# taz.de -- Ost-West-Sichtweisen: Das Bier ist zu teuer | |
> Der Ukraine-Konflikt bestimmt gerade unser Bild vom europäischen Osten. | |
> Wir haben Menschen dort gefragt, wie sie den Westen sehen. | |
Bild: Ukrainische Soldaten in der Nähe des Dorfes Nikolayeva. | |
Westen und Osten – das sind ewige Konfrontation und jahrhundertelange | |
Unterschiede. Heute sind die meisten der Unterschiede schon ausgeglichen, | |
es bleiben noch manche religiöse und kulturelle. In Russland zum Beispiel | |
glaubt man, dass in meinem Alter die Frau schon verheiratet und zweifache | |
Mutter sein muss. Ist sie das nicht, ist das anormal, vielleicht weil | |
unsere Mentalität ein Mittelding zwischen der westlichen und der östlichen | |
ist. In Europa streben die jungen Menschen zuerst danach, Kariere zu | |
machen, zu reisen, Geld zu verdienen und erst später Kinder zu haben. Im | |
Osten strebt man an erster Stelle danach Familie zu gründen und sie | |
finanziell abzusichern. | |
Wir Russen versuchen in den beiden erfolgreich zu sein und deswegen ist es | |
nicht überraschend, dass viele damit scheitern. | |
Bei meiner ersten Reise in Europa war ich erstaunt, wie offen und höfflich | |
die Europäer sind, ich habe nie jemanden mit schlechter Laune gesehen. In | |
Russland sieht das ganz anders aus Ich habe viele ausländische Freunde, die | |
in Russland reisen. Sie sagen, dass die Russen anfangs zurückgezogen | |
wirken, wütend. Wenn du es aber schaffst, ihre Freundschaft zu gewinnen, | |
dann täten sie alles für dich. Das ist wohl die geheimnissvolle russische | |
Seele. | |
In einer Welt ohne geschlossene Grenzen ist es schwer zu sagen, wo der | |
Osten endet und der Westen beginnt. „Westen“ – das sind die Länder, die | |
erfolgreich die kommunistische Vergangenheit hinter sich gelassen haben und | |
sich in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft bewegen. Europa hat es | |
geschafft von Auseinandersetzungen zu friedlicher Nachbarschaft und | |
Kooperation zu kommen, hat den Schritt hin zu einer postindustriellen und | |
toleranten Gesellschaft gemacht. Das sollte Russland von Europa lernen. Es | |
gibt auch viel Negatives aus Europa. | |
Das Prinzip der Gleichheit in der EU führt dazu, dass die starken | |
Volkswirtschaften die schwachen sponsern. Die Multikulti-Idee hat zu | |
unkontrollierter Einwanderung geführt. | |
Anna Batasheva, 26 Jahre, Journalistin, Russland | |
*** | |
Bis vor kurzem stand „Osten“ für Slawen aus dem ehemaligen Ostblock, die | |
gemeinsame Werte haben. Heute gehören zum Osten, dem europäischen Osten, | |
alle Länder, die direkt oder indirekt unter dem Einfluss Russlands | |
verharren. Das sind auch Menschen, die an die Wiedergeburt des Sozialismus | |
glauben und dass ihr Leben dadurch besser wird. | |
Der Westen sind die USA und Europa, die ähnliche Werte teilen, vor allem, | |
was die Freiheit des Individuums angeht. Ich habe eine Zeit lang in Irland | |
gelebt und dort haben mich viele Sachen beeindruckt. Die Beamten sind | |
höflich, die Steuergesetze sind klar, es gibt zahlreiche schöne Grünflächen | |
und keine Koruption. Überall kann man die Sorge um den Kunden aber auch den | |
Menschen allgemein empfinden. Nur das Bier ist zu teuer. | |
Mir scheint aber, dass der Westen zu weit geht. Warum sollte man die arme | |
Giraffe Marius in Dänemark töten? | |
Und im Westen leben viele Menschen ziellos vor sich hin, weil die | |
Gesellschaft ihr Leben zu gut absichert. In Irland und Grossbritanien gibt | |
es ganze Generationen „professioneller“ Arbeitsloser, die nur dank | |
Sozialleistungen überleben. Und diese Schwulenrechte! Die Schwulen müssen | |
nicht verfolgt werden, aber warum ist es nötg Homosexualität zu fördern? | |
Der Osten ist konservativer und in Maßen ist das auch gut so. | |
Vielleicht ergäbe eine Kombination von Freiheit und Konservatismus ein | |
gutes Produkt. Ich hoffe, dass die Ukraine genau einen solchen Mix schaffen | |
wird. | |
Wo ich gern leben würde? Irland ist super, Skandinavien gefällt mir auch, | |
die südlichen Länder haben ein gutes Klima. Vor allem will ich aber nicht | |
gezwungen werden eine solche Entscheidung zu treffen. Ich will unsere | |
Länder sich vom Verfaulten reinigen. Mir scheint, die Ukraine ist schon auf | |
dem richtigen Weg. | |
Vladislav Budnikov, 33 Jahre, Qualitätsexperte, Ukraine | |
*** | |
Der Osten ist der ehemalige Sowjetblock. „Osten“ bedeutet eine andere | |
Mentalität, einen anderen Hintergrund und Stereotypen, gegen die wir | |
kämpfen müssen. Der Westen sieht uns als ärmer an, weniger qualifiziert, | |
auf einem niedrigen Entwicklungsniveau. Wir müssen einfach zeigen, wie gut | |
wir sind: fleissig, motiviert. | |
Und wir müssen zeigen, wie sichunsere Länder dank unserer Arbeit und | |
Ambitionen entwickelt haben, so dass wir keine Komplexe haben müssen. Wir | |
sind nicht weniger wert, wir sind einfach nur anders anders. | |
Die Leute im Westen können von uns diese „you can do"-Haltung lernen. Das | |
heißt, flexibel zu sein. Wenn hier etwas schief geht, versucht man schnell | |
einen Weg zu finden. Man denkt nicht wie im Westen daran, dass jemand | |
anderes dafür zuständig ist, und das Problem nicht in seinem | |
Kompetenzbereich liegt. Einfach machen, dann findet man auch schnell eine | |
Lösung, mit der alles wieder läuft. | |
Im Osten fühlt man einen ständigen Zeitdruck, alles soll so schnell wie | |
möglich wie im Westen werden. Vor 1989 hatten die meisten Menschen so | |
wenig, dass wir jetzt alles haben wollen. Der Westen ist entspannter, es | |
gibt keinen solchen Zeitdruck, die Menschen sind offen dafür, ihr eigenes | |
Leben zu leben. Sie haben die Konsumphase schon hinter sich. Bei uns gibt | |
es keine Grenze, bei der es auch mal genug ist. Mir scheint, die Menschen | |
im Westen sind glücklicher. | |
Wir legen zu viel Wert auf die Meinung des Westens und sind nicht | |
individualistisch genug. Wir denken zu viel darüber nach, was andere über | |
uns denken und nicht genug daran, was uns selbst glücklich macht. Aber wir | |
befinden uns schon auf einem guten Weg, um eine Work-Life-Balance zu | |
finden. Meiner Meinung nach ist ein Mix aus Osten und Westen die beste | |
Konstellation. | |
Patrycja Stanczyk, 29 Jahre, IT-Expertin, Polen | |
*** | |
Die Grenze zwischen Ost und West läuft durch Rumänien, Bosnien, Serbien. | |
Sie bildete sich am Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Zerfall des | |
Osmanischen Reiches heraus. Alles, was später passierte, konnte sie nicht | |
wieder einreißen. Hier lebt man ständig in der Hoffnung, dass diese Grenze | |
eines Tages noch östlicher verlaufen wird. | |
Im Osten sind die Menschen viel mehr bereit, ihren Lebenskamf zusammen zu | |
führen. Im Gegensatz dazu kämpft im westlichen Individualismus jeder für | |
sich allein. Das könnte der Westen von uns lernen: zusammen ist es | |
leichter. | |
Im Osten sind die Menschen traditionell träger in ihren Handlungen und | |
impulsiver im Feiern. Viele denken, dass der Westen nur Glanz und Wohlstand | |
ist, ohne zu verstehen was eigentlich für eine große Leistung dahinter | |
steht. Leider glaubt man im Osten oft, dass Gott, Staat und Gesellschaft | |
einem etwas schuldig sind. Dabei muss jeder in Staat und Gesellschaft etwas | |
beitragen. Nur so, mit viel Arbeit, kann auch etwas erreicht werden. Der | |
Westen ist zielstrebiger, beharrlicher, man versuch selbst das Geschehenzu | |
kontrollieren, alles passiert schneller und besser. Im Osten wartet man, | |
damit sich die Probleme von sich selbst lösen. Die orientalische Denkweise | |
existiert noch, man merkt das auch daran, dass wir gern anderen Menschen | |
die Schuld für unsere eigenen Misserfolge geben. | |
Trotz aller Unterschiede ist aber eine gute Verständigung zwischen Menschen | |
aus Osten und Westen möglich. Vor mehr als 40 Jahre hat mein Vater einen | |
Mann aus Leipzig, Klaus, kennengelernt. Die Freundschaft zwischen unserer | |
und seiner Familie, die mit einem Gespräch über ein Unwetter begonnen | |
hatte, dauerte bis vor kurzem an. Es war ein offenes und warmherziges | |
Verhältnis. | |
Im Osten trennen sich leider die Menschen stark Nationalitäten und | |
ethnischen Gruppen. Obwohl jetzt der Nationalismus auch im Westen | |
triumphiert, sieht man dort wie Staaten, die blutige Kriege gegeneinander | |
geführt haben, heute zusammenarbeiten. Diesem Beispiel zu folgen sind wir | |
aber noch nicht bereit. Wir denken noch zu sehr nach dem Modell | |
„Zentrum-Peripherie“ und nicht als Partner. Wir sind noch zu egozentrisch. | |
Nikolai Stoew, 60 Jahre, Ingenieur, Bulgarien | |
7 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Elena Savova | |
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