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# taz.de -- Straßenmusik in Berlin: Mit Gitarre am U-Bahnhof
> Die BVG erlaubt Straßenmusikanten, an bestimmten Stellen in U-Bahnhöfen
> aufzutreten. Das kostet 7,40 Euro am Tag. Da spielen nur manche gern mit.
Bild: Rund um die Warschauer Straße kämpft das Bezirksamt seit geraumer Zeit …
BERLIN taz | Im Freien vor Leuten musizieren und nebenbei noch etwas Geld
verdienen – eine alltägliche Situation. Und eine schöne Sache, könnte man
im Vorrübergehen denken. In den kargen U-Bahn-Schächten und auf den
Bürgersteigen der Stadt erklingen regelmäßig Akkordeons, Gitarristen oder
Violinen, mal etwas schief, mal wunderschön. Aber auf den öffentlichen
Plätzen Berlins prallen allzu oft Anwohnerinteressen, musikalischer
Freigeist und deutscher Ordnungstrieb aufeinander.
Ein Mittwochmorgen um halb sieben: Zwölf Menschen stehen im U-Bahnhof
Rathaus Steglitz und ziehen Lose. Dabei geht es nicht um den großen
Lottogewinn. Denn die zwölf sind allesamt Straßenmusiker. Sie losen aus, in
welcher Reihenfolge sie sich für die kommende Woche ihre Plätze in den
Gängen und Hallen der U-Bahnhöfe sichern dürfen. Das BVG-Personal stellt am
Schalter im U-Bahnhof am Übergang zur Linie 9 einmal wöchentlich
Genehmigungen für das Musizieren in Berliner U-Bahnhöfen aus. Ein
musikalischer Qualitätscheck findet nicht statt. Wer eine Genehmigung hat,
darf an jenem Tag spielen.
Die Idee mit den Losen stammt von den Musikern selbst. Wer Glück hat und
zuerst dran ist, kann seine Auftrittsorte frei wählen. Begehrt sind
beispielsweise die Schlossstraße oder der Alexanderplatz. Schließlich sind
vermutlich dort, wo mehr Passagiere ein- und aussteigen, am Ende des Tages
auch mehr Münzen in Hut oder Tasche.
## Kein Mindestlohn
Natürlich erhalten Straßenmusiker keinen Mindestlohn: Mal verdienen sie
keine 5 Euro in der Stunde, mal sind es bis zu 30 Euro. Die Gebühr fürs
Musizieren lässt sich die BVG mit 7,40 Euro bezahlen – das Ticket für An-
und Abfahrt ist damit bereits bezahlt. Musik mit Blechblasinstrumenten und
Verstärker verbietet die BVG ebenso wie Musik in den Wagons und am
Bahnsteig.
Die Gruppe der U-Bahn-Musiker an diesem Mittwochmorgen ist bunt
durchmischt. Darunter sind ehemalige Orchestermusiker mit „gebrochenen
Karrieren“, wie BVG-Pressesprecherin Petra Reetz berichtet. 2004 haben die
Straßenmusiker gemeinsam mit Musikern der Deutschen Oper die CD
„Underground Classics“ aufgenommen.
Tilman Finckh, ein Berufsmusiker, ist noch recht neu im „Geschäft“.
Eigentlich spielt er für Bands und im Theater. Zudem hat der
Chanson-Liebhaber auf seinem Musikabend „Duo Chez Jacques“ zusammen mit der
Akkordeonspielerin und Pianistin Szilvia Csaranko deutschlandweit Lieder
von Charles Trenet, Edith Piaf oder Jacques Brel präsentiert.
Erst seit November des vergangenen Jahres erklingen Finckhs Versionen der
romantischen französischen Klassiker auch in Berliner U-Bahnhöfen. Glück im
Unglück hat Finckh, der Musik in Hildesheim studierte, an diesem
Mittwochmorgen. Trotz Los-Pech – er ist Letzter in der Reihe – erwischt er
noch einen Tag im belebten U-Bahnhof Friedrichstraße. Das BVG-Verfahren sei
einfach, und vor Ort würden keine Warteschlangen entstehen, meint Finckh:
„In den U-Bahn-Gängen kann ich neue Songs ausprobieren und gleichzeitig
etwas Geld verdienen.“
Die Menschen wären dort an Musik gewohnt. Außerdem herrsche in den Gängen
anders als draußen kein Stadtlärm, sodass die Akustik auch ohne Verstärker
super sei.
Es ist zehn Uhr geworden. Finckh hat sich im kargen U-Bahn-Gang auf einen
Klapphocker gesetzt, sein Akkordeon auf den Knien. Als er anfängt, mit
seiner rauchigen Stimme „Mon amant de St. Jean“ zu singen, bleibt niemand
stehen. Keiner bemerkt, dass dort jemand spielt, der bereits mehrfach den
Jahresempfang des französischen Generalkonsulats Hamburg begleitet hat.
Umso hektischer und schneller die Leute in ihrem Alltagsstress an ihm
vorbeirauschen, desto langsamer und ruhiger wirkt die Musik von Tilman
Finckh.
## Aber maximales Lob
Geduldiger werden die Berliner erst am Abend ab 19 Uhr, erzählt Finckh
zwischen zwei Stücken, als kaum Passanten vorbeikommen. Dann bleiben sie
häufiger stehen, um einigen Minuten der Musik zu lauschen. Ein fremder
Zuhörer, sagt er, hat sich einmal nach einem Lied mit den Worten bedankt:
„Das war richtig schön mit Herz gespielt.“ Ein anderer habe sich nach einem
Leonard-Cohen-Song entschuldigt, dass er kein Kleingeld dabeihatte – drehte
ihm stattdessen aber eine Zigarette und legte sie mit einem höflichen
Lächeln in seinen Hut.
Während Tilman Finckh ein Arbeitsumfeld gewählt hat, das manchmal fast ein
wenig zu ruhig und beschaulich scheint – kein Stress mit genervten
Anwohnern und Café-Betreibern – kämpft das Bezirksamt in den Partybezirken
rund um die Warschauer Straße in puncto Straßenmusik seit geraumer Zeit
gegen regelrechte Bürgersteigsanarchie. Den Anwohnern werde ohnehin schon
einiges zugemutet, heißt es seitens der Behörde. Dass alle paar Meter noch
ein anderer vermeintlicher Künstler Musik mache, sei des Guten zu viel,
meint man.
Vor dem U-Bahnhof an der Warschauer Straße stehen Musiker – mal Solisten,
mal Bands – Schlange, sobald es etwas wärmer wird. Für einige
Nachtschwärmer entpuppt sich ein unerwartetes Freiluftkonzert mitunter auch
als der Höhepunkt eines Wochenendes.
So hat, anders als Tilman Finckh, die vom Jazz inspirierte sechsköpfige
Band Make a Move den Sprung in das Straßenparty-Getümmel gewagt. Seit 2011
scharen sich bei den regelmäßigen Freiluftkonzerten auf der Oberbaumbrücke
schnell begeisterte Zuhörer, häufig weit über 100, um die inzwischen
sechsköpfige Band, nicken mit den Köpfen, tanzen, jubeln.
Die Bandmitglieder, die allesamt Ende zwanzig sind und Musik studieren
möchten, sind stadtbekannt für ihre Auftritte. „Die Straßenmusik hat eine
ganz eigene Energie“, meint Valentin an einem Samstagabend, an dem es
allerdings noch zu kalt ist, als dass viele Passanten stehen blieben. Im
Frühjahr, so hofft er, werden ihre Straßenkonzerte wieder bis in die frühen
Morgenstunden laufen. Allerdings wurden die Freiluftauftritte von Make a
Move im vergangenen Jahr immer schneller von der Polizei aufgelöst.
„Straßenmusik allein hat so keine Perspektive mehr“, sagt Valentin. Ob die
U-Bahn eine Alternative wäre, das tägliche Anstehen bei der BVG, die
gestressten oder gelangweilten Passanten auf dem Weg zur täglichen Arbeit?
Wohl kaum. Aber nach einem anderen Ort, meint Valentin, wird man sich wohl
umsehen müssen.
5 Mar 2015
## AUTOREN
Moritz Förster
## TAGS
U-Bahn
Berlin
BVG
Straßenmusik
Straßenmusik
Fête de la musique
Hamburg
Leonard Cohen
Heimathafen Neukölln
Wettbewerb
Schwerpunkt Frankreich
Bremen
Jugendschutz
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