen – das Liebesgebot verböte | |
das: Lewitscharoff mag sich auf klassisch-deutsche Christentugenden berufen | |
– in Wahrheit ist sie eine Blasphemikerin im Pelz baden-württembergischer | |
Anständigkeit. | |
## Wie einst Martin Walser | |
Robert Koall, Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, hat das Seinige in | |
bewegenden Zeilen [3][zu dieser Rede formuliert:] Spektakulär genug, dass | |
da ein Miteinladender den bürgerlichen Comment in im Wortsinn betroffener | |
Sprache kenntlich und öffentlich macht. Um an dieser Stelle zum Skandalon | |
zu kommen: Weshalb ist dieser Robert Koall der einzige | |
Kulturfunktionsträger geblieben, der gleich intervenierte? Weshalb blieb | |
das Parkett des Schauspielhauses in der sächsischen Hauptstadt still? Man | |
stelle sich vor, man hätte gegen das verächtende Sprechen der | |
Schriftstellerin gebuht und gepfiffen – wäre das nicht angemessen gewesen? | |
Es war offenbar ein wenig so wie damals, 1998, als Martin Walser in der | |
Frankfurter Paulskirche im Kontext von Auschwitz von „Moralkeule“ sprach | |
und das Auditorium schwieg, ja, gar zustimmte – was wiederum Ignatz Bubis, | |
Zentralratsvorsitzender der Juden in Deutschland, so einsam auf seinem | |
Stuhl hinterließ wie es irgend ging nach 1945: Da waren sie wieder, die | |
meckernden Kinder der Wehrmachtssoldaten, die endlich mal ein bisschen von | |
der Nachkriegsmoral Abstand nehmen durften. | |
Hannah Arendt sprach im berühmten TV-Gespräch mit Günter Gaus in den | |
sechziger Jahren über die Jahre der NS-Machtergreifung in Deutschland. Sie | |
bemerkte sehr konzis, nicht die Feinde seien das Problem gewesen bei den | |
ersten Aktionen der neuen Machthaber gegen die jüdischen Deutschen, sondern | |
die Freunde – die einen im Stich ließen und keine Solidarität übten. | |
## Das Fehlen der Freunde | |
Darauf kommt es eben immer an: Nicht, dass die Feinde, wenn man diesen | |
Begriff mal nehmen möchte, die Gegner sind und die eigene Haltung gar, wie | |
im NS, bis ins Existentielle bedrohen. Sondern die Freunde, die plötzlich | |
so weit sich entfernen, dass zwischen ihnen und einem selbst viel scharfer | |
Luftzug entsteht. | |
Bei den Fragen zum Holocaust war es immer das Problem, ob in Kreisen | |
evangelischer Akademien, Medien wie der Zeit oder in Kontexten des | |
Nachkriegsgedenkens, dass sie überwiegend für eines von „Juden und | |
Deutschen“ gehalten wurden – als ob die in Deutschland lebenden Juden keine | |
Deutschen gewesen seien. Nein, der Antisemitismus ist eine Frage der | |
Antisemiten, nicht der Juden. Die Frage der Homophobie kann nicht von | |
Homosexuellen, Schwulen, Lesben, Trans*, jedenfalls nichtheterosexuellen | |
(Machtmehrheits-)Menschen beantwortet werden; sie ist eine, mit der sich | |
der heterosexuelle Mainstream auseinanderzusetzen hat. | |
Schwul oder lesbisch zu sein, jedenfalls nicht den | |
bevölkerungsmehrend-kopulierenden Wünschen einer Autorin zu entsprechen, | |
ist keine Grille des Lifestyles, der Moden, der politischen Korrektheit. | |
Homosexuelle sind, objektiv, Opfer der heterosexuellen Machtmatrix, wie sie | |
Frau Lewitscharoff so eindrücklich formuliert hat: Wer ihr nicht folgt, | |
erntet Ekel und Hass. | |
Soll sie doch aufrechterhalten, was ihr niemand nehmen möchte: die eigene | |
Auffassung, und sei sie noch so herzlos und trübselig. Aber wo sind unsere | |
Gutmenschen – von der Literaturszene bis zu den Gewerkschaften –, die | |
sagen: Im Zweifelsfall sind unsere Kinder alle so, wie sie sie nicht gern | |
haben. Im Zweifel sind wir alle homo! | |
6 Mar 2014 | |
## LINKS | |
[1] /Rede-von-Sibylle-Lewitscharoff/!134309/ | |
[2] http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/dresdner_reden_2014/dresdn… | |
[3] http://www.staatsschauspiel-dresden.de/download/18985/offener_brief_von_rob… | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
Sibylle Lewitscharoff | |
Dresden | |
Robert Koall | |
Martin Walser | |
Russland | |
Normalität | |
Hassprediger | |
Matthias Matussek | |
Sibylle Lewitscharoff | |
Sibylle Lewitscharoff | |
Sibylle Lewitscharoff | |
Dresden | |
Sibylle Lewitscharoff | |
Büchnerpreis | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kritiker Walsers unterliegt vor Gericht: Aus dem Schneider | |
Das OLG Hamburg hat entschieden: Der Publizist Carl Wiemer darf Walser | |
nicht mehr NSDAP-Mitglied nennen, da kein Aufnahmeantrag von ihm vorliegt. | |
Kolumne Liebeserklärung: Eine-Frau-Tea-Party | |
Eva Herman kämpft gegen die „Gutmenschendiktatur“. Als Angestellte eines | |
russischen Senders verbreitet sie nun auch Propaganda im Sinne Putins. | |
Homophobie in Deutschland: Vater, Mutter, Kind | |
Für den Erhalt der Traditionsfamilie reproduziert die Mittelschicht alte | |
Vorurteile gegen Schwule und Lesben. Beim Kindeswohl endet die Toleranz. | |
Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen“: Ein nützlicher Idiot | |
Akif Pirinçci pöbelt in seiner Hassschrift gegen das „Gutmenschentum“ und | |
erreicht Bestsellerstatus. Im Hintergrund mischt die rechte Szene mit. | |
Kolumne Bestellen und Versenden: Männer der bedrohten Mitte | |
Es gibt zwei, drei, viele Matusseks. Sie alle hält ein erhabenes | |
Opfergefühl zusammen. Sie bekämpfen sexuelle Vielfalt, Individualismus und | |
Hedonismus. | |
Kommentar Lewitscharoffs Halbwesen: Kulturkampf mit aller Härte | |
Die Tirade der Büchnerpreisträgerin gegen die Reproduktionsmedizin ist | |
nicht die erste dieser Art – und wird nicht die letzte bleiben. | |
Reaktion auf Lewitscharoffs Rede: Ins Gesicht gespuckt | |
Kinder haben das Recht zu erfahren, woher sie stammen. Das bedeutet nicht, | |
dass dem Kinderwunsch nicht künstlich nachgeholfen werden darf. | |
„Klerikalfaschistische“ Dresdener Rede: Lewitscharoff bedauert ein bisschen | |
In einem Punkt entschuldigt sich die Schriftstellerin Lewitscharoff wegen | |
ihrer Aussagen zur Reproduktion. Selbst der Suhrkamp-Verlag rückt von ihr | |
ab. | |
Dramaturg Koall über seine Kritik: „Lewitscharoffs Thesen sind abstrus“ | |
Robert Koall schrieb den Offenen Brief an Sibylle Lewitscharoff. Besonders | |
ihr Sprachduktus sei gefährlich, ihr Gesellschaftsbild kleingeistig und | |
religiös-verbrämt. | |
Rede von Sibylle Lewitscharoff: Eine schreckliche Tirade | |
Künstliche Befruchtung sei „widerwärtig“, Onanie müsse verboten werden, | |
sagt die Büchnerpreisträgerin Lewitscharoff. Wie kommt sie bloß dazu? | |
Büchnerpreis für Sibylle Lewitscharoff: Ein literarisches „Krönchen“ | |
Sie ist wohl die sprachmächtigste Autorin Deutschlands, ihre Romane sind | |
von großem Sprachwitz. Nun hat Sibylle Lewitscharoff den Büchnerpreis | |
erhalten. |