| # taz.de -- Zwei neue Comics von Ed Piskor: Von Phreaking und Scratching | |
| > Ed Piskor blickt zurück in die USA der späten Siebziger: Mit der | |
| > Musikenzyklopädie „Hip Hop Family Tree“ und der furiosen Hacker-Story | |
| > „Wizzywig“. | |
| Bild: Plattenspieler, Graffiti und Grandmaster Flash: Das Cover der Originalaus… | |
| Das Erste, was Kevin Phenicle hackt, ist der Nahverkehr seiner Stadt. Er | |
| sammelt unabgeknipste Fahrscheine aus dem Müll am Busbahnhof, kriegt | |
| heraus, wo man die dazugehörigen sternförmigen Abknipsapparate kaufen kann, | |
| und kann ab sofort umsonst fahren. Dafür erzählt er einem Schaffner von | |
| einem erfundenen Astronomieprojekt in der Schule, dieses Social Engineering | |
| – das Beschaffen von Informationen durch Lügen und Manipulation – wird | |
| Phenicle in seinem weiteren Leben perfektionieren. | |
| Kevin Phenicle ist die Hauptfigur in Ed Piskors furioser Graphic Novel | |
| „Wizzywig“ und ein Hacker im klassischen Sinn: Er ist besessen davon, die | |
| zugrunde liegenden Mechanismen von Apparaten und Systemen zu verstehen, | |
| ihre Grenzen auszutesten und sie sich zunutze zu machen. Schon als kleiner | |
| Junge in den USA der späten 1970er ist er ein Sonderling, sein Hobby ist | |
| es, Schlösser zu knacken, und in der Schule wird er von den härteren Jungs | |
| verprügelt. | |
| Als Phenicle dann seinen ersten Computer bekommt und die Mailboxen des | |
| Proto-Internets erforscht, ist es um ihn geschehen. Er wird mächtiger, auch | |
| dreister und irgendwann unaufmerksam. Mit Anfang zwanzig befindet sich | |
| Phenicle auf der Flucht vor dem FBI, die er dank seiner Fähigkeiten auf | |
| mehrere Jahre ausdehnen kann. Schließlich landet er doch im Gefängnis. | |
| Dieser Weg wird in den vielen kurzen Kapiteln „Wizzywigs“ beschrieben, | |
| dazwischen collagiert Ed Piskor Außenblicke auf den Fall: die Rezeption der | |
| Medien, Schilderungen von Weggefährten oder auch einfach nur Vox Pops von | |
| unbeteiligten Menschen, die ihre Meinung zu alldem in einem Satz | |
| rausmelden. Eine Jetztzeit-Ebene zeigt den Kampf von Kevins einzigem | |
| Jugendfreund, der in seiner Radioshow immer wieder die Öffentlichkeit | |
| darüber informiert, dass Phenicle jetzt schon seit zwei, drei, vier, fünf | |
| Jahren ohne Prozess im Gefängnis sitzt. | |
| Denn „Wizzywig“ ist auch eine Anklage gegen die US-amerikanische Justiz und | |
| Gesellschaft. Angeprangert wird die überzogene Darstellung der Gefahren der | |
| frühen Cyberkriminalität durch den Staat und die Medien, aber auch die | |
| beinahe kafkaeske Behandlung Phenicles durch seinen Bewährungshelfer. Zum | |
| Schluss findet Ed Piskor sogar noch einen – dramaturgisch allerdings wenig | |
| galanten – Bogen zum Fall der inhaftierten Wikileaks-Informantin Chelsea | |
| Manning. | |
| Dabei ist Phenicle eine Mischung verschiedener realer Hacker. Unter ihnen | |
| Joe Engressia, der herausgefunden hat, dass man durch das Abspielen eines | |
| 2.600-Hertz-Tons umsonst telefonieren kann und als Mitbegründer des | |
| Phreaking gilt, jener inzwischen fast vergessenen Subkultur der | |
| Telefon-Hacker, die zwischen den 70ern und 90ern blühte. Auch Kevin Poulsen | |
| dient als Vorbild, der um 1990 herum mit Social Engineering und | |
| Technikwissen Telefongewinnspiele von Radiosendern manipulierte. Und vor | |
| allem Kevin Mitnick, der in den 90ern ebenfalls in Einzelhaft saß und für | |
| den es wirklich eine „Free Kevin“-Bewegung gab. | |
| So aufregend und fesselnd „Wizzywig“ narrativ ist, so unspektakulär ist es | |
| grafisch: Information ist der Ausgangspunkt von Ed Piskors Arbeit, er denkt | |
| vom Text her, den er dann mit Bildern illustriert. Der Seitenaufbau erfolgt | |
| nahezu immer im gleichen Bildraster, die Zeichnungen wirken statisch. | |
| Stilistisch orientiert sich der 1982 in Pittsburgh geborene Piskor an | |
| Autoren des klassischen US-amerikanischen Underground-Comix wie Robert | |
| Crumb und Harvey Pekar. Sex, Gewalt und menschliche Abgründe werden in | |
| „Wizzywig“ offen ausgestellt, viele Figuren sind von einer gewollten | |
| Hässlichkeit, sie haben wütende, verwüstete Gesichter. Nur Kevin Phenicle | |
| selbst bleibt mit seiner kleinen Nase und den leeren Augen den gesamten | |
| Comic über so ausdruckslos wie Hergés Tim. | |
| ## Aus der Bronx in die Welt | |
| Nun ist von Ed Piskor fast zeitgleich in Deutschland ein weiterer Band | |
| erschienen und auch dieser bringt uns zurück in die USA der späten 70er. | |
| „Hip Hop Family Tree“ dokumentiert die Anfänge dessen, was heute die | |
| einflussreichste Musik der westlichen Welt ist. Von den Anfängen auf den | |
| Straßenpartys der South Bronx schafft es die neue Rapmusik bald in die | |
| Clubs der New Yorker Schwarzen, geradezu epidemisch animiert sie unzählige | |
| Jugendliche dazu, selbst zu Rappern und DJs zu werden. | |
| Bald gibt es erste Stars wie Grandmaster Flash, Afrika Bambaataa oder | |
| Kurtis Blow, und schnell werden auch findige Schallplattenproduzenten auf | |
| die Musik aufmerksam. Sylvia Robertson gelingt es, mit „Rapper’s Delight“ | |
| den ersten Rap-Titel in der Billboard-Top-40 zu platzieren – wobei die | |
| performende „Sugarhill Gang“ bei weitem nicht die Street Credibility der | |
| eigentlichen Stars der Szene hatte. 1981, am Ende des Buchs, ist HipHop | |
| schließlich im Mainstream angekommen. | |
| Seinen Ursprung hatte „Family Tree“ [1][als wöchentliche Serie] auf dem | |
| Blog Boing Boing. Die einzelnen Episoden sind in sich abgeschlossene | |
| Schlaglichter auf verschiedene Protagonisten und Entwicklungen der Szene, | |
| eher enzyklopädisch gehalten und nicht unbedingt dafür gemacht, in einem | |
| Comic-Album am Stück gelesen zu werden. | |
| Das ist denn auch eine recht sperrige Angelegenheit: Schon auf den ersten | |
| Seiten wird der Leser mit Namen bombardiert, Chucky Sowieso kennt DJ Dings, | |
| dessen jüngerer Bruder als MC von den Funky Four plus One zu den The | |
| Furious Five gewechselt ist, während in Queens … es ist sehr komplex und | |
| leider wurde der namengebende Stammbaum, der die Verknüpfungen aller | |
| Protagonisten auf Boing Boing visualisiert, nicht ins Buch übernommen. | |
| „Family Tree“ ist das Herzensprojekt von Ed Piskor, der selber großer | |
| HipHop-Fan ist, weitere Bände sind bereits in Arbeit, und man spürt, wie | |
| viel er hineingesteckt hat: Die Zeichnungen, die mit ihrer | |
| expressionistischen Farbgebung und der Rasterdruck-Optik eine Reminiszenz | |
| an alte Superheldencomics darstellen, sind detailreich und | |
| wohldurchkomponiert. | |
| Piskor bietet immer wieder kluge Einblicke, etwa in die Geschäftspraktiken | |
| der Produzenten und Stars und die Nähe der Szene zu den Gangs, und auch | |
| schöne kleine Episoden werden erzählt, wie etwa Debbie Harry in Kontakt zur | |
| frühen HipHop-Szene geriet oder wie Afrika Bambaataa absichtlich falsche | |
| Labels auf seine Platten klebt, damit andere DJs nicht abgucken können, | |
| welche Tracks er auflegt. | |
| Doch vieles davon geht unter im allgemeinen Informationsgewitter, und die | |
| zahlreichen Wechsel in den Besetzungen der Crews sind für Außenstehende in | |
| etwa so spannend nachzulesen wie die Bewegungen auf dem europäischen | |
| Fußballtransfermarkt 1978/79. Auch bei den diversen Rapbattles mag der | |
| Funke nicht recht überspringen. | |
| So ist „Hip Hop Family Tree“ im Grunde ein viel größeres Nerdbuch als | |
| „Wizzywig“. Für Fans gibt es eine Million Sachen zu entdecken – für alle | |
| anderen bewahrheitet sich, dass über Musik zu reden so ist, wie zu | |
| Architektur zu tanzen. | |
| 1 Jun 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://boingboing.net/tag/hip-hop-family-tree | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Brake | |
| ## TAGS | |
| Comic | |
| Graphic Novel | |
| Hacker | |
| HipHop | |
| Cyberkriminalität | |
| Graphic Novel | |
| Graphic Novel | |
| Comic | |
| Comic | |
| Comic | |
| Comic | |
| Graphic Novel | |
| Kindheit | |
| Comic | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Comic-Trilogie „König der Fliegen“: Cool. Gefühlsgestört. Toxisch. | |
| Eine umwerfend düstere Suburbia-Tristesse voller kaputter Menschen: Auch | |
| der finale Band des „König der Fliegen“ entfaltet eine hypnotische | |
| Sogwirkung. | |
| Neues Comic „Das Nao in Brown“: Roboter-Toys und Gewaltfantasien | |
| Kitschig ist hier überhaupt nichts: Mit ungewöhnlicher Beiläufigkeit | |
| erzählt Glyn Dillon vom speziellen Leben seiner Hauptfigur Nao. | |
| Comics von Corben und Seeley: Wenn die Mumie erwacht | |
| Richard Corben zeichnet Monster. Die Heldin sieht aus wie eine ins | |
| Phantasmagorische gesteigerte Jayne Mansfield. Und Tim Seeley lässt Untote | |
| auferstehen. | |
| Comic-Salon in Erlangen: Der Zeichner im Schützengraben | |
| Mumins ziehen nicht in den Krieg! Menschen aber schon, und das beschäftigte | |
| den Comic-Salon in Erlangen. Preise gingen an Ralf König und Mawil. | |
| Comic „Vita Obscura“: Kanonenkugel im Kochtopf | |
| Diktatoren, Hochstapler und Exzentriker: Simon Schwartz sammelt Biografien | |
| in seinem unterhaltsamen Band „Vita Obscura“. | |
| Comic über West-Berlin in den 80ern: Zart gezeichnete Zeitreise | |
| „Gleisdreieck 1981“ ist ein elegischer Thriller über die politisierte | |
| Berliner Alternativszene. Und eine Hommage an eine untergegangene Stadt. | |
| Graphic Novels über Mobbing: Selbstbildnis als traurige Wurst | |
| Zwei Comics erzählen, wie sich Kinder das Leben zur Hölle machen. „Jane, | |
| der Fuchs und ich“ wählt leise Töne, „Antoinette kehrt zurück“ heftige. | |
| Mawil über Comicmachen und die DDR: „Das Timing stimmte einfach“ | |
| Der Comiczeichner Mawil über eine mädchenlose Jugend in der DDR, sein neues | |
| Buch „Kinderland“, Reisen mit dem Goethe-Institut und Tischtennis. | |
| Comiczeichner Robert Crumb wird 70: Sex, Drugs und 19. Jahrhundert | |
| Er wrang tatsächlich seine Seele aus. Heute feiert der Amerikaner Robert | |
| Crumb, Schöpfer der genialen Freak-Comics, seinen 70. Geburtstag. | |
| Grandmaster Flash über gutaussehende Tracks: "iPods machen mich nervös" | |
| Grandmaster Flash hat als DJ einst Hiphop miterfunden. Im Gespräch erzählt | |
| der Mann aus der Bronx über Gemeinsinn, Drogen und digitales Arbeiten. |