# taz.de -- NSU-Aufklärung in Hessen: Erschreckend langsam und lückenhaft | |
> Neue Protokolle lassen vermuten, dass er nicht alles tat, um den Mord an | |
> Halit Yozgat aufzuklären. Sechs Fragen an Volker Bouffier. | |
Bild: Der frühere Innenminister und heutige Ministerpräsident von Hessen: Vol… | |
Der Münchener NSU-Prozess hat am Donnerstag über neue Beweise beraten, die | |
die Nebenklageanwälte vorgelegt hatten: bislang unbekannte, vollständige | |
Abschriften abgehörter Telefongespräche des hessischen Verfassungsschützers | |
Andreas Temme. Dieser war beim neunten NSU-Mord am Tatort, im Internetcafé | |
in Kassel, wo Halit Yozgat erschossen wurde. | |
Die Protokolle werfen viele Fragen auf: an Temme und den hessischen | |
Verfassungsschutz; aber auch an Volker Bouffier, der damals als | |
Innenminister die politische Verantwortung trug und heute als | |
Ministerpräsident mit den Grünen regiert. Der CDU-Politiker forderte in | |
dieser Woche, alle Umstände „lückenlos“ und rasch aufzuklären: „Damit … | |
nicht mehr über Spekulationen, sondern über Fakten reden.“ Doch die | |
Ungereimtheiten werden immer mehr. Sechs Fragen, die Bouffier dringend | |
klären sollte. | |
1. Herr Bouffier, war der Verfassungsschützer Temme wirklich privat und | |
zufällig in dem Internetcafé? Oder hatte er einen Tipp aus der Szene? | |
Bekannt ist, dass Andreas Temme am 6. April 2006 um kurz vor 17 Uhr das | |
Internetcafé in der Holländischen Straße in Kassel betrat und sich auf | |
einer Partnersuche-Website einloggte. Elf Minuten dauerte der Kontakt. | |
Temme war damals Beamter des hessischen Verfassungsschutzes, er führte | |
Spitzel aus der rechtsextremen und der islamistischen Szene. Kurz nach | |
fünf, so seine Darstellung, verließ er den Laden. Angeblich fand er den | |
Betreiber Halit Yozgat nicht und legte das Geld deshalb auf den Tresen. | |
Etwa zu dieser Zeit wurde Yozgat in dem Internetcafé durch zwei Kopfschüsse | |
ermordet, seine Leiche lag hinter dem Tresen. Temme meldete sich nicht als | |
Zeuge bei der Polizei. Als die ihn ausfindig machte, gab er an, zufällig | |
und privat in dem Internetcafé gewesen zu sein. Temme will weder Schüsse | |
gehört noch eine Leiche gesehen haben. Zunächst geriet er unter | |
Mordverdacht, seine Telefon wurde überwacht, dem Beamten war aber nichts | |
nachzuweisen. Schließlich wurden die Ermittlungen eingestellt. | |
Die Anwälte, die Yozgats Familie vertreten, haben nun neue Beweise | |
vorgelegt: vollständige Abschriften der Telefonüberwachung von Temme, die | |
bislang im Prozess nicht vorlagen. Bisher wurde mit Zusammenfassungen der | |
Bänder gearbeitet, die die Polizei 2006 erstellte – als sie gegen Temme | |
ermittelte und vom NSU noch nichts wusste. | |
In einem nun bekannt gewordenen Gespräch bereitet der | |
Geheimschutzbeauftragte des hessischen Verfassungsschutzes Temme auf die | |
Vernehmung durch die Polizei vor: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass | |
irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren“, fachsimpelt der | |
Beamte. | |
Dieser Satz ist nicht eindeutig, er lässt Interpretationsspielraum. Die | |
Bundesanwaltschaft deutet ihn so, dass kein Verfassungsschutzmitarbeiter | |
damals dem Verdächtigten Temme einen Besuch abgestattet habe. Die | |
Nebenklageanwälte erkennen darin ein klares Indiz dafür, dass Temme doch | |
nicht zufällig und privat, sondern dienstlich am Tatort war. Und dass er | |
„bereits vor dem Mord an Halit Yozgat konkrete Kenntnisse von der geplanten | |
Tat, der Tatzeit, dem Tatort, dem Tatopfer und den Tätern hatte“. | |
Schließlich habe Temme dem Anrufer nicht widersprochen. Die | |
Schlussfolgerung der Anwälte: Der hessische Verfassungsschutz hätte nicht | |
nur den Mord an Yozgat, sondern weitere Taten des NSU – darunter einen Mord | |
– verhindern können, wenn er alle Informationen weitergegeben hätte. | |
2. Herr Bouffier, was wusste der V-Mann „Gemüse“? Lieferte er seinem | |
V-Mann-Führer Temme womöglich doch Hinweise zur Mordserie? | |
Schließlich forderte Temmes Vorgesetzte Iris P. wenige Tage vor dem Mord an | |
Yozgat ihre Mitarbeiter auf, sich unter ihren V-Leuten umzuhören, ob jemand | |
etwas über die ungeklärte Ceska-Mordserie mit bis dahin sieben Todesopfern | |
wüsste. Temme führte wohl vor allem V-Leute aus der islamistischen Szene, | |
aber auch den Neonazi Benjamin G., Deckname „Gemüse“. | |
Der Skinhead mit guten Kontakten bundesweit war auf die Kasseler Szene | |
angesetzt. Nach der Mail seiner Chefin traf sich Temme mit „Gemüse“. Am Tag | |
des Mordes an Yozgat telefonierte er zweimal mit dem Spitzel, das zweite | |
Mal kurz vor dem Mord. Worüber die beiden sprachen, ist nicht bekannt. Die | |
Treffberichte sind unter Verschluss. | |
3. Herr Bouffier, warum sorgen Sie nicht endlich dafür, dass Gericht und | |
Untersuchungsausschuss alle Treffberichte bekommen und die V-Leute rund um | |
Temme uneingeschränkt aussagen dürfen? | |
Die Ermittler wollten Temmes V-Leute direkt befragen, auch den Neonazi mit | |
dem Decknamen „Gemüse“. Der Verfassungsschutz mauerte, er wollte seine | |
Quellen schützen. Das letzte Wort lag beim Dienstherrn, Innenminister | |
Bouffier. Er entschied sich für den Quellenschutz und behinderte damit die | |
Aufklärung. Die Ermittler durften „Gemüse“ schriftliche Fragen stellen, d… | |
der Verfassungsschutz an den V-Mann weitergab. Die Antworten sollen wenig | |
aufschlussreich gewesen sein. | |
4. Herr Bouffier, was soll Ihr milder Umgang mit Herrn Temme trotz dessen | |
offenkundigen Fehlverhaltens? | |
Der Verfassungsschützer Temme trug nichts zur Aufklärung des Mordes bei. | |
Dass er weder Schüsse gehört noch eine Leiche gesehen haben will, ist wenig | |
glaubwürdig. Doch Bouffier stellte sich stets vor den Beamten, redete die | |
Sache klein. Schon im Juli 2006 beteuerte er im Innenausschuss, der Fall | |
habe „kein Regierungshandeln“ betroffen. Temme sei „ohne dienstlichen | |
Bezug“ in Verdacht geraten. Der Beamte könne nicht der Ceska-Mörder sein. | |
„Daraus kann man auch ableiten, dass der Mann unschuldig ist.“ | |
Bouffier äußerte gar Mitleid für Temme. „Der und seine Familie, die sind | |
fertig.“ Die Sache sei nicht für den Verfassungsschutz eine Katastrophe, | |
sondern für Temme. Inzwischen kam heraus: Bouffiers Ministerium setzte sich | |
sogar dafür ein, dass Temme weiter seine vollen Bezüge erhielt. Bouffier | |
rechtfertigte dies noch einmal Anfang der Woche: „Dass ein Beamter, der | |
sich nicht strafbar gemacht hat, weiter vom Land beschäftigt wird, ist eine | |
schlichte Rechtsfolge. Das kann man nicht kritisieren.“ | |
5. Warum haben Sie im Innenausschuss ihren Wissensstand verschleiert und | |
behauptet, Sie hätten die Sache erst aus der Zeitung erfahren? | |
Volker Bouffier ist Rechtsanwalt und wählt seine Worte genau – gerade in | |
brenzligen Situationen. Eine solche war sein Auftritt im Innenausschuss des | |
Landtags am 17. Juli 2006. Bild und Spiegel hatten enthüllt, dass Temme | |
beim Mord an Yozgat am Tatort gewesen war. Doch Innenminister Bouffier | |
unterrichtete die zuständigen Gremien im Landtag nicht. | |
Die Abgeordneten erfuhren die Nachricht aus der Presse – und hielten | |
Bouffier das entrüstet vor. Der versicherte: Dass Abgeordnete etwas aus der | |
Zeitung erfahren und nicht durch den Minister, sei betrüblich – | |
„insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung | |
erfährt“. | |
Nachfragen, ob, wann und wie er genau über den Fall informiert wurde, wich | |
Bouffier aus. Tatsächlich wusste er längst Bescheid. Als Zeuge im Bundestag | |
gab er später zu, schon im April 2006 vom Landespolizeipräsidenten über den | |
Fall informiert und danach weiter über den Ermittlungsstand unterrichtet | |
worden zu sein. Doch den Vorwurf der Lüge wies Bouffier diese Woche | |
entrüstet zurück. Er sei schlicht missverstanden worden. Das Protokoll | |
liest sich anders. | |
6. Herr Bouffier, haben Sie die Rolle des hessischen Verfassungsschutzes im | |
Fall Yozgat bisher beschönigt? | |
Bouffier war während seiner Erklärung zu den neuen Vorwürfen im NSU-Komplex | |
in dieser Woche angespannt, er las sogar vom Blatt ab. Auffällig: Der | |
Ministerpräsident verzichtete darauf, Temme und den hessischen | |
Verfassungsschutz gegen die gravierenden Vorwürfe in Schutz zu nehmen. | |
Genau genommen verteidigte er nur noch sich selbst: „Die Unterstellungen | |
mir gegenüber sind eine Unverschämtheit, und ich weise sie in aller Form | |
zurück.“ Er habe „nach Recht und Gesetz und nach bestem Wissen und | |
Gewissen“ entschieden. Ob das auch für Temme und den hessischen | |
Verfassungsschutz galt, ließ Bouffier offen. | |
27 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Astrid Geisler | |
Sabine am Orde | |
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