# taz.de -- Bundesparteitag der Grünen: Applaus statt Tomatenwürfe | |
> Die Grünen bemühen sich redlich um Versöhnungsgesten beim Streitthema | |
> Flüchtlingspolitik. Trotzdem geben sie ein gespaltenes Bild ab. | |
Bild: Mitglieder der Grünen Jugend protestieren gegen Winfried Kretschmanns Ja… | |
HAMBURG taz | Der Ministerpräsident bricht seine Rede ab, er schweigt. Vor | |
seinem Rednerpult marschieren gerade Nachwuchs-Grüne mit Protestplakaten | |
auf. Winfried Kretschmann, der Landesfürst aus Baden-Württemberg, hat im | |
September dem umstrittenen Asylkompromiss der großen Koalition im Bundesrat | |
die entscheidende Stimme gegeben. Seine Entscheidung hat die Partei | |
gespalten und in Aufruhr versetzt. | |
Jetzt verschwindet der Ministerpräsident nach und nach hinter warnenden | |
Botschaften. „Asylpolitik ohne Kompromisse", steht darauf. Oder: „Es gibt | |
keine Staaten ohne Diskriminierung." Auch in der Parteitagshalle wird es | |
still. Keine Zwischenrufe. Keine Tomatenwürfe. | |
Während Kretschmann noch abwartet, steht Parteichefin Simone Peter von | |
ihrem Platz auf dem Podium auf, stellt sich wortlos hinter den Parteifreund | |
am Pranger. Sie, die seine Entscheidung vor zwei Monaten eigentlich | |
grundfalsch fand. Schließlich huscht auch der Co-Vorsitzende Cem Özdemir | |
nach vorne, an Kretschmanns Seite | |
Was für ein symbolisches Bild: Die Grünen, die nach dem Eklat um | |
Kretschmanns Ja im September eine Weile völlig außer sich wirkten, stehen | |
wieder zusammen. Länder gegen Bund, Linke gegen Realos, ehemalige | |
Vorsitzende gegen amtierende Landeschefs, jeder gegen jeden? Das soll jetzt | |
Vergangenheit sein. | |
## Außerordentlich problematisch | |
Brav tritt die Grüne Jugend nach einigen Minuten wieder ab, Kretschmann | |
setzt seine Rede fort, wo er sie unterbrochen hatte. Kein Wort sagt er zu | |
der Protestaktion. Stattdessen wirbt der Ministerpräsident mit leisen | |
Worten um Verständnis. Er habe „skrupulös" mit sich gerungen, dem Angebot | |
der Bundesregierung nicht etwa zugestimmt, weil er dem Prinzip der sicheren | |
Herkunftsländer zustimme. Es sei natürlich „außerordentlich problematisch". | |
Entscheidend seien für ihn die im Gegenzug ausgehandelten „substantiellen | |
Verbesserungen" für die Flüchtlinge gewesen. „Natürlich", versichert | |
Kretschmann, könne man ein Grundrecht nicht „gegen pragmatische | |
Geländegewinne verhandeln". Aber genau das habe er auch nicht gemacht. „Man | |
kann nicht sagen, dass das individuelle Grundrecht auf Asyl preisgegeben | |
wurde." | |
Dann lenkt Kretschmann den Blick nach Baden-Württemberg, in die Städte und | |
Gemeinden, wo CDU-Landräte und Bürgermeister auf Steilvorlagen der Grünen | |
nur warten. Er kämpfe darum, die „Empathie der Bevölkerung" für die | |
wachsende Zahl von Flüchtlingen zu erhalten, sagt Kretschmann. Aber er | |
merke, wie „fragil" diese Zustimmung sei. | |
## Gespaltenes Bild | |
Es reiche nicht, wenn die 25 Prozent Grünen-Anhänger hinter seiner | |
Flüchtlingspolitik stünden, er brauche eine viel breitere Mehrheit. Dann | |
sagt er einen schlichten Satz: „Nur wer selbst Kompromisse macht, kann auch | |
von anderen welche erwarten." Der Ministerpräsident bekommt zwar breiten | |
Applaus, aber das Bild ist gespalten. | |
Selbst linke VIP-Grüne wie Simone Peter und Anton Hofreiter stehen von | |
ihren Plätzen auf. Doch im Saal bleiben viele Delegierte mit verschränkten | |
Armen sitzen. „Wenn demnächst wieder rote Linien überschritten werden, | |
werden wir uns wieder klar dagegen positionieren", warnt Theresa Kalmer, | |
die Sprecherin der Grünen Jugend. | |
Astrid Rothe-Beinlich aus Thüringen empört sich über Kretschmanns Hinweis, | |
das grün-rote Baden-Württemberg sorge für eine „humanitäre | |
Abschiebepolitik". „Was soll das sein?", ruft sie entrüstet in den Saal. | |
Die Europaabgeordnete Ska Keller verlangt, die Grünen müssten sich klar | |
werden, „wie wir mit neuen unmoralischen Angeboten der Bundesregierung | |
umgehen". Sie erwarte keine Einigkeit in jedem Detail, sagt die | |
Flüchtlingspolitikerin, aber sie wolle beim nächsten Mal wenigstens | |
„vorgewarnt" sein. | |
Eigentlich wollen die Grünen an diesem Nachmittag nach vorne schauen, | |
schließlich sind die meisten Argumente für und gegen diesen Asylkompromiss | |
ausgetauscht. Und im Bundesrat stehen längst die nächsten harten | |
Entscheidungen in der Warteschleife: Asylbewerberleistungsgesetz, | |
EU-Freizügigkeitsgesetz, Einschnitte in das Aufenthaltsrecht für | |
Flüchtlinge. Wie werden sich die grün mitregierten Länder positionieren? | |
## Klarer Leitantrag | |
Der am Samstag mit großer Mehrheit beschlossene Leitantrag zur | |
Flüchtlingspolitik liest sich klar. Nach Bosnien-Herzegowina, Mazedonien | |
und Serbien dürfe es keine weiteren sicheren Herkunftsländer geben. Die | |
Grünen lehnten den bevorstehenden „neuen Großangriff auf die | |
Flüchtlingsrechte" ab. Es handele sich um ein „gigantisches | |
Entrechtungsprogramm". | |
Auch Parteichefin Simone Peter lässt an ihrer Position etwa zur Reform des | |
Asylbewerberleistungsgesetz keinen Zweifel: „Am besten wäre es, dieses | |
entwürdigende Gesetz ganz abzuschaffen." Das Angebot der Bundesregierung | |
sei „zu wenig". Da passe „kein Blatt Papier" zwischen Grüne in Bund und | |
Ländern. | |
Natürlich weiß aber auch Peter, dass in den Ländern längst Verhandlungen um | |
neue Kompromisse laufen. Wie genau diese am Ende aussehen werden, wissen in | |
Hamburg selbst einflussreiche Landesminister noch nicht zu sagen. Doch die | |
reine grüne Lehre wird es nicht sein, das ist klar. | |
Und so beginnen die Grünen am Samstag bereits mit einem behutsamen | |
Erwartungsmanagement. Die Parteichefin persönlich deutet es zwischen den | |
Zeilen an: „Was wir nach und nach verbessern werden, das hat auch seinen | |
Wert", sagt Peter. „Dafür stehen wir zusammen." Am kommenden Freitag und in | |
den Wochen danach, wenn der Bundesrat wieder tagt und neue Asylregelungen | |
aufruft, wird sich zeigen, wie weit die Parteitagsharmonie trägt. | |
22 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Astrid Geisler | |
## TAGS | |
Grüne | |
Winfried Kretschmann | |
Asylrecht | |
Grüne Jugend | |
Grüne | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Grüne | |
Flüchtlingspolitik | |
Grüne | |
Cem Özdemir | |
Grüne | |
Grüne | |
Anton Hofreiter | |
Grüne | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Nachwuchsgruppe bei den Grünen: „Wir wollen offen für alle sein“ | |
Sie fühlen sich in der Grünen Jugend nicht vertreten und können sich | |
Bündnisse mit der CDU vorstellen: Junge Grüne haben eine neue | |
Nachwuchsplattform gegründet. | |
Debatte Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Überzeugungen | |
Der nun anstehende Generationswechsel ist zwar eine entscheidende Zäsur für | |
die Partei. Doch ihre Grundwerte bleiben. | |
Grüne Asylpolitik auf Kompromisskurs: Die Stille nach dem Beschluss | |
Die Grünen haben den jüngsten Asylkompromiss geräuschlos durchgewinkt. Das | |
ist ein Sieg für Realos wie Winfried Kretschmann. | |
Kommentar Neues Asylgesetz: Lautlos eingeknickt | |
Die Grünen haben der Einschränkung der EU-Freizügigkeit zugestimmt. Denn | |
mit liberaler Flüchtlingspolitik gewinnt man keine Wähler. | |
Kommentar Außenpolitik der Grünen: Ein konsequentes Sowohl-als auch | |
Die Grünen wollen sich in der Außenpolitik neu positionieren. Frieden | |
schaffen ohne – oder mit noch mehr Waffen? Heraus kommt ein klares Jein. | |
Grüne uneinig, aber harmonisch: Für und gegen Waffenlieferungen | |
Über dem Grünen-Parteitag von Stuttgart schwebt Sehnsucht nach Harmonie. | |
Der Streit über Waffenlieferungen bleibt unentschieden. | |
Bundesparteitag der Grünen: Für ein Leben vor dem Schnitzel | |
Die Grünen beerdigen den Veggie Day und nutzen die Debatte zur | |
Kursbestimmung: Wie moralisierend, wie liberal, wie industrienah wollen sie | |
künftig sein? | |
Zoff um Grünenchefs Peter und Özdemir: Duo mit Nervfaktor | |
Seit Monaten zoffen sich die Grünen-Chefs öffentlich – zum Leid ihrer | |
Mitstreiter. Beim Parteitag am Wochenende soll es versöhnlicher zugehen. | |
Anton Hofreiter und seine Grünen: „Niemand hat Angst vor der Mitte“ | |
Witze über Grüne? Bitte nicht! Hü und hott in der Grünen-Führung? Keine | |
Spur! Vor dem Bundesparteitag wirkt der Fraktionschef angespannt. | |
Debatte Grüne und Pädophilie: Pädos und Größenwahn | |
Die Studie zur grünen Pädo-Vergangenheit ist in einem Punkt brisant: Sie | |
kritisiert das linkslibertäre Verständnis der Gesellschaft seit den frühen | |
Sechzigern. |