# taz.de -- Arbeitslose Akademiker: 400 Bewerbungen und kein Job | |
> Unsere Autorin hat promoviert. Trotzdem wäre sie mit 1.100 Euro im Monat | |
> sehr glücklich. Das glauben ihr viele Arbeitgeber aber nicht. | |
Bild: Habe ich schon erwähnt, dass ich seit drei Jahren, seit dem Ende des Sti… | |
August 2013, Berlin. Ich komme von einem Bewerbungsgespräch nach Hause und | |
möchte mich aus dem Fenster werfen. Vorher war ich in einem Museum und kam | |
mit einem Angestellten ins Gespräch. Gibt es hier Jobs als | |
Touristenführer?, fragte ich. Kultur, Geschichte – das habe ich studiert. | |
Nein, nicht, meint er, aber eine Stelle in der Presse sei frei, nur laufe | |
genau an dem Tag die Bewerbungsfrist aus. Ich klopfte an der Tür des | |
Personalbüros, „herein“, es war die Stimme einer Frau, ich nahm Platz und | |
sie kein Blatt vor den Mund. | |
„Wir brauchen so jemanden wie Sie nicht“, sagte sie. „Sehen Sie, das wür… | |
uns beide nicht glücklich machen. Sie säßen auf einem unterbezahlten Job, | |
den andere mit mehr Elan ausüben würden, und wir bleiben auf Ihnen sitzen. | |
Lassen Sie uns doch nur mal spaßeshalber schauen, was Sie bei uns so | |
verdienen würden“, die Dame mit der halboffenen Bluse haute emsig in die | |
Tasten. „Sie sind“, es folgte ein schnelles Mustern meiner Person, die | |
Suche nach dem Ring am Finger, „nicht?“, ein Zögern, „nicht verheiratet�… | |
half ich aus, „ich bin ledig und habe keinen Partner“. | |
„Gut, also Lohnsteuerklasse 1“, sie tippte weiter. „Sie bekommen auf dies… | |
Stelle – habe ich erwähnt, dass es nur 75 Prozent sind? Nein? Also, Sie | |
bekommen brutto 1.700 Euro verbleiben bei … (Gemurmel) … und ohne … | |
(Gemurmel) … etwa … (Gemurmel) … 1.100 Euro.“ Sie schaute hoch. „Sie … | |
sich nicht mehr wert?“ | |
Ich möchte anfangen zu weinen. | |
## Einen Job machen, weil man verzweifelt ist | |
„Ich kann mir vorstellen, wie es Ihnen geht“, sagt die Dame, „ich habe au… | |
eine Freundin, die in Geschichte promoviert hat. Sie ist jetzt 40 Jahre alt | |
und verdient das erste Mal in ihrem Leben mehr als 1.500 Euro“ … | |
(Kunstpause) … „Aber wir suchen niemanden, der einen Job macht, nur weil er | |
verzweifelt ist. Wir wollen eine Referentin, die überglücklich ist, dass | |
sie den Presseverteiler unseres Museums pflegen darf. Sie können mit 1.000 | |
Euro doch gar nicht allein in Berlin leben!“ | |
Habe ich schon erwähnt, dass ich seit drei Jahren, seit dem Ende des | |
Stipendiums, kein festes Gehalt beziehe, teilweise mit zwei Euro in der | |
Woche haushalte und mir drei Mal überlege, ob ich heute warm esse oder doch | |
lieber erst am Sonntag? Ich würde mit 1.100 Euro netto SEHR, SEHR glücklich | |
werden! | |
Dank der Ausführungen der Personalchefin weiß ich nun, warum ich nirgendwo | |
Fuß fasse – weil auf einem Stuhl in einem Büro mit gut belüftbaren | |
Fenstern, Blick auf belebte Straßen und einer Kaffeemaschine jemand die | |
Entscheidung fällt, ob ich glücklich mit diesem Gehalt werde oder eben | |
nicht. Akademia! Seit wann bist du nichts mehr wert?! | |
## Jedes Jahr mehr Akademiker | |
Jedes Jahr promovieren in Deutschland mehr Leute. Jedes Jahr sind mehr | |
Akademiker auf der Suche nach Jobs. Davon gibt es zu wenig. Und natürlich: | |
Deutschland fördert Exzellenz. Die Besten. Gefördert wird mit befristeten | |
Verträgen. Planbare Perspektiven sind damit ausgeschlossen. | |
Sonderforschungsbereiche werden subventioniert, die aber nur attraktiv | |
bleiben, wenn sie das Gros der Gelder wiederum in Exzellenz investieren. | |
Der akademische Mittelbau – wie kommt es, dass Mittelbau nach | |
Mittelmäßigkeit klingt? – wurde hierdurch schwer vernachlässigt, sodass | |
sich viele Absolventen gegen eine Karriere an der Uni entscheiden und sich | |
dem freien Arbeitsmarkt überantworten – frei flottierend. | |
Die Überarbeitung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, das derzeit vom | |
Bundesministerium für Forschung und Bildung angegangen wird, ist | |
überfällig. Eine geplante Verbesserung: Befristete Verträge unter einem | |
Jahr soll es zukünftig nicht mehr geben. Aus Sicht des Ministeriums ist das | |
nicht ironisch gemeint. Es wird jedoch nichts an der Situation derer | |
ändern, die, weil sie in der Wissenschaft keine Perspektive sehen, es | |
außerhalb der Uni versuchen. | |
Ich habe meine Promotion mit der Note 1,0 abgeschlossen, doch finde ich | |
keinen Job außerhalb des kleinen Forschungsgebiets, das ich studiert habe. | |
Überqualifiziert – verzweifelt – nicht hinter dem stehen, wofür man sich | |
bewirbt. DAS sind ernsthaft die Reaktionen, die man in Deutschland erhält, | |
wenn man sich mit gutem Abschluss in einem Exotenfach in der freien | |
Wirtschaft bewirbt! | |
Ich bin keine Profilneurotikerin, im Gegenteil. Ich habe eine bodenständige | |
Ausbildung als Bürokauffrau, seit meinem 18. Lebensjahr habe ich in meiner | |
Freizeit in Fabriken am Fließband gearbeitet, mir die Wochenenden in der | |
Kneipe – hinter – der Theke um die Ohren gehauen, auf der Messe gearbeitet, | |
Kebab verkauft, in der Molkerei gejobbt, Homepages erstellt, stundenlang | |
für andere Menschen kopiert, in Hostels die dreckige Wäsche gewaschen und | |
die Toiletten geputzt, als Journalistin Kaninchenzuchtvereine auf die | |
Titelseite gebracht, behinderte Kinder gepflegt, Kinofilme vorgeführt und | |
Pärchen den Platz angewiesen, Bierkrüge durch die Gegend geschleppt, | |
Frühstücksteller dekoriert, McDonald’s-Burger gebraten, im Abendkleid | |
Kaffeemaschinen angepriesen, Kinder von Expatriates versucht zu | |
sozialisieren, in PR-Agenturen meine Seele verkauft und beim Fundraising | |
für NGOs wieder gereinigt. | |
## Nicht engagiert genug? Zu engagiert! | |
Ich bin von Ägypten nach Jordanien, um – mehr – unentgeltliche | |
Arbeitserfahrung zu sammeln und engagiere mich ehrenamtlich für junge | |
Menschen, für Flüchtlinge, Obdachlose, Behinderte und Folteropfer. Nicht | |
engagiert genug? – Aus Sicht vieler Personalchefs hierzulande schon. Je | |
nach rhetorischer Strategie der Entscheider aber auch: zu engagiert. | |
Seit Einführung des Bachelor geht jede Spezialisierung mit dem Risiko | |
einher, die Möglichkeit zu verlieren, nach links und rechts zu gehen. | |
Deutschland, das Land der Ideen, Vielfalt und Diversifikation? Mitnichten. | |
Sogenannte Quereinsteiger existieren nur, weil sie zur richtigen Zeit den | |
richtigen Menschen kannten. Generalisten, zu denen Geisteswissenschaftler | |
sich zählen, werden mit Argwohn betrachtet. Kann der oder die denn | |
überhaupt etwas richtig? | |
Und so trifft man als junger Hochschulabsolvent zunächst auf lauter | |
hochqualifizierte arbeitslose Akademiker. Alle hoch motiviert, mit eigenen | |
Projektideen, falls es mit der Anstellung erst einmal nicht klappt. Und | |
meistens klappt es sehr lange nicht. Also: zurück in die Lernmaschine. | |
Denn, so der Irrglaube, wenn man erst einmal in einem (unentgeltlichen) | |
Praktikum bewiesen hat, dass man nicht nur studieren, sondern auch arbeiten | |
kann, hat man den „Fuß doch in der Tür“, nicht wahr? Also bewerbe ich mich | |
parallel weiterhin auf Praktika – die ich auch bekomme. Zumindest bis zu | |
jenem Tag, an dem der Mindestlohn beschlossen wurde. Denn ein Absolvent | |
darf ab 2015 nur noch unter bestimmten Bedingungen ein Praktikum | |
absolvieren, nämlich dann, wenn es der berufsqualifizierenden Weiterbildung | |
dient, die bis dahin noch nicht abgeschlossen sein darf. | |
Und so kommt es, dass ich einen Anruf einer renommierten Tageszeitung aus | |
dem hessischen Raum erhalte, die mir versichern, mein Fall sei eingehend | |
beraten worden, aber man müsse mir mitteilen, mein Praktikumsvertrag, | |
abgeschlossen für 2015, werde aufgelöst. | |
## Hartz IV – ein Stigma | |
Die letzte Möglichkeit, auch ohne Job menschenwürdig weiterzuleben, ist …? | |
Hartz IV. Ein Stigma, über das man erst frei redet, wenn man diese | |
Degradierung hinter sich hat. Wie es sich anfühlt, kann nur der beurteilen, | |
der es selbst einmal bezog. Das Gefühl, keinen Platz in der Gesellschaft zu | |
haben, dem „großen Ganzen“ nicht dienlich zu sein und dem eigenen Anspruch | |
nicht zu genügen. Das Gefühl, man müsse sich vor der Familie, den Freunden | |
und potenziellen Arbeitgebern immer wieder rechtfertigen. | |
Dabei sind es nicht diese, sondern der einfache Straßenidiot, der einem die | |
tiefsten Stöße versetzt. Ich erinnere mich an eine Begegnung während eines | |
Aushilfsjobs. Anna Netrebko sang im Untergeschoss. Ich stand eine Etage | |
über ihr und packte Weihnachtsgeschenke von Kunden ein. In der linken Hand | |
hielt ich eine Schere, mit der rechten kämpfte ich mit dem Geschenkband. | |
Vor mir wuchs eine immer längere Schlange, die alle jetzt sofort ihr | |
Präsent schön verpackt haben wollten. Ich lächelte. Plötzlich eine Stimme. | |
Ein Kunde sprach zu mir. Ich blickte auf, lächelte ihn an. „Das ist doch | |
eine Wohltat, diese Stimme zu hören, oder?“, sagte die Stimme. „Anna | |
Netrebko! Eine begabte Frau. Tja, wären Sie auch so begabt, müssten Sie | |
nicht hier oben stehen und Geschenke einpacken.“ | |
In was für einer Gesellschaft leben wir? Wo einerseits Menschen daran | |
erkranken, dass ihre Leistungen nicht anerkannt werden, andere erst gar | |
keine Chance erhalten, sich um etwas verdient zu machen? Und was sind das | |
für Leute, die genau danach streben – sich verdient zu machen? | |
## Gestern Unternehmensberaterin, heute Sozialarbeiterin | |
Nach 400 Bewerbungen jedenfalls weiß ich nicht mehr, wer oder was ich | |
eigentlich bin oder sein will. Gestern Unternehmensberaterin, heute | |
Sozialarbeiterin, morgen Feuerwehrmann? „Unterstreichen Sie den Teil Ihrer | |
Persönlichkeit, der für die Stelle relevant ist.“ Diese Anleitungen zur | |
perfekten Bewerbungsmappe sagen aber nie, wie oft man das machen soll. Das | |
Resultat dieser Tortur ist, dass sich neben dem Ego noch zwei weitere | |
entwickeln, von denen eines denkt, warum bist du damals nicht zur | |
Fremdenlegion gegangen? | |
Bevor ich mich dazu durchgerungen hatte, Hartz IV zu beantragen, ging es | |
wirtschaftlich erst noch einmal bergab. Ich erinnere mich an ein | |
Bewerbungsgespräch. Die Dame fragte mich: „Unter welchen Stresssituationen | |
haben Sie schon gearbeitet?“ Ich lebe seit zwei Jahren am Existenzminimum | |
mit knapp 400 Euro im Monat, wovon ich, wenn ich nicht auf Feldbetten, im | |
Keller von Bekannten, auf der Couch von Wildfremden oder Oma schlafe, noch | |
150 Euro Krankenversicherung – freiwillig – zahle, schoss es mir durch den | |
Kopf. | |
„Ich bin mal in einem Café in Kairo unter Beschuss geraten, aber das war ja | |
nicht während der geregelten Arbeitszeit“, antwortete ich stattdessen. „Oh, | |
und wie haben Sie sich da gefühlt? Wie war Ihre Reaktion?“ „Ich habe | |
versucht, mein Getränk zu bezahlen, und mein Wechselgeld abgewartet“, | |
antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich erhielt eine Absage – | |
„lebensgefährlicher Beschuss“ stand ja auch nicht als Anforderung im | |
Stellenprofil. Für die Fahrt nach Hause hatte ich nur noch 1,50 Euro: Das | |
reichte nur für Kurzstrecke, also nicht bis nach Hause. Ich lief. | |
## Essen portionieren | |
Auf dem Weg erhielt ich drei weitere Bewerbungsabsagen per E-Mail. „Wir | |
wünschen Ihnen alles Gute für Ihren beruflichen Lebensweg“ – ein ritueller | |
Eiertanz, mit dem sich der verhinderte Arbeitgeber von aller Verantwortung | |
loskauft. Man winkt aus dem abfahrenden Zug ein letztes Mal dem auf dem | |
Bahnsteig Zurückgelassenen und wünscht ihm, dass er den nächsten Zug nehmen | |
darf. | |
Ich lebte zur Untermiete, portionierte mein Essen strikt, hatte kaum mehr | |
Sozialleben und auch irgendwann keine Krankenversicherung mehr. | |
Der deutsche Arbeitsmarkt hat zwar nur bedingt Platz für Menschen, die | |
nicht den direkten Weg ans Ziel gehen, aber eins muss man ihm lassen – er | |
fängt diese Menschen zumindest im Sammelbecken Hartz IV auf. Und wenn man | |
Glück hat, wird man irgendwann in ein Call-Center gesteckt. Meine Expertise | |
liegt schließlich im Promotion-Bereich. | |
9 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Stefanie Schmidt | |
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