# taz.de -- Comic „Vita Obscura“: Kanonenkugel im Kochtopf | |
> Diktatoren, Hochstapler und Exzentriker: Simon Schwartz sammelt | |
> Biografien in seinem unterhaltsamen Band „Vita Obscura“. | |
Bild: Szene aus „Vita Obscura“. | |
Simon Schwartz ist der Biograf unter den deutschen Comiczeichnern. Zunächst | |
thematisierte er 2009 in seinem Erstling „drüben!“ das Zerwürfnis innerha… | |
seiner Familie in der ehemaligen DDR. „Packeis“, sein zweites Buch, war | |
dann eine Annäherung an das Leben des vergessenen schwarzen Polarforschers | |
Matthew Henson. Und nun, im neuen, querformatigen Band „Vita Obscura“ des | |
32-Jährigen tummeln sich 29 Kurzbiografien in Comicform, die er seit 2012 | |
für die Wochenzeitung Der Freitag schuf. | |
Den Reiz von „Vita Obscura“ macht aus, dass es keine Hauptfigur gibt, | |
sondern jedes Mal eine neue historische Persönlichkeit auf einer Seite | |
vorgestellt wird. Ein ganzes Leben im Zeitraffer also, konzentriert auf das | |
Wesentliche – und Skurrilste, denn all diese Charaktere sind, wie Matthew | |
Henson, mehr oder weniger von den Zeitläuften Vergessene, die zu Lebzeiten | |
auf unterschiedliche Weise „auffällig“ wurden. Manche haben Sinnvolles | |
geleistet, andere waren Diktatoren, Hochstapler oder einfach nur | |
Exzentriker, Fußnoten der Geschichte. | |
Simon Schwartz versucht den von ihm aus dem Dunkel gezerrten Gestalten mit | |
spitzem Zeichenstift die Essenz ihrer Vita zu entlocken. Die jüdische | |
Olympia-1936-Teilnehmerin Gretel Bergmann, die von den Nazis durch einen | |
(sich als Frau ausgebenden) Mann ersetzt wurde, befindet sich darunter, | |
aber auch die Hollywood-Schauspielerin Hedy Lamarr, die in ihrer zweiten | |
Karriere Erfinderin des W-LAN war und in dem Comicstrip zu Computerpionier | |
Alan Turing in Pin-up-Pose präsentiert wird. | |
Andere sind nur Insidern bekannt – etwa der blinde Musiker Moondog (siehe | |
Abbildung) mit der Aura eines Wikingers oder der englische Glücksspieler | |
John Law, der im 18. Jahrhundert Finanzminister von Frankreich wurde – er | |
brachte als einer der ersten Papiergeld in Umlauf, provozierte aber auch | |
eine frühe SpekKaderulationsblase in der Geschichte. | |
## Seite in Schieflage | |
Andere sind zufällige Statisten welthistorischer Ereignisse wie Wilmer | |
McLean, auf dessen Anwesen in Virginia der amerikanische Bürgerkrieg 1861 | |
mit einer Kanonenkugel im Kochtopf seinen Ausgang nahm. Vier Jahre später | |
endete er in seinem neuen Heim, in dem die Generäle den Friedensvertrag | |
unterzeichneten – bevor sie es plünderten. | |
Ein weiterer Reiz der Geschichten ist visueller Art: Schwartz entwickelt | |
für jeden seiner „Helden“ einen eigenen Seitenlook, der zur Story passt – | |
die Anordnung der Panels ist jedes Mal eine andere. Im Falle von Wilmer | |
McLean fotografierte er seine Zeichnungen ab, was den gelblichen Bildern | |
eine gewisse Südstaatenatmosphäre verleiht. | |
Eine Ganovenstory inszeniert der Autor in schwarz-weißen Filmstreifen. Bei | |
der Krankenschwester Violet Jessop, die mehrere Schiffbrüche überlebte, ist | |
die ganze Seite in Schieflage geraten. Die Eckdaten der Biografie Joseph | |
Pujols wiederum, legendär durch seine Furzkonzerte (die Marseillaise!), | |
werden der Begabung des sogenannten „Pétomanen“ gemäß in grünlichen Wol… | |
gerahmt. | |
Entsprechend wechselt Schwartz auch die Zeichentechnik – von Tusche zu | |
Buntstiften oder Acrylfarben, wählt das Papier sorgfältig aus (etwa grauer | |
Notizblock als Indiz für Papierknappheit), collagiert oder ahmt japanische | |
Tuschtechnik nach. In Imitation farbiger antiker Keramikreliefs porträtiert | |
er den persischen Religionsstifter Mani. Manche Seiten warten mit | |
zusätzlichen Gimmicks auf wie etwa Bastelbögen, andere mit 3-D-Look. | |
Trotz dieser Flatterhaftigkeit hat Schwartz’ Stil etwas Unverwechselbares. | |
Er erinnert an die 60er-Jahre-Ästhetik der „Mosaik“-Comics. Schwartz will | |
den Leser nicht emotional packen, er bevorzugt die distanzierte Betrachtung | |
– eine Einfühlung in die Charaktere wird nicht angestrebt. Sie wirken wie | |
künstlerisch überhöhte Figuren auf der Bühne. Neben subtiler Erkenntnis | |
steht eindeutig der Spaß im Vordergrund. | |
29 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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