# taz.de -- Blockade von Jarmuk: In der Falle | |
> Einst zählte Jarmuk zu den lebendigsten Vierteln von Damaskus, heute | |
> gleicht es einer Geisterstadt. Die Geschichte einer syrischen Tragödie. | |
Bild: Heute liegen die Straßen von Jarmuk ausgestorben da | |
BERLIN taz | Ob er noch lebt, der „Piano Man“ von Jarmuk? Und wo er wohl | |
sein Klavier versteckt in diesen Tagen? Ayham Ahmad singt seit Anfang 2014 | |
in den Straßen des Palästinenserviertels von Damaskus gegen das Elend an. | |
Sein Klavier steht auf einem fahrbaren vierrädrigen Gestell, das er mit | |
Freunden durch das zerstörte Viertel schiebt, um die Menschen aufzumuntern. | |
Klaviermusik ist seine Antwort auf das Dröhnen des Krieges. | |
Und seine Rettung. Der Sohn eines Instrumentenbauers und Geigers spielt | |
Klavier, seit er sechs Jahre alt ist, und studierte Musikwissenschaften in | |
Homs, bevor ihn der Krieg 2012 zurück nach Jarmuk trieb. „Es gibt hier | |
keine Zukunft“, sagt Ayham in dem kurzen Dokumentarfilm „Blue“ über das | |
Viertel von 2014. „Ich weiß nicht, was morgen sein wird. Deshalb denke ich | |
nicht an morgen, sondern nur an meine Lieder.“ Die handeln vom Alltag in | |
Jarmuk. Von Hunger und abgestelltem Wasser, von Delegationen, die kommen | |
und gehen, und von ihren Versprechen, die immer mehr werden, während die | |
Menschen sterben. | |
Die Bilder aus Jarmuk erinnern dieser Tage an das Warschauer Ghetto. | |
Ausgebombte Wohnhäuser, Schuttberge, kaputte Straßen, ausgezehrte Menschen. | |
Mehr als 160 Zivilisten sind bereits verhungert, noch etwa 6.000 sind dort | |
eingeschlossen. Eine Geisterstadt – ausgerechnet Jarmuk. Wo früher die | |
Hauptstraßen und engen Häuserschluchten bis spät abends erfüllt waren vom | |
Lachen der Menschen, knallen jetzt Schüsse. | |
Wo Obst- und Gemüseverkäufer ihre Ware anpriesen, herrscht Stille. Und in | |
den vielen kleinen Läden, in denen preisbewusste Damaszener einst ihre | |
Hemden und Hosen kauften, sind die Rollläden längst heruntergelassen. Tod | |
und Zerstörung haben Jarmuk zum Schweigen gebracht – dabei zählte das | |
Viertel mit mehr als 160.000 Einwohnern zu den lebendigsten Ecken der | |
syrischen Hauptstadt. | |
## In Syrien dürfen Palästinenser arbeiten | |
Bei wenig Verkehr brauchte man vom Zentrum aus etwa zwanzig Minuten nach | |
Jarmuk. Am Eingang erinnert ein großer Torbogen daran, dass sowohl Jarmuk | |
als auch das benachbarte Camp Falastin 1957 als Flüchtlingslager angelegt | |
wurden. Palästinenser, die 1948 und 1967 vor den Kriegen in ihrer Heimat | |
fliehen mussten, fanden hier ein neues Zuhause. Zelte und Notunterkünfte | |
wurden im Laufe der Jahre durch Wohnhäuser ersetzt, die Straßen nach den | |
Geburtsorten ihrer Bewohner – Lubia, Haifa und Jaffa – benannt. | |
Die UNRWA, die für die Palästinenser zuständige Organisation der Vereinten | |
Nationen, kümmert sich auch in Syrien um die Ausbildung und gesundheitliche | |
Versorgung der Palästinenser. Anders als im Libanon dürfen Palästinenser in | |
Syrien jedoch studieren und arbeiten, sogar für den syrischen Staat. Es | |
geht ihnen also lange verhältnismäßig gut unter der Herrschaft der Assads – | |
auch wenn diese die Palästinenser für ihre eigenen Machtinteressen | |
benutzen. | |
Als kluger Stratege und skrupelloser Herrscher versteht es Hafis al-Assad, | |
der Vater des heutigen Präsidenten, die Palästinenser politisch an sich zu | |
binden. Dabei setzt er auf die radikalen Parteien – jene, die Verhandlungen | |
mit Israel ablehnen und mit Gewalt für die palästinensische Sache kämpfen. | |
Zunächst sind das säkulare marxistisch-leninistische Gruppen wie die | |
Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und deren nationalistische | |
Abspaltung Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC) | |
unter dem syrisch-palästinensischen Offizier Ahmad Dschibril, später die | |
religiös motivierte Hamas. | |
Sie alle gelten im Westen wegen ihrer Bomben- und Selbstmordanschläge als | |
Terrororganisationen. Palästinenser und Syrer betrachten sie dagegen als | |
legitimen bewaffneten Widerstand. Assad wird zum Hauptsponsor dieses | |
Widerstands, denn er braucht die bewaffneten Gruppen, um den Druck auf das | |
übermächtige Israel aufrechtzuerhalten, das bis heute den syrischen Golan | |
besetzt hält. | |
## Zwickmühle Syrien | |
Die PFLP-GC und die Hamas haben ihre Büros jahrelang in Jarmuk. Auch | |
Baschar al-Assad, seit 2000 an der Macht, lässt sie gewähren, solange sie | |
mit Blick auf Israel an einem Strang ziehen. An den Hauswänden von Jarmuk | |
hängen Porträts ermordeter Hamas-Führer, regelmäßig wird gegen Israel | |
demonstriert. Allerdings laufen syrische Geheimdienstler immer mit – die | |
palästinensischen Parteien organisieren, das Regime kontrolliert. Assad hat | |
alles im Griff – bis im März 2011 die Syrer gegen sein Regime aufbegehren. | |
Der Aufstand und Assads brutale Reaktion darauf bringen die Palästinenser | |
in eine Zwickmühle. Einerseits fühlen sie sich dem syrischen Staat zu Dank | |
verpflichtet, andererseits sympathisieren sie mit den Demonstranten und | |
sind entsetzt über die massive Gewalt gegen Zivilisten. Die | |
palästinensischen Parteien gehen unterschiedliche Wege. Die Hamas ergreift | |
nach einigen Monaten Partei für die syrischen Rebellen, Politbürochef | |
Chaled Meschal verlässt Syrien im Februar 2012. Anders Ahmad Dschibril mit | |
seiner PFLP-GC. Er erweist sich als Assads treuster Vasall und Statthalter | |
in Jarmuk. | |
Um von den Anti-Regime-Demos abzulenken und eine Warnung in Richtung Israel | |
zu schicken, organisiert die PFLP-GC im Mai 2011 einen Marsch | |
palästinensischer Jugendlicher zur Waffenstillstandlinie auf dem Golan. | |
Eine wahnsinnige Aktion, da die Jugendlichen durch die UN-überwachte und | |
verminte entmilitarisierte Zone laufen, ohne dass sie jemand aufhält. Am | |
Ende klettern einige von ihnen über den Zaun, israelische Soldaten schießen | |
scharf und töten 13 Demonstranten. Drei Wochen später sterben bei einer | |
ähnlichen Golan-Aktion 23 Jugendliche, 300 werden verletzt. | |
## Das Regime greift 2012 an | |
Die Menschen in Jarmuk machen die PFLP-GC für das Massaker verantwortlich | |
und fühlen sich als Kanonenfutter für Assads Machterhalt missbraucht. Sie | |
tragen ihre Wut zum Hauptquartier der Partei und zünden es an. Daraufhin | |
muss die PFLP-GC das Viertel verlassen, Jarmuk wird zur oppositionellen | |
Zone. Tausende Syrer flüchten vor der Gewalt andernorts in das Lager und | |
die Rebellen der Freien Syrischen Armee übernehmen die Kontrolle, denen | |
sich viele junge Palästinenser anschließen. | |
Mitte Dezember 2012 beginnt das Regime seinen Angriff auf Jarmuk, die erste | |
Rakete trifft eine Moschee voller Flüchtlinge. Assads Truppen kreisen das | |
Gebiet ein und verhängen eine Blockade, die sie seitdem mit Hilfe der | |
PFLP-GC aufrechterhalten – Palästinenser riegeln Palästinenser ab. In | |
Jarmuk entwickelt sich ein aktiver ziviler Widerstand. | |
Gruppen wie das Watad Center organisieren Workshops zu Themen wie | |
Demokratie, Menschenrechte und Fotografie, humanitäre Organisationen wie | |
die Jafra Foundation besorgen auf verschlungenen Wegen Nahrungsmittel und | |
Medikamente für die Bewohner. Wie überall in Syrien sind es diese | |
demokratischen Kräfte, die Assad mit allen Mitteln bekämpft, denn sie | |
stehen für ein alternatives Syrien und sind deshalb eine viel größere | |
Bedrohung als die Terroristen des Islamischen Staats (IS). | |
## Verzweiflung radikalisiert | |
Als Anfang April der IS nach Jarmuk eindringt, sind sich deshalb viele | |
Aktivisten sicher, dass Assad sie bewusst nicht aufgehalten hat. Denn die | |
Versuche gemäßigter Brigaden, die Blockade zu durchbrechen, waren zuvor | |
regelmäßig gescheitert. Seit Monaten hatte die FSA in Jarmuk an Einfluss | |
verloren, und besser ausgestattete radikale Gruppen wie der | |
al-Qaida-Ableger Nusra-Front hatten an Rückhalt gewonnen. Über die | |
Checkpoints der Nusra-Front sollen die Kämpfer des IS nach Jarmuk | |
eingedrungen sein, berichten Aktivisten vor Ort. | |
Der IS hatte sich bereits im benachbarten Al-Hajar al-Aswad eingerichtet, | |
wo er Nahrung, Geld und Waffen an die dortige Bevölkerung verteilte. Das | |
zynische Kalkül des Assad-Regimes ging wieder einmal auf: Verzweiflung | |
radikalisiert. Wer zwei Jahre lang machtlos mit ansehen muss, wie Freunde | |
von Raketen zerfetzt werden, wie sich der eigene kranke Vater langsam | |
auflöst und sich die Kinder hungrig in den Schlaf weinen, der nimmt jede | |
Hilfe an. | |
Von der bewaffneten Opposition in Jarmuk ist nicht mehr viel übrig. Die | |
einzige Gruppe, die das Viertel sowohl gegen IS als auch gegen Assad | |
verteidigt, ist die Hamas-nahe Miliz Aknaf Beit al-Maqdis. Die Aktivisten | |
sitzen in der Falle – sie werden sowohl von Assad als auch vom IS gesucht. | |
Mehrere haben ihr mutiges Engagement in Jarmuk jetzt mit dem Leben bezahlt. | |
Jamal Khalife, ein 27-jähriger Medienaktivist des Watad Center, starb bei | |
einem Bombenangriff des Regimes. Majed al-Omari, ein 21-jähriger | |
Mitarbeiter der Jafra Foundation, wurde von einem Scharfschützen des IS | |
getroffen. | |
Am Mittwoch soll sich der IS zurückgezogen und der Nusra-Front das Feld | |
überlassen haben. Für Ayham, den Straßenpianisten, macht das keinen großen | |
Unterschied. Ein Mitglied seiner Musikgruppe wurde gerade vom Regime | |
verhaftet, auch sein Bruder sitzt im Gefängnis. Ayham selbst traut sich mit | |
dem Klavier nicht mehr auf die Straße, seitdem die Nusra-Front in Jarmuk | |
das Sagen hat. Er spielt auf dem Dach seines Hauses. Doch auch dort ist es | |
nicht sicher – wegen der Bomben des Regimes. | |
15 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Kristin Helberg | |
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