| # taz.de -- NSU-Ausschuss in Hessen: Verfassungsschutz mit Bauchgefühl | |
| > Als der NSU in Kassel Halit Yozgat erschießt, ist ein Verfassungsschützer | |
| > am Tatort. Wusste das Amt vorab von der Tat? | |
| Bild: Der Zeuge Andreas Temme im Untersuchungsausschuss. | |
| WIESBADEN taz | Mit versteinerter Miene betritt Gerald H. den Saal 301 des | |
| Hessischen Landtags. Es ist ein denkbar ungemütlicher Auftritt, der dem | |
| früheren Verfassungsschützer bevorsteht. Und ein denkbar ungeheuerlicher | |
| Verdacht, den er ausräumen muss. | |
| Man rede über einen besonderen, „einmaligen“ Vorgang, räumt H. am Montag | |
| ein. Ein Mitarbeiter seines Landesamts unter Mordverdacht, das hatte er | |
| noch nicht erlebt. Und H. war damals mittendrin: als | |
| Geheimschutzbeauftragter des hessischen Verfassungsschutzes, als | |
| Ansprechpartner der Polizei. | |
| Gerald H. ist Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen. Es ist | |
| sein erster öffentlicher Auftritt. Behandelt wird der neunte Mord, zu dem | |
| sich der „Nationalsozialistische Untergrund“ bekannte. Am 6. April 2006 war | |
| in Kassel der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen | |
| worden – und ein Verfassungsschützer war am Tatort, Andreas Temme. | |
| Im März präsentierten die Anwälte der Familie Yozgat bisher nicht | |
| ausgewertete Telefonate von Temme, die die Polizei nach der Tat abhörte. | |
| Inklusive eines merkwürdigen Satzes von H. zu seinem Kollegen: „Ich sag ja | |
| jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht | |
| vorbeifahren.“ Wusste der Verfassungsschutz also von der geplanten Tat? | |
| Ließ er sie gar beobachten – und geschehen? | |
| ## Unangemessene Ironie | |
| Auch Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) geriet unter Druck: Er hatte | |
| damals, als Innenminister, verweigert, die V-Männer von Temme befragen zu | |
| lassen – aus Sorge vor deren Enttarnung. | |
| Entsprechend groß ist der Zuschauerandrang am Montag, kaum ein Platz bleibt | |
| leer. Noch einmal hören die Abgeordneten das fragliche, halbstündige | |
| Telefonat. Sein Satz, verteidigt sich Gerald H. danach, sei ein „ironischer | |
| Einstieg“ gewesen. Nur: Der Gesprächston der Aufnahme ist eher gedrückt. | |
| Der Ausschussvorsitzende Hartmut Honka, CDU, hakt nach: Ob er das | |
| angemessen finde, Ironie bei einem Mordfall? „Darüber lässt sich wohl | |
| streiten“, grummelt H.. | |
| Immer wieder hatte H. nach dem Kasseler Mord mit Andreas Temme telefoniert, | |
| beriet ihn für eine dienstliche Erklärung. Die Polizei schnitt mit, da sie | |
| Temme zwischenzeitlich als Tatverdächtigen führte. Der war während der Tat | |
| in Yozgats Internetcafé, surfte auf einer Datingseite. Rein zufällig, wie | |
| er bis heute behauptet. Von den Schüssen will er nichts gehört, den | |
| Ermordeten nicht gesehen haben. Erst nach zwei Wochen ermittelte ihn die | |
| Polizei – Temme selbst hatte sich nicht als Zeuge gemeldet. | |
| ## Schleppende Befragung | |
| Mehr als drei Stunden befragen die Abgeordneten Gerald H. Es herrsche der | |
| Eindruck eines „kollegialen Gesprächs“, in dem H. Temme Hilfestellungen | |
| gab, halten die Parlamentarierer dem heutigen Rentner vor. „Haben Sie denn | |
| Herrn T. nie gefragt, was wirklich los war?“ H. schüttelt den Kopf. „Das | |
| war nicht meine Aufgabe, ich bin kein Polizist.“ | |
| Habe man im Amt etwas von der geplanten Tat gewusst? „Nein.“ Gab es den | |
| Verdacht, dass Temme etwas wusste? „Nein.“ Warum sei er denn überzeugt | |
| gewesen, dass Temme unschuldig ist? „Das war mein Bauchgefühl“, antwortet | |
| H. Die Linke Janine Wissler wird energisch. „Wissen Sie was: Ich glaube | |
| Ihnen nicht.“ | |
| Es ist eine schleppende Befragung. Immer wieder mag sich der 70-Jährige | |
| nicht mehr erinnern. Die Mitglieder des Ausschusses stellt das nicht | |
| zufrieden. Denn H. äußerte sich in dem Telefonat 2006 auch an anderer | |
| Stelle bemerkenswert. „So nah wie möglich an der Wahrheit bleiben“, riet er | |
| Temme. Nicht einfach die volle Wahrheit? | |
| Er habe immer an Andreas Temme appelliert, „alles zu sagen“, verteidigt | |
| sich Gerald H. Nur zu „Verschlusssachen“ hätte Temme schweigen müssen. | |
| Deshalb habe er das so ausgedrückt. Aber welche „Verschlusssache“ gibt es | |
| denn zum Mord im Internetcafé? Schweigen. | |
| ## Treffberichte unter Verschluss | |
| Am späten Nachmittag wird auch Temme selbst befragt. Auch er will den | |
| „Vorbeifahren“-Satz seines Vorgesetzten H. als Versuch gedeutet haben, das | |
| Gespräch „aufzulockern“. Von einer geplanten Tat in dem Internetcafé habe | |
| er nichts gewusst. Nur: Temme war damals V-Mann-Führer beim hessischen | |
| Verfassungsschutz, auch eines Neonazis. Mit ebenjenem telefonierte er am | |
| Tattag elf Minuten lang – knapp eine Stunde vor dem Mord. | |
| Auch das verschwieg Temme der Polizei. Die Treffberichte der beiden sind | |
| bis heute unter Verschluss. Zudem wurden bei Temme nach der Tat Waffen und | |
| NS-Literatur gefunden. Auch danach wird Gerald H. gefragt. Der spricht von | |
| „Jugendsünden“ seines Kollegen. Wieder Kopfschütteln bei einigen | |
| Abgeordneten. | |
| „Es gibt jetzt noch mehr Fragen als Antworten“, kritisiert der | |
| Linken-Obmann Hermann Schaus nach der Befragung. Man werde Gerald H. und | |
| Andreas Temme „definitiv“ noch einmal vorladen lassen. | |
| Auch für die Anwälte der Familie Yozgat bleiben allzu viele Zufälle. | |
| Alexander Kienzle, einer von ihnen, sieht den Verdacht, dass der | |
| Verfassungsschutz etwas mit dem Mord zu tun hatte, keineswegs ausgeräumt. | |
| „Im Gegenteil“, so Kienzle. Zu viele Erinnerungslücken seien in | |
| entscheidenden Punkten angeführt worden, zu viele Ungereimtheiten blieben. | |
| Befragt wurde am Montag auch die Polizistin, die 2006 die Observation | |
| Temmes protokollierte – ohne den „Vorbeifahren“-Satz von H. Diesen, so die | |
| Beamtin, habe sie damals als „belanglos“ erachtet. | |
| 11 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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