# taz.de -- „Sea Watch“ auf dem Weg ins Mittelmeer: Telefonzelle auf See | |
> Die ehrenamtliche Crew des Fischkutters „Sea Watch“ will Flüchtlinge vor | |
> dem Ertrinken retten. Von Hamburg aus ist sie nun unterwegs ins | |
> Mittelmeer. | |
Bild: Telefonzelle auf See: Die ehrenamtliche Crew der „Sea Watch“ will Fl�… | |
HAMBURG taz | Der Kapitän ist allein an Deck. Die Nachtwache hat | |
verschlafen, liegt noch in der Koje. Eigentlich ein Unding, doch heute hat | |
Ljubomir Filipovic Verständnis: Schließlich ist es die erste Nacht an Bord | |
der „[1][Sea Watch“] und die Nordsee ist ruhig. | |
Noch am Nachmittag lag der alte Fischkutter im Harburger Binnenhafen. Nun | |
ist er mit sieben Knoten auf dem Weg nach Helgoland, um dort Lebensmittel | |
zu bunkern und zu tanken. Anschließend geht es weiter, Richtung Mittelmeer. | |
Die fünfköpfige Crew um Kapitän Filipovic ist aufgebrochen, um in Seenot | |
geratenen Flüchtlingen vor der libyschen Küste zu helfen. Auf eigene Faust, | |
alle sind ehrenamtlich dabei. | |
Unter ihnen sind Ärzte, Mechaniker und Sozialarbeiter – geschultes | |
Personal, das zum Teil schon in Kriegsgebieten im Einsatz war. „Wir möchten | |
vor allem ein Zeichen setzen“, sagt Filipovic, der an Bord das Sagen hat. | |
„Es sind einfach schon zu viele Flüchtlinge gestorben, ohne dass die EU | |
etwas unternommen hat.“ | |
Die italienische Marineoperation „Mare Nostrum“ rettete zwar mehr als | |
130.000 Menschen das Leben. Im Oktober 2014 wurde sie aber eingestellt, an | |
ihre Stelle trat die Operation „Triton“ – ein Ableger der Grenzagentur | |
Frontex, die vor allem die EU-Außengrenzen überwachen soll. | |
## Für jeweils zwölf Tage unterwegs | |
Ljubomir Filipovic tritt aus dem Steuerhaus, die frische Brise zerzaust | |
seinen lockigen Zopf. Fröstelnd zieht er den Reißverschluss seiner | |
Regenjacke ein wenig höher, dann stellt er sich zurück hinter das Steuer. | |
Überhaupt sitzt er nur selten, meist steht er neben dem Steuerrad, den | |
Blick nach vorn aufs Wasser gerichtet. „Wir kennen die Hotspots, also die | |
Gebiete, in denen besonders viele Flüchtlinge ums Leben kommen“, sagt | |
Filipovic. „Da fahren wir hin und gucken nach Menschen in Seenot.“ | |
Vielleicht werden sie niemandem begegnen, vielleicht können sie helfen, das | |
wird sich zeigen. | |
Zunächst steuert er das Schiff nach Malta, denn auf einem Campingplatz in | |
der Hauptstadt Valletta hat das Team eine Basisstation eingerichtet. Eine | |
weitere liegt auf Djerba in Tunesien. Beide sind Anlaufstellen zum Lagern | |
der Ausrüstung und zum Tanken. Einmal ausgelaufen, wird die „Sea Watch“ f�… | |
jeweils zwölf Tage in See stechen und vor der libyschen Küste kreuzen – | |
dann muss sie zurück und auftanken. | |
Außerdem warten an Land weitere Helfer, sodass die Crew wechseln kann und | |
stets vier bis acht Freiwillige an Bord sind. Das Projekt ist zunächst auf | |
drei Monate angelegt, im September beginnen die Herbststürme und weniger | |
Flüchtlinge wagen den Weg übers Mittelmeer. | |
Die Idee zu dem Projekt hatte der Brandenburger Harald Höppner. Als im | |
vergangenen November 25 Jahre deutsche Einheit gefeiert und an die vielen | |
DDR-Flüchtlinge erinnert wurde, fasste der 42-Jährige einen Entschluss: Er | |
wollte den Menschen helfen, die heute Tag für Tag auf dem Mittelmeer ihr | |
Leben riskieren, um Europa zu erreichen. | |
## Öffentlichkeit erzeugen | |
Er begann, Spenden zu sammeln und kaufte im Dezember in den Niederlanden | |
ein 100 Jahre altes Schiff, ließ es ins Schiffsregister eintragen und | |
taufte es im März auf den Namen „Sea Watch“ – Seewache. | |
Bevor das 21 Meter lange Boot in See stechen konnte, haben gut hundert | |
Freiwillige mehrere Monate lang an dem alten Kutter herumgebastelt, die | |
Bordwände blau gestrichen, mehr Betten eingebaut, die Tanks erweitert und | |
den Segelmast aufgebaut. Vor allem auf die neue Satellitenanlage sind sie | |
stolz: Durch diese Internetverbindung kann die Crew jederzeit per | |
Livestream zeigen, was sie erlebt. Und das ist schließlich das, was sie | |
wollen: Öffentlichkeit erzeugen. | |
Ljubomir Filipovic hat „übern Hafenschnack“ von dem Projekt erfahren und | |
wollte sofort mitmachen. Der gebürtige Kroate weiß, wie es Menschen geht, | |
die unter Lebensgefahr ihre Heimat verlassen müssen. | |
Vor 20 Jahren war er Soldat im jugoslawischen Bürgerkrieg, versuchte | |
mehrmals zu fliehen. „Es war Nacht, ich fuhr ohne Licht am Auto und stürzte | |
fast in eine Schlucht“, erzählt er. Die Erinnerungen lassen ihn bis heute | |
nicht los. | |
Nur auf der See fühlt er sich hin und wieder frei, wenn er den Wind um die | |
Ohren und das Steuer in der Hand spürt. Daher verbringt er so viel Zeit wie | |
möglich auf Schiffen und geht nur ungern an Land. Sieben Jahre fuhr der | |
heute 48-Jährige mit Jugendlichen zur See, die Traumatisches erlebt hatten | |
und daran zu zerbrechen drohten. | |
## 1.000 Rettungswesten an Bord | |
Hin und wieder löst er den Blick vom Wasser, schaut auf einen Monitor neben | |
dem Steuerrad, um den Maschinenraum zu überwachen: Eine Kamera filmt die | |
Maschine, damit er sehen kann, wenn es irgendwo qualmt oder sich ein Kabel | |
gelöst hat. | |
„Ich nenne uns immer Testpiloten. Wir wissen nicht, was hier an Bord alles | |
verschlissen ist“, sagt Filipovic. Auch mit den Hebeln und Knöpfen des | |
Armaturenbretts ist er noch nicht vertraut, denn jedes Schiff funktioniert | |
ein wenig anders. „In zwei Tagen habe ich den Dreh raus und mich komplett | |
umgewöhnt“, sagt er. | |
Auf dem Dach des Steuerhauses schaukeln sechs weiße Fässer, in denen die | |
Rettungsinseln lagern. Sie sind ans Boot gebunden, damit sie bei Schieflage | |
nicht ins Wasser fallen. Tauchen Flüchtlinge in Seenot vor dem Kutter auf, | |
sollen sie zum Einsatz kommen und insgesamt bis zu 500 Menschen Schutz | |
bieten. | |
1.000 Rettungswesten sind auch an Bord, außerdem Trinkwasser und | |
Lebensmittelpakete für die Erstversorgung der Schiffbrüchigen. An Bord | |
nehmen will die Besatzung niemanden. „Wenn wir einen hochziehen und sich | |
andere an ihm festhalten, kentern wir“, erklärt Filipovic. Die Crew wird | |
die Seenotfälle bei den Behörden melden und über das Notruf-Telefon Hilfe | |
rufen. | |
Filipovic ist sich nicht sicher, ob er den psychischen Belastungen | |
standhalten wird. „Es ist ein Wagnis, denn ich weiß nicht, was es mit mir | |
macht, das Schicksal so vieler Leute zu sehen, die meinem ähneln“, sagt er. | |
Er wird das Schiff fünf Wochen bis nach Malta steuern und dann erst | |
entscheiden, ob er weitermacht. „Wenn ich merke, dass es mir nicht gut tut, | |
steige ich aus, denn dann bringt es weder mir noch den Flüchtlingen etwas“, | |
sagt er. | |
Draußen geht die Sonne über der Nordsee auf. Ein Krabbenkutter hat seine | |
roten Segel gehisst, die Netze hängen zu beiden Seiten im Wasser. Ljubomir | |
Filipovic ist nun seit über 20 Stunden wach. Zeit für ihn, in seine Koje zu | |
klettern. „Ich hoffe, wir können mit unserem Projekt auch andere Menschen | |
dazu ermutigen, zu handeln“, sagt er noch. | |
27 Apr 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://sea-watch.org/ | |
## AUTOREN | |
Vanessa Ranft | |
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