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# taz.de -- Syrienkonflikt und Flüchtlingshilfe: Fußball und Prothese
> Im jordanischen Camp Zaatari leben viele, die der Krieg in Syrien
> verkrüppelt hat. Eine Organisation hat sich darauf spezialisiert, ihnen
> zu helfen.
Bild: Die Hilfe für die Familien im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari ist…
AMMAN / ZAATARI taz | Jooris rechtes Bein ist unterhalb des Knies
blutunterlaufen und nicht einmal halb so dick wie das linke. Von Muskeln
keine Spur mehr. Der stark nach innen gekrümmte Fuß steht schief ab und hat
nur noch zwei Zehen. Ein Granatsplitter hat die Zehnjährige aus der
südsyrischen Provinz Daraa vor acht Monaten beim Spielen mit der Freundin
getroffen.
Seit einer ersten Notoperation läuft sie auf Krücken. Jooris Freundin wurde
von einem Splitter im Hals getroffen, sie war sofort tot. Aber „Joori wird
eines Tages wieder auf zwei Beinen gehen können“, sagt Mohammed Fadel
zuversichtlich.
Vorsichtig dreht der jordanische Medizintechniker der Hilfsorganistion
Handicap International (HI) an den Schrauben des Drahtgestells, das Jooris
Unterbein zusammenhält und entsprechend dem Körperwachstum nachjustiert
werden kann. „Eine Konstruktion, die wir eigens für die kriegsverletzten
Kinder und Jugendlichen aus Syrien entwickelt haben.“ Fadels nächster
Patient hat weniger „Glück gehabt“ als Joori. Das linke Bein des
18-jährigen Moh’d ist endgültig weg.
Nach einem Bombenangriff auf das Haus seiner Familie lag Moh’d zwei Tage
und Nächte unter zentnerschweren Trümmern, bevor er gerettet wurde. Das
Bein musste amputiert werden. An den verbleibenden kurzen Stummel hat ihm
der Medizintechniker eine Prothese angepasst. Doch die muss jede Woche auf
ihren korrekten Sitz überprüft werden, damit sich der Beinstummel nicht
wund scheuert und entzündet.
Die Behandlungspraxis von Fadel befindet sich in einem schmucklosen, knapp
18 Quadratmeter großen Container im Flüchtlingslager Zaatari, rund 85
Kilometer nordöstlich der jordanischen Hauptstadt Amman, nahe der syrischen
Grenze. Im Nachbarcontainer macht Physiotherapeut Loai Maher gerade
Bewegungsübungen mit dem 22-jährigen Khalid. Sein Bein wurde durch eine
Gewehrkugel am Kniegelenk beschädigt. Die erforderliche komplizierte
Operation erfolgte erst nach seiner Flucht nach Jordanien in einem Ammaner
Krankenhaus. „Wenn Khalid seine Übungen auch regelmäßig zu Hause machen
würde, könnte er schon bald wieder Fußball spielen“, sagt Maher mit leicht
vorwurfsvollem Unterton.
## Besonders Schutzbedürftige
In einem weiteren Container spielt Sozialarbeiterin Iba Khalil Memory mit
der fünfjährigen Rama, die seit Geburt durch eine Gehirnerkrankung schwer
behindert ist. Auf Bänken zwischen den drei Containern warten geduldig
zahlreiche Patienten, darunter sehr viele Kinder mit ihren Müttern, bis sie
an die Reihe kommen. Im Unterschied zu Ländern wie Laos oder Afghanistan,
wo Handicap International ausschließlich Menschen versorgt, die durch
Antipersonenminen oder Streumunition körperlich verletzt und verstümmelt
wurden, kümmert sich die Hilfsorganisation im Syrienkonflikt darüber hinaus
auch um traumatisierte, alte, behinderte und besonders schutzbedürftige
Menschen unter den inzwischen über 12 Millionen Flüchtlingen und
Binnenvertriebenen.
Zu dieser Gruppe gehört auch die 92-jährige Aysha, die älteste Bewohnerin
von Camp Zaatari. Die schwer gehbehinderte und leicht altersverwirrte Frau
stammt aus einem südsyrischen Dorf, das im Bürgerkrieg mehrfach heftig
umkämpft war. Der volle Name soll hier nicht genannt werden, um eventuell
noch lebende Verwandte nicht zu gefährden. Vor neun Monaten brachten
Nachbarn die alte Frau im Auto über die Grenze nach Jordanien und lieferten
sie in Zaatari ab. Hier lebt Aysha auf dem Boden in einem der etwa zehn
Quadratmeter großen Standardzelte des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge
(UNHCR). Die wöchentliche Visite der Sozialarbeiterin und des
Physiotherapeuten bringen ein wenig Abwechslung in das Leben der völlig
vereinsamten Frau. Ihre Besucher fragt Aysha immer wieder mit großer
Verzweiflung nach dem Schicksal ihrer Kinder und Enkel, von denen sie seit
ihrer Flucht aus Syrien nichts mehr gehört hat.
Mit derzeit über 85.000 BewohnerInnen vornehmlich aus den grenznahen
südlichen Regionen Syriens ist Camp Zaatari das zweitgrößte
Flüchtlingslager der Welt. Die Versorgung dieser Menschen mit
Nahrungsmitteln und sonstigen Gütern des täglichen Bedarfs ist – im
Unterschied zu den meisten anderen Flüchtlingslagern dieser Welt – nicht
allein von Lieferungen des UNHCR, des Welternährungsprogramms oder anderer
humanitärer Organisationen abhängig. Es gibt im Lager mehrere hundert
kleine Läden, die von jordanischen Händlern beliefert werden, und es gibt
Friseure, Schuhmacher und viele andere Dienstleistungsbetriebe. Die
Regierung in Amman war klug genug, den syrischen Flüchtlingen, die
außerhalb der Lager nicht arbeiten dürfen, dieses Gewerbe im Lager zu
erlauben. Zumal die lokale jordanische Wirtschaft davon profitiert.
## 80 Prozent der Flüchtlinge leben in Wohnungen
80 Prozent der inzwischen fast 700.000 syrischen Flüchtlinge in Jordanien
leben allerdings nicht in den Lagern, sondern in Wohnungen verstreut über
das ganze Land. Wenn sie die Mieten nicht durch eigene Ersparnisse
bestreiten können, übernimmt das UNHCR die Kosten. Die körperlich
Verletzten und besonders Schutzbedürftigen unter ihnen werden von den
mobilen Teams von Handicap International betreut.
Ein besonders tragischer Fall ist die Familie des 40-jährigen Kamal. Er
selbst wurde durch eine Schussverletzung arbeitsunfähig. Zwei seiner fünf
Kinder erkrankten im Alter von 8 und 11 Jahren schwer – möglicherweise
infolge ihrer Traumatisierung durch den Krieg. Beide Kinder haben die
Fähigkeit zu sprechen und zu hören verloren und sitzen weitgehend
bewegungsunfähig im Rollstuhl. Bislang konnten die jordanischen Ärzte die
Ursache der Erkrankung nicht feststellen. Die siebenköpfige Familie lebt
zusammen mit der völlig tauben Schwester von Kamals Frau, der eine
Bombenexplosion beide Trommelfelle zerrissen hat, in einer circa 40
Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung in Amman. Doch über die Lippen dieser
so schwer vom Schicksal getroffenen Menschen kommt kaum ein Wort der Klage.
Nur Dank und Lob für die Jordanier, die sie aufgenommen haben, und für die
unmittelbaren Haus- und Wohnungsnachbarn, die ihnen im täglichen
Überlebenskampf helfen.
Lediglich der 42-jährige Khalid, der mit Frau und zwei kleinen Kindern in
zwei kleinen Zimmern in einem Vorort von Amman lebt, beschwert sich, dass
„der Mietzuschuss des UNHCR zu gering“ sei. Unter den Flüchtlingen ist er
auch der Einzige, der sich darüber äußert, welche Konfliktpartei im
syrischen Bürgerkrieg für seine Verletzungen und zeitweise völlige Lähmung
der Beine und Sprechorgane verantwortlich war.
## Denunziert, inhaftiert, gefoltert
„Ich wurde von einem Arbeitskollegen wegen meiner kritischen Äußerungen
über das Assad-Regime denunziert, von der Sicherheitspolizei verhaftet und
über zwei Monate lang fast täglich verhört und mit Elektroschocks sowie
Schlägen auf Rücken und Beine gefoltert.“ Da Khalid seinen Folterern
„nichts Wichtiges verraten konnte“, ließen sie ihn wieder laufen. Sein
Schwager brachte ihn im Auto über die syrische Grenze nach Amman. Dank
intensivem Sprechtraining und physiotherapeutischer Behandlung kann Khalid
inzwischen wieder fast so gut sprechen wie vor seiner Verhaftung.
n zwei Monaten will er „wieder ganz gesund sein, endlich arbeiten und meine
Familie selber ernähren“. Dass syrische Flüchtlinge außerhalb der Camps
nicht arbeiten dürfen, schreckt ihn nicht. „Ich werde schon etwas finden“,
meint er zuversichtlich. Tatsächlich arbeiten in Jordanien nach
inoffiziellen Angaben Tausende syrische Flüchtlinge „illegal“. Doch
mittelfristig will Khalid mit seiner Familie „auf jeden Fall wieder zurück
nach Syrien, in meine Heimat“.
Im Lager Zaatari spielen zwei Jungs Fußball. Beide tragen Trikots vom FC
Bayern München. Dem mitkickenden Reporter aus Deutschland schwärmen die
beiden vor von Ribéry, Müller und Co, deren Spiele sie zu Hause in Syrien
immer im Fernsehen mitverfolgten. Hier im Lager geht das zu ihrem größten
Bedauern nicht, weil es für die Flüchtlinge weder eine Satellitenversorgung
noch Internetzugang oder ein funktionierendes Mobilfunknetz gibt. „Aber
wenn wir wieder zu Hause in Syrien sind, dann soll der FC Bayern kommen und
gegen unsere Nationalmannschaft spielen.“
Die Reise wurde von Handicap International unterstützt
1 Mar 2015
## AUTOREN
Andreas Zumach
## TAGS
Flüchtlingshilfe
Jordanien
Syrischer Bürgerkrieg
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