# taz.de -- Debatte Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Überzeugungen | |
> Der nun anstehende Generationswechsel ist zwar eine entscheidende Zäsur | |
> für die Partei. Doch ihre Grundwerte bleiben. | |
Bild: Auf dem Parteitag im November: die Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter … | |
Parteien verfallen hin und wieder in eine Sinnkrise, zumeist beim Abtritt | |
großer Führungsfiguren. Die Grünen freilich haben den Abgang von Joschka | |
Fischer 2005 alles in allem gut verkraftet, dafür stellt der nun laufende | |
Generationswechsel wohl eine der schwersten Zäsuren in der Geschichte der | |
Grünen dar. Was an Kommentaren über die einstige Partei der politischen | |
Avantgarde zu lesen ist, muss für die Funktionsträger niederschmetternd | |
wirken, wenn ihnen aus Anlass ihres letzten Bundesparteitags | |
[1][„Beißhemmungen“ (Zeit Online)] attestiert werden oder konstatiert wird, | |
[2][dass den Grünen schlicht die Themen ausgingen (Die Welt)]. | |
Die Grünen selbst suchen zwar nach Orientierungen, doch eine wirkliche | |
Sinnkrise kann man nicht ausmachen. Vielmehr scheinen sich die | |
Parteimitglieder eher implizit darüber im Klaren zu sein, auf Basis welcher | |
Grundüberzeugung sie eigentlich Politik betreiben. Ausgerechnet die | |
Aufarbeitung der Pädosexualitätsdebatte legt nun Teile des Markenkerns | |
jenseits der tradierten Themenfelder Ökologie und Frieden offen. | |
In unserem Abschlussbericht haben wir einige Faktoren herausgearbeitet, die | |
notwendige, jedoch keineswegs hinreichende Voraussetzungen waren, damit | |
sich in den 1980er Jahren Forderungen nach einer pädosexuellenfreundlichen | |
Reform des Sexualstrafrechts in den Programmen niederschlagen konnten. | |
Neben der Bejahung der sexuellen Befreiung waren das erstens die | |
ausschweifende Empathie für Minderheiten, zweitens die Überzeugung, | |
bestimmten opportunen wissenschaftlichen Positionen in wahrer Gläubigkeit | |
zu folgen, und schließlich drittens die Zweifel an der Berechtigung | |
staatlicher Eingriffe in die individuellen Freiheiten. Wenn man diese | |
Punkte nun dieser Tage als Resümee vorträgt, begegnen einem zwei | |
Reaktionen. | |
Die älteren Funktionsträger wollen sich erkennbar nicht in solche | |
Schablonen pressen lassen und pochen mehr oder minder darauf, dass man | |
diese Zeit selbst erlebt haben müsse, um sie zu verstehen. Demgegenüber | |
finden sich in genau diesen Beschreibungen die jüngeren Parteimitglieder | |
erstaunlich gut getroffen. Ihnen wird dadurch bewusst, dass diese Dinge | |
letztlich einen Teil des zu wahrenden Vermächtnisses ihrer | |
Vorgängergeneration umschreiben und dass sie in ihrer eigenen politischen | |
Identität tief verwurzelt sind. Im Angesicht der Pädosexualitätsdebatte | |
erschrecken sie aber auch wegen der damit verbundenen Ambivalenzen. | |
Stellt man bei der rückblickenden Bewertung eine generative Differenz fest, | |
so scheint diese in der politischen Alltagsarbeit der Grünen keine große | |
Rolle zu spielen. Vielmehr findet man genug Beispiele und Anknüpfungspunkte | |
der heutigen grünen Politik in den genannten Überzeugungen. | |
## Geliebte Empathie | |
Dort, wo die Grünen politische Verantwortung tragen, kümmern sie sich | |
jedenfalls meist rührend um all die sozialen Randgruppen und Minderheiten, | |
die sich anderweitig nicht vertreten fühlen. „Kümmern“ meint dabei vor | |
allem eine verbale Empathie kombiniert mit dem Verlangen, dass sich | |
professionell jemand um einzelne Gruppen bemüht. Ob Frauen-, Umwelt-, | |
Senioren-, Behinderten-, Schwulen-, Lesben-, Fahrrad- oder | |
Fußgängerbeauftragte, sie alle leisten aus Sicht grüner Politik daher | |
immens wichtige Arbeit, die es zu fördern und auszubauen gilt. | |
Bei den kommunalen Töpfen, welche zusätzlich kleinste Mikrogruppen | |
unterstützen, sind es oft die Grünen, die dort Haushaltskürzungen | |
verhindern. Was an institutionalisierter Arbeit im Kultur-, Jugend- und | |
Sozialbereich der 1980er/1990er Jahre entstanden ist, wird damit | |
verlässlich umsorgt. | |
Nicht nur die Sympathie für die Lage von „Betroffenen“, wie es im Jargon | |
der 1980er Jahre zuweilen immer noch heißt, ist geradezu typisch für die | |
Identität der Grünen, auch ihre Orientierung auf wissenschaftliche | |
Expertise, gerne solche abseits des Mainstreams, ist ungebrochen. Das war | |
für die Entstehungszeit der Partei auch essenziell, denn sie lehnten die | |
Atomenergie gegen eine herrschende Meinung in den Natur- und | |
Ingenieurswissenschaften ab. Insbesondere in den Kernfeldern Umwelt- und | |
Verkehrspolitik verbeißen sich die Grünen auch heutzutage in den | |
Widerstreit der Gutachter, um ihre Position auf der Grundlage opportuner | |
wissenschaftlicher Befunde zu stützen. | |
Was dem nicht entspricht, wird in methodischer und analytischer Hinsicht | |
grundlegend angezweifelt. Sehr anschaulich war das bei den Auftritten von | |
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer im Schlichtungsverfahren zu | |
Stuttgart 21 zu beobachten. Den Grünen liegt bei solchen Themen oftmals | |
weniger an einem Interessenausgleich, sondern eher am Rechthaben, das zu | |
einem Rechtkriegen werden soll. | |
## Einsatz für Freiheitsrechte | |
Auch die dritte Überzeugung, das Eintreten für die Freiheitsrechte, hat bei | |
den Grünen unvermindert ihren Platz. Die einstige Partei der RAF-Anwälte | |
ist zwar weit davon entfernt, die Abschaffung aller Gefängnisse zu fordern, | |
wiewohl bei der Grünen Jugend vor wenigen Jahren ein solcher Diskurs mal | |
kurzzeitig geführt wurde. Allerdings sehen sich die Grünen immer noch als | |
entschiedene Verteidiger bürgerlicher Freiheitsrechte, gerade hier hoffen | |
sie auf die Erbschaft der verblichenen Liberalen von der FDP. | |
Das schließt bislang aber auch eine gewisse Scheu ein, in | |
Koalitionsverhandlungen den Posten eines Innenministers für die eigene | |
Partei zu reklamieren. Jedenfalls hat es noch nie einen grünen | |
Innenminister gegeben, der dadurch in die Verlegenheit käme, sich für eine | |
Verschärfung von Sicherheitsgesetzen einzusetzen. | |
Viel lieber bekleiden die Grünen dann das Amt des Justizministers, weil sie | |
darüber einen Kontrapunkt zum Koalitionspartner setzen können. Bei den | |
Grünen gibt es also durchaus einen Bestand von Überzeugungen, die nicht nur | |
aus Sicht der jüngeren Parteimitglieder geradezu konstitutiv wirken, | |
sondern die offenkundig die Politik der Partei nachhaltig prägen. Sie | |
scheinen gegenwärtig nicht nur den Generationswechsel zu überdauern, | |
sondern die Partei wird sich ihrer anscheinend gerade erst so richtig | |
bewusst. | |
17 Dec 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-11/gruenen-parteitag-hamburg-au… | |
[2] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article134642686/Apokalypse-ade-den-G… | |
## AUTOREN | |
Stephan Klecha | |
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