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# taz.de -- Kolumne Der rote Faden: Alles wie im Märchen
> Die Ukraine hat neue Helden, im Irak wird 1001 Nacht gespielt und
> Überwachung ist jetzt Geschichte. Ein Wochenrückblick.
Bild: Im Märchen fühlen wir uns wohl, denn alles ist so schön klar.
Der Hass wohnte im Wald. Man konnte ihm bei Kaffee und warmem Kuchen
begegnen, er hatte es ganz gemütlich dort. Wind rauschte in den Birken,
Vögel sangen, Sandwege schlängelten pittoresk ins Ungewisse. Es ging mit
dem Fahrrad von Estland gen Riga. Die Welt war menschenleer, also
eigentlich, denn es erschienen plötzlich zwei Frauen, und weil es dort nun
einmal nicht viele Menschen gibt, nahmen sie uns mit zu sich.
Ein Haus wie von Ikea, licht und klar, helles Holz und weiße Wände, ins
Sonnige zwischen die Bäume gesetzt. Gebrochenes Russisch, stolperndes
Englisch, die Mutter buk Kuchen, die Tochter erzählte, wie sie ihr Land mit
Strom versorgte, und bald würde sie das auch in China tun. Es hätte sich
trefflich über Atom und Braunkohle diskutieren lassen, aber wir hatten noch
hundert Kilometer vor uns, der Kuchen roch allzu gut. Aber dann kamen die
Russen.
Der Vater fing damit an, bisher hatte er nur still gelächelt, man trifft
solche auf Reisen, die für alle Sprachen zu scheu sind, und des Estnischen
waren wir nicht mächtig. Aber auf einmal redete er. Von den Russen, einem
Volk von Verrätern und Mördern, es liege ihnen im Blut, sie seien
raffgierig, machtlüstern, stets zum Äußersten entschlossen. Er stapelte
Bücher um uns herum, wie Mauersteine wuchsen sie zu Wänden empor,
geschrieben von gelehrten Herren, die allesamt die Niedertracht der
Barbaren aus dem Osten bewiesen hätten.
Und ja, natürlich seien sie mit Russen befreundet, erzählten Mutter und
Tochter, doch sie machten sich da keine Illusionen, ein wahres Verständnis
könne es niemals geben und Vertrauen schon gar nicht, und im dereinst
eintretenden Ernstfall werde man sich gegeneinander wenden, und die einzige
Hoffnung sei es, schneller zu sein als der andere, auf dass dieser in
seinem Blute liege und nicht man selbst. Und dann lächelten sie und boten
uns warme Kringel an.
Die Kuchenstücke steckten in unseren Hälsen, wir rangen nach Luft, und aus
den russischen Märchen meiner Kindheit wusste ich, dass diesem [1][Haus
gleich ein Hahnenfuß wachsen würde] und dann ginge es im Galopp in ein
dunkles Land.
## Tore in Welten, in denen es wenige Fragen gibt
Aber wir hatten Glück. Denn wir sollten eine Botschaft überbringen. Warnen
Sie Europa!, donnerte der nun schon viel zu lange nicht mehr still gewesene
Vater, der Westen solle endlich auf ihn und seinesgleichen hören. Und wir
lächelten starr und gaben die Bücher zurück und fuhren davon. Bei jeder
Kriegsnachricht aus der Ukraine muss sich dieser Vater so sehr im Recht
fühlen mit seinem Märchen, in dem das Böse immer das Böse ist und in dem
selbst der Freund kein Freund ist, sondern nur jemand, den man nahe bei
sich haben will für den Fall, dass man sich seiner entledigen muss.
In dieser Woche hat der ukrainische Präsident eine [2][Waffenruhe für
beendet erklärt] und [3][neue Männer an die Spitze seiner Armee gestellt],
damit diese "das Land befreien". Und wieder sind jene arm dran, die Helden
brauchen, und auch diese Helden werden es nicht vermögen, dem Drachen aus
Moskau den Kopf abzuschlagen. Dafür müssten sie schon die ganze desolate
ukrainische Armee austauschen und durch Männer ersetzen wie den aus den
estnischen Wäldern.
Märchen sind Tore in Welten, in denen es wenige Fragen gibt, aber umso mehr
Antworten. Und weil alles so wohlgeordnet ist und alle Irrungen und
Wirrungen nur zeitweilige Dekoration, die das Wahre und Schöne am Ende nur
umso wahrer und schöner erscheinen lässt, ist es nur folgerichtig, dass es
[4][wieder ein Kalifat gibt] mitten in der Auflösung aller Ordnung, mitten
im Irak. Geschichten aus tausendundeiner Nacht, der schlaue und gerechte
Kalif Harun al-Raschid verkleidet sich, um unters Volk zu gehen und seine
Sorgen zu erfahren. Zuvor muss das Kalifat jedoch noch werden. Und so hat
der selbst ernannte Nachfolger al-Raschids [5][in dieser Woche alle
Rechtgläubigen aufgerufen, in sein Traumland zu kommen].
## Wir sind das Böse
Nachklänge hat diese Schimäre wohl vor allem im Westen, denn wenn Muslime
von al-Raschid erzählen, dann wissen sie, dass er grausam war und seinen
Bruder ermorden ließ, um selbst auf dem Thron zu sitzen.
Erzählungen brauchen wir, nur so wird das begreiflich, was um uns herum
passiert, so werden aus Ereignissen kausale Zusammenhänge, Fabeln,
möglichst noch mit Moral. Deswegen die Glücksgefühle bei jenen, die gegen
Überwachung kämpfen. [6][Sebastian Hahn aus Erlangen, der Mann, den die NSA
überwacht, weil er anonym im Internet unterwegs sein will.] Endlich gibt es
ein Gesicht für die Geschichte von der Massenüberwachung.
Endlich lässt sich von etwas erzählen, das sonst, weil so abstrakt, sich
nur schwer in Worte fassen lässt. Nur leider lässt sich genau das nicht.
Denn die Geschichte ist eben genau nicht die des Einzelnen, der
ausspioniert wird, weil er etwas Besonderes, mithin Verdächtiges getan
hätte. Sondern die, dass wir für die Geheimdienste potenziell alle das Böse
sind.
5 Jul 2014
## LINKS
[1] http://www.maerchenatlas.de/miszellaneen/marchenfiguren/baba-jaga/
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine-krise-poroschenko-beendet-waffen…
[3] http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.krise-in-osteuropa-neue-militaer…
[4] http://www.tagesschau.de/ausland/irak-kalifat-100.html
[5] http://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-isis-extremist-laedt-muslime-zu-…
[6] http://www.fr-online.de/datenschutz/sebastian-hahn-der-student--den-die-nsa…
## AUTOREN
Daniel Schulz
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