# taz.de -- Augenzeugen in Jarmuk: „Alle Formen des Todes erlebt“ | |
> Palästinensisches Flüchtlingslager und Stadtteil von Damaskus: Jarmuk | |
> wurde vom IS überrannt. Die Bewohner kämpfen um ihr Leben. | |
Bild: Eine aus Jarmuk geflohene Familie in Damaskus. | |
JERUSALEM/BERLIN taz | WhatsApp, Viber, Facebook – das sind die Kanäle, die | |
die Eingeschlossenen mit der Außenwelt verbinden. Apps, die nicht viel | |
Internet-Kapazität verbrauchen. Denn daran mangelt es in Jarmuk, dem | |
palästinensischen Flüchtlingscamp im Süden der syrischen Hauptstadt | |
Damaskus. So wie an allem anderen auch. | |
Seit Kämpfer des Islamischen Staats (IS) Jarmuk Anfang April überrannten, | |
hat sich die ohnehin desaströse humanitäre Lage dort verschärft. „Gott | |
stehe den Menschen bei, die noch im Camp sind“, schreibt ein Aktivist aus | |
Jarmuk. „Der Einmarsch von Daesh [arabisches Akronym für IS, Anm. d. Red.] | |
hat noch mehr Leid über sie gebracht. Sie haben alle Formen des Todes | |
erlebt und ziehen es jetzt vor, in Würde zu sterben, als noch einmal zu | |
fliehen.“ | |
Der Mann wurde von IS-Kämpfern gesucht und konnte vor Kurzem in ein nahe | |
gelegenes Dorf fliehen, erklärte eine Sprecherin der | |
Nichtregierungsorganisation Palestinian League for Human Rights/Syria | |
(PLHR-S) in Beirut, die ihn zitiert. Die Organisation hat ständig Kontakt | |
zu Aktivisten in Jarmuk, meist über Apps. Ihre Berichte vermitteln einen | |
Eindruck von dem Überlebenskampf, dem sich die 16.000 verbliebenen Bewohner | |
tagtäglich stellen. | |
Mindestens 18 Zivilisten sind in den Kämpfen zwischen IS, Regierungstruppen | |
und palästinensischen Milizen umgekommen, berichtet Amnesty International. | |
IS-Kämpfer sollen mehrere Menschen enthauptet haben; die PLHR-S kennt vier | |
bis fünf Fälle. Die größte Gefahr jedoch, betont die Sprecherin, drohe von | |
den Regierungstruppen: Nach dem Einfall des IS begann das Assad-Regime, | |
täglich Fassbomben über dem Camp abzuwerfen. „Jarmuk ist sehr dicht | |
bebaut“, sagt die Sprecherin, „eine Fassbombe hat einen extrem großen | |
Zerstörungsradius.“ | |
## Fassbomben in der Nacht | |
Der Radiosender Al-Yarmouk 63, betrieben von Aktivisten in Beirut, die aus | |
Jarmuk stammen, übertrug am 11. April den Augenzeugenbericht eines | |
19-jährigen Bewohners. „Die Fassbomben fallen meistens in der Nacht. Wir | |
sitzen zu Hause und hören die Explosionen, wir hören die Flugzeuge näher | |
kommen und fragen uns: Wann sind wir dran?“, sagt der junge Mann hastig, | |
die Anspannung ist ihm anzuhören. „Man betet und wartet, dass das Flugzeug | |
das Haus zerstört. Die Situation hier ist schlimmer, als Worte das | |
beschreiben könnten.“ | |
Nach einem Bericht der deutschen Solidaritätskampagne Adopt a Revolution, | |
die ebenfalls Kontakte nach Jarmuk hat, erfolgt der Beschuss mit | |
Mörsergranaten und Fassbomben dort, wo bewaffnete palästinensische | |
Gruppierungen den IS-Milizen noch Widerstand leisten. Das Kalkül, sich mit | |
den Dschihadisten arrangieren zu können, zeige das Regime auch dadurch, | |
dass die Übergänge ins Stadtzentrum für die Zivilbevölkerung geschlossen | |
blieben. So müssten diejenigen, die sich vor den Kämpfen in Sicherheit | |
bringen wollen, in Gebiete fliehen, die IS kontrolliert. | |
Das Wochenende schien zumindest eine Atempause zu bringen. So meldete | |
Al-Yarmouk 63 am Samstagabend: „Nach zehn Tagen anhaltender Kämpfe waren | |
die Straßen des Jarmuk-Camps heute ruhig. Es gibt Gerüchte, dass der IS | |
plant, sich aus Jarmuk zurückzuziehen.“ | |
An der humanitären Lage ändert das jedoch wenig, solange das Regime seinen | |
Griff nicht lockert. Seit zwei Jahren belagern dessen Truppen das Camp, | |
schotten es weitgehend ab. 176 Menschen sind laut der PLHR-S mangels | |
humanitärer Versorgung gestorben. „Ich habe kein Einkommen, die anderen | |
Familien auch nicht, wir sind auf Lebensmittellieferungen angewiesen“, | |
sagte am Samstag ein Aktivist namens Ahmed B. im Interview mit Al-Yarmouk | |
63. Zwar verteilten humanitäre Organisationen Lebensmittel, doch die Hilfe | |
erreiche längst nicht alle. | |
## Stadtgärten und Schulunterricht | |
Der einzige winzige Lichtblick: Zwei von Aktivisten betriebene Schulen sind | |
seit Montag wieder geöffnet, nachdem sie wegen der Kämpfe hatten schließen | |
müssen. „Die Schulen sind für die Kinder eine Art zweites Zuhause | |
geworden“, sagte Ahmed B. „Bildung war uns Palästinensern immer sehr | |
wichtig. Wir haben gesagt: Ein Kind ohne Bildung ist kein palästinensisches | |
Kind. Und nun? Nun geht es nur noch darum, dem Essen hinterherzujagen.“ | |
Die Aktivisten, die Jarmuk am Leben halten, Schulen betreiben – sie sind | |
es, die Jarmuk zu einem besonderen Ort machen, betont die Sprecherin der | |
PLHR-S in Beirut. Berichte, die die Bewohner als hilf- und willenlose Opfer | |
zeichnet, machten sie wütend. „Jarmuk ist ein großartiges Beispiel für eine | |
Gesellschaft, die sich selbst organisiert inmitten eines humanitären | |
Desasters.“ So wurden etwa Stadtgärten für den Anbau von Lebensmitteln | |
angelegt, Schulunterricht organisiert und Bedürftige unterstützt, wie Adopt | |
schreibt. | |
Ehe der syrische Bürgerkrieg 2013 Jarmuk erreichte, säumten zwei- und | |
mehrstöckige Häuser die Straßen. Damals übernahmen Regimegegner die | |
Kontrolle über Jarmuk, was immer wieder zu Gefechten führte, vor allem aber | |
zu einer Hungerblockade, weil die Armee die Zugänge zum Lager abriegelte. | |
Die derzeitige „Atempause“ geht vermutlich darauf zurück, dass sich der | |
UN-Gesandte Ramzi Ezzedine Ramzi derzeit in Damaskus aufhält, wo er mit der | |
syrischen Führung Gespräche über eine Lösung für Jarmuk führt. Helfer und | |
Aktivisten fordern eine Kampfpause, um die Bevölkerung versorgen zu können. | |
13 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Mareike Enghusen | |
Beate Seel | |
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