# taz.de -- Neues Comic „Das Nao in Brown“: Roboter-Toys und Gewaltfantasien | |
> Kitschig ist hier überhaupt nichts: Mit ungewöhnlicher Beiläufigkeit | |
> erzählt Glyn Dillon vom speziellen Leben seiner Hauptfigur Nao. | |
Bild: Die erste Begegnung: Nao ist ganz hingerissen von Gregory. | |
Erste Dates können sicherlich optimaler verlaufen als dieses hier. Er, | |
Gregory, ein Waschmaschineninstallateur mit Halbglatze, Vollbart und | |
Bärenfigur, ist schon angetrunken, als sie, Nao, eine zierliche Designerin, | |
in den Pub kommt. Aufgrund ihrer Herkunft fängt er an, über die japanische | |
Frau an sich zu reden. Entweder sei diese eine unabhängige Rebellin oder | |
ein Mauerblümchen. | |
„Ein Mauerblümchen?“, fragt Nao. Ja, wie Hello Kitty, sagt Gregory und hä… | |
Naos Geldbörse hoch, die wie ein Cartoongesicht aussieht. „Unfähig sich zu | |
artikulieren: Weil sie keinen Mund hat.“ Nun legt Nao, die das Date im | |
Übrigen mit viel Aufwand angebahnt hatte, los: Erstens habe Hello Kitty | |
laut Hersteller Sanrio sehr wohl einen Mund, man könne ihn nur unter dem | |
Fell nicht sehen. Zweitens habe Kittys männliches Gegenstück Dear Daniel | |
ebenfalls keinen sichtbaren Mund. Und drittens sei das Gesicht auf der | |
Geldbörse nicht Hello Kitty, sondern Lucky Lune. Danach hat Gregory erst | |
mal keinen Mund mehr. | |
Die Szene fasst Glyn Dillons Comic „Das Nao in Brown“ ganz gut zusammen. | |
Kitschig ist hier überhaupt nichts, direkt zum Ziel geht es selten, und die | |
Charaktere wirken alle ein wenig nerdig und versponnen. Hauptfigur Nao | |
Brown, Mitte 20, lebt in London in einer Zweier-WG, jobbt in einem Laden | |
für Roboterspielzeug und geht hin und wieder zu Meditationsübungen in ein | |
buddhistisches Zentrum, wo sie mit älteren Männern Kreise auf Papier malt. | |
Nao stellt sich zudem in Tagträumen vor, wie sie Leuten um sich herum mit | |
einem Stift die Augen aussticht, sie vor die U-Bahn wirft oder ihnen das | |
Genick bricht. | |
Was zunächst ein amüsanter „Ja, wer hat das nicht, vor allem im | |
Berufsverkehr“-Effekt ist, stellt sich in Naos Fall als ernstzunehmende | |
Krankheit heraus. Sie leidet unter einer Zwangsstörung, kann ihren Gedanken | |
nicht entkommen. Die permanente Belastung führt wiederum zu Schüben von | |
Selbstverachtung und Schutzbedürfnis. „Ich bin gut“, sagt Nao sich immer | |
wieder. „Mama weiß, ich bin gut.“ | |
## Die Zwangsstörung ist nur eine Eigenschaft | |
Dillon macht diese Zwangsstörung nicht zum Hauptgegenstand, sie ist eine | |
Eigenschaft, genau wie Naos Liebe zur japanischen Zeichentrickfilmserie | |
„Ichi“. Dennoch schaffen Naos Zwangsgedanken Distanz, denn wirklich | |
nachempfinden lassen sich ihre Gefühle wohl nur, wenn man selbst schon mal | |
Vergleichbares erlebt hat. Auch die andere Figur, Gregory, bleibt bis zum | |
dramatischen letzten Viertel des Buches ein vielschichtiges Rätsel zwischen | |
Waschmaschinen und Buddhismus, regelmäßigen Pub-Besuchen und | |
Hermann-Hesse-Zitaten. | |
„Das Nao in Brown“ zeichnet eine ungewöhnliche Beiläufigkeit aus. Dinge | |
passieren, Gespräche werden geführt, Gedanken gedacht, einiges davon führt | |
ins Nichts, manches zu neuen Entwicklungen – wie im echten Leben. Auch auf | |
der Bildebene schweift Dillons Blick unentwegt umher, fängt Details und | |
Nebensächliches ein. Seine Bilder sind detailreich eingerichtet und | |
filigran im Strich, dennoch wirken sie skizzenhaft leicht, was von der | |
zarten, zurückgenommenen Kolorierung mit Wasserfarben noch unterstützt | |
wird. Die Seitenlayouts sind vielfältig, auch auf den dritten Blick lassen | |
sich noch Kniffe in der Komposition entdecken. | |
Man kann spüren, dass Glyn Dillon viele Jahre beim Fernsehen als | |
Storyboardzeichner gearbeitet hat, unter anderem mit dem Gorillaz-Designer | |
Jamie Hewlett. Das sei ein gutes Training gewesen, sagt Dillon: „Man lernt, | |
sehr schnell zu zeichnen. Gleichzeitig ist das Storyboard nur ein Schritt | |
von vielen. Das gibt einem mehr Freiheiten, weil man sich nicht um jedes | |
Detail kümmern muss.“ | |
## Verschlungene kreative Pfade | |
Vor rund zwanzig Jahren hatte Dillon, Jahrgang 1971, schon einmal als | |
Comiczeichner gearbeitet. „Das Nao in Brown“ ist nun sein erstes | |
Autorencomic, vier Jahre arbeitet er daran. Dabei waren viele der kreativen | |
Entscheidungen Dillons so verschlungen wie die Pfade von Nao und Gregory, | |
die nach dem missratenen ersten Date schließlich doch noch zusammenfinden. | |
Anfangs war Gregory die Hauptfigur, schon damals als Waschmaschinenmonteur | |
– weil Dillons einjähriger Sohn Angst vor der offenen Waschmaschinentür | |
hatte, die ein großes dunkles Loch offenbarte. Nao kam zunächst nur als | |
Love Interest hinzu. Dass sie Halbjapanerin ist, liegt wiederum am | |
Wortspielpotenzial von „Nao“, das auf Englisch wie „now“ klingt. Da Dil… | |
es aber anmaßend gefunden hätte, einen komplett japanischen Charakter zu | |
erschaffen, erhielt Nao eine Mutter aus London-Paddington. | |
Erst als Dillon erfuhr, dass seine Frau als Kind und Jugendliche ebenfalls | |
unter Zwangsstörungen – wenn auch anderen – gelitten hatte und er sich | |
umfassend damit auseinandersetzte, verschob sich sein Fokus auf Nao. Wie | |
behutsam Dillon mit dem Thema umgeht, zeigt sich etwa darin, dass Naos | |
Therapiebesuche komplett ausgespart werden. Für viele | |
Zwangsstörungsbetroffene sei die Krankheit ein schambesetztes Thema, das | |
sie lieber geheim halten, sagt Dillon: „Und ich glaube, Nao hätte es nicht | |
gewollt, dass man sie bei der Therapie zeigt, also kommt es im Buch nicht | |
vor.“ | |
So ist „Das Nao in Brown“ ein sehr intimes Comic geworden, in dem Dillon | |
noch viele weitere Dinge aus seinem eigenen Leben fiktiv verarbeitet hat – | |
auch er besuchte in Westlondon Meditationsstunden in einem buddhistischen | |
Zentrum und gestaltete einst eine Spielzeugfigur. Dass er für sein Buch | |
beim Comicfestival von Angouleme im vergangenen Jahr den Spezialpreis der | |
Jury gewonnen hat, überraschte ihn. „Ich habe nicht versucht, viele | |
Menschen zu erreichen“, sagt er. „Das Buch habe ich eigentlich nur für eine | |
einzige Person gemacht.“ | |
12 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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