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# taz.de -- Syrische Flüchtlinge in Jordanien: Die Ausgeschlossenen
> In Jordanien sind rund 630.000 Flüchtlinge registriert. Die jungen Leute
> unter ihnen haben kaum Zugang zu Bildung. Majd Khodury ist einer von
> ihnen.
Bild: Amman, September 2015. Jordanische und syrische Jugendliche proben für d…
Amman taz | Im Supermarkt fixiert Majd Khodury sein nächstes Opfer. Ein
älterer Mann schlurft heran. Khodury setzt ein Lächeln auf.
„Entschuldigung, haben Sie eine Minute? Welche Zahnpasta benutzen Sie?“ Der
Mann schaut irritiert, bleibt aber stehen. Khodurys Chance. „Es gibt ein
neues Angebot für empfindliche Zähne, damit verschwindet der Schmerz in 30
Sekunden“, fährt er fort und strahlt, als hätte die Zahnpasta ihn just
selbst von allen Sorgen des Lebens befreit.
Der Safeway in West-Amman ist eine dieser gigantischen amerikanischen
Konsumhallen, in denen allein die Auswahl an Müslisorten nicht ein
Regalbrett, sondern Wände füllt. Ausländer und wohlhabende Jordanier kaufen
hier ein. Khodury, 20, ein Mann mit Dreitagebart und Schalk in den Augen,
steht im weißen „Signal“-Kittel vor einem Stand mit Zahnpastapackungen. Ein
paar Meter weiter warten ebenfalls junge Männer darauf, Deos oder Rasierer
anzupreisen, sie sind von der Konkurrenz. Aber niemand stürzt sich so
enthusiastisch auf die Kunden wie Khodury. 70 Packungen verkaufe er an
guten Tagen, flüstert er vergnügt, das schaffe hier niemand sonst. In
Khodurys neuem Leben wird Erfolg in der Zahl verkaufter Zahnpastatuben
bemessen.
Seit zwei Jahren lebt der junge Syrer in Jordanien. Der Krieg in seiner
Heimat hat nicht nur Städte verwüstet und Leben ausgelöscht, er hat auch
Träume zerstört. Khodury träumte davon, Lehrer zu werden.
In der Pause lehnt er draußen auf dem Parkplatz an einem Betonpfeiler und
raucht. „Ich habe in der Schule meine Lehrer gefragt, was sie werden
wollten, als sie jung waren“, erzählt er. „Einer sagte ,Ingenieur‘, ein
anderer ,Arzt‘. Keiner wollte Lehrer werden, und deshalb haben sie alle
schlecht unterrichtet. Ich will es besser machen.“ Am liebsten möchte
Khodury Englischlehrer werden. Er spricht die Sprache gut, alles selbst
beigebracht, sagt er: „Ich bin verliebt in Englisch!“
## „Uni, ich komme!“
Im Frühjahr 2013 hatte er sich in seiner Heimatstadt Aleppo für ein
Englischstudium eingeschrieben. „Die Uni war wegen des Krieges
geschlossen“, sagt er und muss lächeln bei der Erinnerung. „Ich bin
hingegangen, nur um sie mir anzuschauen. Ich komme!, dachte ich.“
Viele der über 600.000 syrischen Flüchtlinge in Jordanien sind junge Männer
und Frauen, viele haben wie Majd Khodury ein Studium gar nicht beginnen
können oder mussten es abbrechen; das Assad-Regime wiederum hatte vor dem
Krieg stark in Bildung investiert, die Universitäten ausgebaut und eine
Generation von Jungakademikern herangezogen.
Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Keith David Watenpaugh von der
University of California kommt in einer aktuellen Untersuchung zu dem
Schluss, dass weniger als zehn Prozent der syrischen Studenten in Jordanien
ihr Studium fortsetzen können. Viele sind nicht mehr im Besitz ihrer
Zeugnisse, außerdem verfügen sie meist nicht über die Mittel für
Studiengebühren. Stattdessen schlagen sie sich mit schlecht entlohnten Jobs
durch. Dabei wird man eines Tages gerade die jungen, gut ausgebildeten
Syrer für den Wiederaufbau brauchen, sagt Watenpaugh.
## Ein Heer frustrierter junger Menschen
Der US-Forscher warnt, dass ein Heer frustrierter junger Menschen zur
tickenden Zeitbombe werden und leichte Beute für extremistische
Organisationen wie den „Islamischen Staat“ werden könnte. Er fordert die
internationale Gemeinschaft auf, Universitäten in den Anrainerstaaten zu
unterstützen und mehr Stipendien- und Bildungsprogramme für Syrer
aufzulegen. „Wir können es uns nicht leisten, diese Generation zu
verlieren“, sagt er.
Majd Khodury verbringt nun seine Tage im Supermarkt statt im
Vorlesungssaal. Vor zwei Jahren haben sie – via Libanon – Syrien verlassen.
Mit seinen Eltern und Brüdern teilt er sich eine kleine Wohnung in
West-Amman. Der Vater hat eine kleine Schuhwerkstatt eröffnet, in der
Khodury gelegentlich aushilft, wenn er gerade keine Zahnpasta verkauft –
für fünf jordanische Dinar am Tag, 6,60 Euro.
Khodury zieht sein Smartphone aus der Hosentasche und öffnet Fotos, die ihn
inmitten von Freunden zeigen, Freunden aus seinem neuen Leben, nach der
Flucht. Es fällt ihm leicht, Menschen kennenzulernen, das ahnt man, wenn
man beobachtet, wie charmant er Kunden im Supermarkt in ein Gespräch
verwickelt.
## Studieren und ein fester Job
„Neulich sind wir alle zusammen ans Tote Meer gefahren“, sagt er. „Meine
Freunde haben Geld, und wenn wir etwas unternehmen, laden sie mich ein. Ich
habe Spaß mit ihnen, aber ich warte darauf, dass ich endlich selbst
bezahlen kann.“ Er drückt die Zigarette aus. „Meine Lehrer haben immer
gesagt: Geld ist nicht wichtig. Aber ich merke jetzt, dass das nicht
stimmt. Alles, was ich will, ist studieren und ein fester Job.“
Vor einigen Monaten hat er am British Council, dem britischen Pendant zum
Goethe-Institut, einen Englischtest absolviert. Er landete unter den zehn
Besten, weshalb er nun zu einem Kurs zugelassen ist, der, für ihn
kostenfrei, dreimal die Woche stattfindet. „Das hat mein Leben verändert“,
sagt er, mit fast kindlicher Begeisterung, „ich habe das Gefühl, als würde
ich richtig studieren!“
An einem sonnigen Nachmittag trifft er sich nach dem Kurs mit einem Freund.
Ala‘a Turk, 24, arbeitet in der Rainbow Street in einem Restaurant. Mit
ihren Bars und Restaurants ist die Straße beliebt bei Expats,
Austauschstudenten und liberalen Einheimischen. Hier tragen die meisten
Frauen die Haare unverschleiert, ein ungewohnter Anblick im konservativen
Amman; auf den Speisekarten steht Alkohol, und in den Coffeeshops wird
nicht der süße arabische Kaffee serviert, sondern XL-Latte im Pappbecher,
auf Wunsch mit Sojamilch. Vier, fünf JD kostet ein Kaffee hier, das ist so
viel, wie Turk an einem halben Tag verdient. Die beiden bestellen nichts,
sie rauchen nur. Zigaretten kosten nicht viel in Amman.
## „Du bist auch Syrer, nicht wahr?“
Bevor er im Supermarkt anheuerte, jobbte Khodury in einem Souvenirgeschäft.
Eines Tages im Sommer 2014 spazierte Turk herein. „Hey, sucht ihr noch
Mitarbeiter?“ Khodury hört seinen Akzent, er klingt vertraut. „Frag mal
drüben in der Nirvana Lounge, die suchen einen Koch“, rät er ihm. „Danke�…
sagte Turk. Und dann: „Du bist auch Syrer, nicht wahr?“ So werden die
beiden Freunde.
Bevor Turk 2013 nach Amman kam, hatte er in Damaskus Medizin studiert. Die
Handlanger des Regimes hielten ihn für einen Kämpfer der Rebellen, sie
steckten ihn für zwei Monate ins Gefängnis und folterten ihn täglich,
berichtet er, mit Strom, Schlägen, Stichen. Turk zupft den linken Ärmel
seines T-Shirts hoch, zeigt eine braune Linie auf seinem Oberarm. „Das war
ein Messer“, sagt er, als handele es sich bei der Narbe um einen
Mückenstich.
Sollten ihn Erinnerungen quälen, so lässt er sich jedenfalls nichts
anmerken. Die Frage, wie man zwei Monate Folter übersteht, grinst er weg.
„Das ist Ala‘a, der hält das aus!“, ruft Khodury und lacht, ein übermü…
Jungenlachen, bei dem sich seine Stimme ein wenig überschlägt.
## Keine Arbeitserlaubnis
An diesem schläfrigen Nachmittag im besseren Teil von Amman fällt es
schwer, sich vorzustellen, dass diese beiden Männer vor nicht allzu langer
Zeit Krieg und Gewalt entflohen sind. Auch Turk würde gern sein Studium
fortsetzen. Doch daran ist nicht zu denken: Er arbeitet zwölf Stunden
täglich, sieben Tage die Woche, für umgerechnet knapp 400 Euro. Oft halte
sein Chef einen Teil seines Gehalts zurück, um ihn an sich zu binden,
berichtet er. Auch Khodury ist das bei früheren Jobs schon passiert. Zur
Polizei gehen können sie nicht: Wie die meisten syrischen Flüchtlinge in
Jordanien haben sie keine Arbeitserlaubnis; werden sie erwischt, könnte man
sie zurück nach Syrien schicken.
Majd Khodury und Ala‘a Turk träumen bislang nicht vom puritanischen
Kalifat, sondern von Europa. Sie hätten sich alles schon ausgemalt, sagt
Khodury, sie wollen im selben Haus wohnen und zusammen studieren. „Das ist
unser Traum. „Wir wissen nur nicht, wie wir ihn wahr machen können.“
Einmal haben sie einen Schleuser angerufen. Doch für die gefährliche Reise
über das Mittelmeer verlangte der Mann 4.000 Euro – pro Person. „Das Geld
haben wir nicht“, sagt Khodury. Er lacht, aber dieses eine Mal klingt es
nicht fröhlich. „Ansonsten wären wir längst in Deutschland – oder tot.“
21 Dec 2015
## AUTOREN
Mareike Enghusen
## TAGS
Flüchtlinge
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