Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Analyse Sunniten im Irak: Entfremdet von Bagdad
> Heute rächt sich, dass die irakische Regierung jahrelang Sunniten
> vernachlässigt hat. Verlierer sind die USA und der Iran. Darin steckt
> auch eine Chance.
Bild: Von Sunniten freundlich empfangen: Isis-Kämpfer in Mossul.
KAIRO taz | Es hat nur ein paar Tage gedauert und nichts ist im Irak mehr
wie zuvor, mit weitreichenden Konsequenzen für die nahöstliche
Nachbarschaft. Nach sporadischen Gefechten ist Mossul in die Hände der
radikalen Islamisten der Isis gefallen, eine Stadt größer als Wien, München
oder Hamburg. Zwei Armeedivisionen von 30.000 Mann sind zusammengebrochen
und haben die Stadt fast kampflos den höchstens 3000 Isis-Kämpfern
überlassen.
Der Isis-Erfolg bei einem derartigen Zahlenverhältnis lässt sich nur
erklären als Ergebnis einer jahrelangen Entfremdung der Sunniten von der
Zentralregierung in Bagdad, in welcher der Premier Nour El-Maliki mit
anderen radikale schiitischen Parteien den Ton angibt. Die Sunniten, einst
unter Saddam Hussein die Elite des Landes, sind im politischen System des
heutigen Irak vollkommen außen vor gelassen.
Friedliche Proteste der Sunniten, die forderten, dies zu ändern, wurden
ignoriert. El-Maliki hatte Angst, den Sunniten auch nur einen Finger zu
reichen - aus Sorge, sie könnten in Bagdad dann wieder die ganze Hand
nehmen. Selbst als diese sich mit Waffengewalt zurück meldeten und eine
Anschlagsserie allein im Mai 900 Menschen das Leben kostete, glaubte
El-Maliki noch, in Bagdad den Kopf weiter in den Sand stecken zu können.
Dass die Isis-Kämpfer in den sunnitischen Gebieten teils mit offenen Armen
aufgenommen wurden, hat viel mit der politischen Marginalisierung der
Sunniten im Irak zu tun. Ganz offensichtlich konnten sich die Isis-Kämpfer
auch darauf verlassen, dass trotz aller ideologischen Unterschiede die
sunnitischen Ex-Offiziere der einstigen Saddam-Armee ihnen helfend unter
die Arme greifen. Vielleicht sogar mehr als das. Manche ihrer militärischen
Bewegungen erinnern eher an eine militärisch stabsmäßig geplante Offensive
als an das Vorrücken einer Rebellenarmee. Sie tragen die Handschrift
ehemaliger Saddam-Armeeoffiziere.
## Eine Stadt voller arbeitsloser Offiziere
Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass dies ausgerechnet in Mossul
geschehen ist. Die Stadt war stets das Hauptrekrutierungsgebiet für die
Offiziere der Saddam-Armee. Insofern sind die heutigen Ereignisse auch eine
Konsequenz der damaligen Entscheidung der US-Invasoren, diese Armee
aufzulösen. Was macht eine Stadt voller arbeitsloser, politisch
marginalisierter, aber gut ausgebildeter Armeeoffiziere, wenn die
verhasste, von Schiiten dominierte neue Truppe herausgefordert wird?
Mit dem de facto Zusammenbruch des offiziellen Militärs entsteht die Frage,
wer nun dieses enorme Sicherheitsvakuum ausfüllen kann. Wer kann sich im
Irak überhaupt noch effektiv den Isis-Kämpfern entgegenstellen?
Nur zwei Kräfte kommen dafür in Frage: die kurdischen Peschmerga-Kämpfer
und schiitische Milizen. Einer der Peschmerga-Sprecher, Brigadegeneral
Halgord Hekmat, hat bereits öffentlich erklärt, dass der Kollaps der
irakischen Armee die kurdischen Kämpfer praktisch dazu zwingt, aktiv zu
werden. Und auch der in politischer Versenkung geglaubte Schiitenprediger
Muqtada Sadr hat angekündigt, angesichts der Schwäche der Armee wieder
seine berüchtigten Milizen zu mobilisieren. Damit wäre der Irak den alten
Bürgerkriegszeiten und der Drohung der Dreiteilung des Landes wieder
gefährlich nahe gekommen.
## Blick auf Bagdad die Kämpfer
Es gibt zwei Entwicklungen, die man nun beobachten muss: Die erste betrifft
die Zentralregierung in Bagdad. Dort ist Nour El-Maliki durch die
Ereignisse der letzten Tagen ernsthaft angezählt. Der Vormarsch der
Isis-Kämpfer ist praktisch mit einem sunnitischen Aufstand gegen Bagdad
verschmolzen. Erkennt man das Ganze nicht nur als eine Aufgabe der
Sicherheitskräfte sondern als politische Herausforderung an, muss ein
Post-El-Maliki-Kandidat gefunden werden, der seine Hand auch wieder in
Richtung der Sunniten ausstrecken kann. Das wäre die beste ISIS-Bekämpfung.
Wenn es dafür nicht schon zu spät ist.
Das zweite Augenmerk muss den Sunniten selbst gelten. Die Zusammenarbeit
zwischen radikalen islamistischen Isis-Kämpfern und den Ex-Armee-Offizieren
hat sich jetzt als ein Erfolgsrezept erwiesen und macht die Stärke des
militärischen Vormarsches aus. Sie eint der Wunsch nach einem Erstarken der
Sunniten im Irak. Aber während den einen erklärtermaßen ein islamisches
Kalifat vorschwebt, entstammen die andern dem Gedankengut des säkularen
arabischen Nationalismus. Hier sind die Bruchlinien vorgezeichnet.
Überdeckt werden dürften diese allerdings dadurch, dass Isis nun Unmengen
an Waffen und auch an Geld erbeutet hat. Alleine in Mossul sollen sie
Banknoten im Wert 480 Millionen Dollar erbeutet haben. Besonders bei den
sunnitischen Stammesführern außerhalb der Städte dürfte sich da einiges an
Loyalität erkaufen lassen. Diese werden ohnehin völlig pragmatisch
reagieren und sich dem Stärkeren anschließen. Und das ist aus deren Sicht
im Moment sicherlich nicht die Zentralregierung in Bagdad, die sie ohnehin
jahrelang in der Luft hat hängen lassen.
## Türkei fürchtet starke Kurden
Bleibt die Frage, wie sich die neuen gemischten Karten im Irak auf die
Nachbarschaft auswirken werden? Die Türkei dürfte alles andere als
glücklich sein mit dem Vormarsch der Isis-Kämpfer in seiner unmittelbaren
Nachbarschaft. Genauso wenig dürfte die Türkei begeistert sein, wenn die
kurdischen Peschmerga nun das Sicherheitsvakuum füllen und gegen Isis
vorgehen. Denn am Ende dürften die Kurden für diesen Dienst von der
Zentralregierung in Bagdad einen Preis verlangen, der sie stärken und damit
die Türkei beunruhigen wird.
Der Iran gehört neben den USA zu den großen Verlierern der letzten Tage im
Irak. Entweder etabliert sich in Bagdad eine Regierung, die auch einen
Ausgleich mit den Sunniten sucht, und zwar keine iranische Marionette wie
die heutige El-Maliki-Regierung. Oder Teheran zahlt den Preis dafür, dass
es in Bagdad die Zügel in der Hand behält: Wenn der Irak auseinanderbricht,
schwindet damit ebenfalls der iranische Einfluss, weil sich dieser dann auf
die schiitischen Gebiete reduziert.
Ironischerweise könnte der Isis-Vormarsch sogar das amerikanisch-iranische
Verhältnis verändern – schließlich sitzt man in Sachen Isis in Washington
und Teheran in einem Boot. Dagegen stehen allerdings die Widersprüche der
beiden Staaten in Syrien, wo einer die Rebellen und der andere Assad
unterstützt.
Aber vielleicht ist der Isis-Vormarsch im Irak am Ende auch ein Weckruf
dafür, sich zur Beendigung des syrischen Bürgerkrieges von amerikanischer,
türkischer und iranischer Seite zusammenzuraufen. Dann könnte man den
letzten Tagen am Ende gar etwas Positives abgewinnen. Sie haben allen
Seiten klar gemacht, dass es so nicht weitergehen kann.
12 Jun 2014
## AUTOREN
Karim Gawhary
## TAGS
Irak
„Islamischer Staat“ (IS)
Kämpfe
USA
Schwerpunkt Iran
Schwerpunkt Syrien
Schiiten
Mossul
USA
Irak
Fundamentalismus
Kämpfe
Kurden
Mossul
Irak
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kampf gegen den IS: Mehr US-Militär im Irak
Die USA wollen nach den Erfolgen des IS mehr irakische Kämpfer ausbilden.
Die Terrormiliz erobert derweil offenbar die libysche Stadt Sirte.
Kommentar Islamisten im Irak: Selbstgemachter Krieg
Der irakische Regierungschef Nuri al-Maliki hat mit seiner verfehlten
Politik die Extremisten starkgemacht. Aber nicht nur er hat versagt.
Mossul im Nordirak: Die gequälte Stadt
Schikanen und Vernachlässigung durch die Regierung bereiteten den Boden für
die Extremisten. Vor allem im nordirakischen Mossul.
Kämpfe im Irak: Aufruf zum Widerstand
Die Lage im Irak eskaliert, das Land droht zu zerbrechen. Die USA halten
sich militärische Optionen offen. Auch der iranische Präsident Ruhani will
helfen.
Kommentar Entwicklung im Irak: Isis darf nicht siegen
Was im Irak passiert, ist eine Katastrophe für die Weltgemeinschaft. Es
muss über neue strategische Partnerschaften nachgedacht werden.
Kämpfe im Irak: Isis, wer ist das?
Die Organisation Islamischer Staat im Irak und Syrien (Isis) ist
fundamentalistisch. Ihr Ziel: die Wiederrichtung eines islamischen
Kalifats.
Umkämpfte Gebiete im Irak: Dschihadisten rücken weiter vor
Die Islamisten im Irak kündigen an, eine Schlacht um Bagdad zu führen. Die
Regierung berät über einen möglichen Notstand. Und bittet Washington um
Hilfe.
Kämpfe im Irak: Gemeinsam gegen Dschihadisten
Die Bedrohung durch Isis-Kämpfer macht aus Rivalen Verbündete. Irakische
Soldaten und kurdische Milizen stemmen sich gegen den Vormarsch.
Kämpfe im Irak: „Ernste und tödliche“ Bedrohung
Immer weiter rücken dschihadistische Kämpfer im Irak vor. In Mossul wurden
türkische Diplomaten als Geiseln genommen. Auch die Stadt Tikrit wurde
erobert.
Kämpfe im Irak: Dschihadisten rücken vor
Hunderttausende Iraker fliehen aus der von Islamisten besetzten Stadt
Mossul. Mindestens einen weiteren Ort sollen die radikalen Kämpfer erobert
haben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.