# taz.de -- Islamwissenschaftler über Isis im Irak: „Sie werden keinen Staat… | |
> Die Dschihadisten würden im Irak keinen Staat aufbauen können, sagt | |
> Forscher Guido Steinberg. Aber es könnte einen langen Bürgerkrieg geben. | |
Bild: Schlagkräftiges Schreckensregiment: Propagandafoto der Isis | |
taz: Herr Steinberg, Isis hat Mosul und andere irakische Städte | |
eingenommen. Doch Falludscha ist bereits im Januar gefallen. Auch die | |
syrische Stadt Raqqa ist schon lange unter Kontrolle der Dschihadisten. Wie | |
sieht der Alltag unter Isis-Herrschaft aus? | |
Guido Steinberg: Isis setzt salafistische Verhaltensvorschriften | |
unnachgiebig und umfassend durch. Sie achten darauf, dass Frauen sich voll | |
verschleiern und dass nicht geraucht oder Musik gespielt wird. Eine solche | |
Herrschaft wird schnell zu einem Schreckensregiment, denn die strikte | |
Anwendung salafistischer Vorschriften geht mit Willkür einher. Es gibt | |
Berichte über Hinrichtungen, Folter und Übergriffe gegen die | |
Zivilbevölkerung. Das gilt für einige Viertel von Falludscha, Raqqa und | |
kleinere Orte in Syrien. In Mosul wird sich die Isis-Herrschaft zunächst | |
auf eine Präsenz in den Straßen beschränken, da die Zahl der Isis-Kämpfer | |
klein ist. | |
Die eroberten Gebiete sind fast ausschließlich sunnitisch-arabisch geprägt. | |
Begrüßt die Bevölkerung dort den Feldzug der sunnitischen Extremisten? | |
Die meisten irakischen Sunniten fürchten Isis. Viele erinnern sich an die | |
Zeit, in der die Vorgängerorganisation „al-Qaida im Irak“ ein ähnliches | |
Schreckensregiment in kleineren Orten im Westirak führte. Unter den Opfern | |
waren auch Sunniten aus konkurrierenden aufständischen Organisationen, | |
Sicherheitskräfte und angebliche Kollaborateure. Die Sympathien für Isis | |
sind deshalb schwach ausgeprägt. Das wird allerdings überschattet von einem | |
ausgeprägten Hass auf die Regierung in Bagdad. | |
Ministerpräsident Nouri al-Maliki stützt seine Macht auf schiitische Kräfte | |
im Land. Viele sunnitische Iraker fühlen sich von Bagdad vernachlässigt, so | |
dass Isis sich als Gegenmacht positionieren konnte. Trägt die Regierung | |
eine Mitschuld an der Ausbreitung der Dschihadisten? | |
Die Regierung trägt die Hauptschuld. Mit sinkendem Einfluss der Amerikaner, | |
besonders seit deren Abzug 2011, hat die Regierung Maliki immer | |
unverblümter versucht, Sunniten und Säkularisten von der Macht | |
fernzuhalten. Das zeigte sich deutlich nach den Wahlen 2010: Die von | |
Sunniten und Säkularisten dominierte „Irakische Liste“ hatte gewonnen, | |
wurde bei der Regierungsbildung aber übergangen, so dass Maliki | |
Ministerpräsident blieb. Als die Amerikaner dann abzogen, verfolgte die | |
Regierung führende sunnitische und säkularistische Politiker. Die | |
scheinbare Stärke von Isis ist eine Schwäche der Regierung. | |
Sind es nur Isis-Kämpfer, die momentan vorstoßen? | |
Nein. Es nehmen auch andere Gruppierungen teil, zum Beispiel eine | |
Vereinigung ehemaliger Baathisten unter der Führung des Saddam | |
Hussein-Vertrauten Izzat Ibrahim ad-Duri und Splitter anderer | |
aufständischer Gruppierungen. | |
Wie passen sunnitische Extremisten und baathistische Überbleibsel aus | |
Hussein-Zeiten zusammen, die klar in einer säkular-nationalistischen | |
Tradition verankert sind? | |
Die Baath-Diktatur hatte das sunnitisch-islamische Element schon Ende der | |
90er Jahre gestärkt, um die eigene Machtbasis auszuweiten. Nach dem | |
Irakkrieg 2003 erschien es vielen ehemaligen Angehörigen der Baath-Partei, | |
der Armee und der Sicherheitskräfte nicht als Widerspruch, für | |
islamistische Gruppen zu kämpfen. Armee und Baath-Partei waren aufgelöst | |
worden, so dass viele keine andere Möglichkeit sahen zu überleben. Die | |
Zusammenarbeit von Islamisten und Teilen des alten Regimes setzt sich nun | |
fort, was eine weitere Erklärung für die Stärke von Isis ist. Viele der | |
Kämpfer haben eine profunde militärische Ausbildung genossen. | |
Es ist von 3.000 bis 12.000 Isis-Kämpfern die Rede. Woher kommen diese | |
Zahlen? | |
Zahlen sind ein schwieriges Thema. Sicher ist, dass wir es mit mehreren | |
Tausend, meines Erachtens aber nicht mit mehr als 10.000 Mann zu tun haben. | |
Viele Kommentatoren unterscheiden allerdings nicht zwischen Isis im Irak | |
und in Syrien. Wenn man die Syrer hinzuzählt, bewegt man sich Richtung | |
20.000. Das sind aber sehr grobe Schätzungen, die ich auch nur auf eine | |
Gesamtschau der Literatur, die arabische Presse und Eindrücke vor Ort | |
stütze. Wichtig ist, dass wir es mit keiner starken Organisation zu tun | |
haben. | |
Zum Vergleich: Wie viele Mitglieder hat die irakische Armee? | |
Mindestens 500.000, wobei die Sicherheitskräfte schon einbezogen sind, | |
nicht aber die paramilitärischen Einheiten der Geheimdienste und irreguläre | |
Einheiten. Allerdings sind die Elitetruppen vor allem rund um die | |
Hauptstadt stationiert, um den Regierungsapparat zu schützen. Die Armee in | |
den eroberten Gebieten war auch deshalb so schwach, weil das nicht die | |
mehrheitlich schiitischen, loyalen Einheiten waren, mit denen Isis bei | |
einem Angriff Bagdads zu tun haben würde. | |
Verschiedene extremistische Websites sprechen im Namen von Isis. Auch | |
treten verschiedene Personen als Sprecher auf. Woher kommen die | |
Informationen, die wir über Isis haben? | |
In der dschihadistischen Bewegung macht Isis mit Abstand die beste | |
Medienarbeit. Das geht zurück auf die irakische al-Qaida, die ihre | |
Medienarbeit 2004 professionalisierte. Heute verbreitet Isis Informationen | |
vor allem über soziale Medien. Alle Aktivitäten werden gefilmt und von | |
einer Medienabteilung verarbeitet. Dann wird das Material von Unterstützern | |
weltweit verbreitet. Auf Twitter gibt es auch einen offiziellen Account | |
„Islamischer Staat“. Wir müssen aber vorsichtig sein, weil durch die | |
professionelle Medienarbeit das Bild vermittelt wird, dass Isis der einzige | |
Akteur ist. | |
Wie kam es zur Metamorphose der ursprünglichen al-Qaida? Anfangs war das | |
ein Netzwerk, das einzelne Anschläge verübte. Isis scheint eine | |
schlagkräftige Truppe zu sein. | |
Man muss sich al-Qaida als Netzwerk miteinander verbündeter, aber | |
unabhängiger Organisationen vorstellen: die al-Qaida-Spitze in Pakistan, | |
die Regionalorganisationen in Algerien und im Jemen und die Organisation im | |
Irak. Diese wurde 2000 unter anderem Namen gegründet und hat enorm von der | |
Präsenz der Amerikaner im Irak profitiert. Von einer kleinen | |
terroristischen Gruppierung, die einzelne Anschläge verübte, entwickelte | |
sie sich zu einer Gruppierung, die einen Guerilla-Krieg führte. 2004 | |
benannte sie sich in „al-Qaida im Irak“ um – nicht weil sie sich Osama bin | |
Ladin unterstellen wollte, sondern weil sie so auf Rekruten und Geld aus | |
Saudi-Arabien, Kuweit, Qatar und den Emiraten Zugriff hatte. Die irakische | |
al-Qaida war schon immer eine unabhängige und sehr starke Teilorganisation. | |
Jetzt geht sie sogar fast konventionell militärisch vor. Eine Metamorphose | |
der irakischen al-Qaida gibt es aber nicht; die äußeren Bedingungen haben | |
sich geändert. | |
Ist die derzeitige Stärke von Isis auch auf die Kämpfe in Syrien | |
zurückzuführen, in denen die Organisation eine zentrale Rolle spielt? | |
Die Lage im Irak wäre auch ohne Syrien eskaliert. Der Krieg hat eher zur | |
Schwächung von Isis geführt. Die Organisation bestand – unter anderem Namen | |
– schon seit 2003 aus Syrern, Saudis und anderen ausländischen Kämpfern. | |
Bis Ende 2011 gingen sie noch in den Irak, seither zum Teil aber nach | |
Syrien. Der Bürgerkrieg dort führt also zu einem Abzug von Ressourcen. Erst | |
wenn die Zentralregierung in Bagdad eine Offensive gegen ISIS startet, wird | |
Syrien als Rückzugsgebiet von Bedeutung sein. | |
Warum stößt Isis derzeit vor allem im Irak vor? Liegt ein Marsch auf | |
Damaskus nicht näher als ein Marsch auf Bagdad? | |
Isis ist eine irakische Organisation. Der Name des Anführers – al-Baghdadi, | |
also: „der, der aus Bagdad stammt“ – ist Programm. Abu Bakr al-Baghdadi | |
geht es vor allem um einen islamischen Staat in seinem Heimatland. Er | |
versucht jetzt, im Norden des Irak und den angrenzenden syrischen Gebieten | |
eine Machtbasis aufzubauen, will dann Bagdad, dann Damaskus und schließlich | |
Jerusalem einnehmen. | |
Das klingt nicht sehr realistisch. Vorstellbar ist aber ein neuer | |
sunnitisch-arabischer Staat auf syrischem und irakischem Territorium. Das | |
würde das Ende der alten nationalstaatlichen Ordnung im Nahen Osten | |
bedeuten. | |
Es wird den aufständischen Kräften nicht gelingen, einen funktionierenden | |
Staat aufzubauen. Was ich mir aber vorstellen kann, ist eine Zone, in der | |
staatliche Gewalt vollkommen zusammenbricht. Im schlimmsten Fall werden wir | |
es mit einem permanenten Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen | |
Gruppierungen zu tun haben. | |
Könnte die Lage im Irak die USA zwingen, in der Region und somit auch in | |
Syrien einzugreifen? | |
Die USA werden wohl in absehbarer Zeit – wenn auch nicht sofort – | |
intervenieren. Wenn die irakische Regierung die Situation nicht unter | |
Kontrolle bringt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Amerikaner Isis | |
als so bedrohlich ansehen, dass sie im Nordirak und vielleicht auch in | |
Syrien Kampfdrohnen einsetzen – so wie sie das in Pakistan, Jemen und | |
Somalia tun. | |
Liegt in dieser Eskalation vielleicht auch eine Chance für Syrien? Erstmals | |
seit Ausbruch des Bürgerkriegs erleben wir, dass die Regionalmächte Iran, | |
Saudi-Arabien, Türkei und auch die USA gemeinsame Interessen haben. Kann | |
das Bewegung in den festgefahrenen Syrienkonflikt bringen? | |
Ich denke nicht. Die Iraner versuchen uns ja davon zu überzeugen, dass das | |
einzige Problem in der Region der islamistische Terror ist. Das | |
Assad-Regime ist aber genau so ein Problem und hat – weil es über die | |
überlegenen Machtmittel eines Staates verfügt – sehr viel mehr Menschen auf | |
dem Gewissen als Isis. Vielmehr stärkt der Aufstieg von ISIS Assad, sowohl | |
diplomatisch als auch militärisch. Für eine Beruhigung der Lage in Syrien | |
müssten sowohl Isis und andere dschihadistische Gruppierungen geschlagen | |
werden als auch das Assad-Regime abtreten. | |
Stellt Isis eine Gefahr für Europa dar? Nach dem Anschlag auf das Jüdische | |
Museum in Brüssel am 24. Mai wurde bei dem französischen Tatverdächtigen | |
eine Kalaschnikow gefunden, die in eine Isis-Flagge gehüllt war. Nach | |
Angaben der belgischen Staatsanwaltschaft war er zuvor in Syrien. | |
Etwa 2.000 Europäer haben in den vergangenen drei Jahren in Syrien | |
gekämpft. Sie sind fast alle zu den Dschihadisten gegangen, die meisten zur | |
Isis. Deshalb müssen wir mit Wiederholungen der Vorkommnisse von Brüssel | |
rechnen, aber auch mit größeren Anschlägen wie in Madrid 2004 und London | |
2005. Isis ist kein Ableger von al-Qaida, sondern will die gesamte | |
dschihadistische Bewegung übernehmen. Baghdadi will Bin Ladin beerben. | |
Dafür muss er spektakuläre Anschläge im Westen verüben. | |
15 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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