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# taz.de -- Gefährliche Eisschmelze: „Bis zu 600 neue Gletscherseen“
> Geborstene Dämme von Gletscherseen sind in Hochgebirgsregionen zunehmend
> eine Gefahr für Mensch und Umwelt.
Bild: Aletschgletscher in der Schweiz: Das Schmelzwasser wird zu einer tödlich…
Der Aufstieg zur „Stanzia“ ist zäh. Der Weg führt über Geröllfelder,
vereiste Passagen und Schneehänge. Obwohl die Forscher diese Tour mehrmals
im Jahr machen, kämpfen sie jedes Mal mit dem anspruchsvollen Gelände und
der extremen Witterung. In ihren Rucksäcken transportieren sie Proviant,
schwere Dieselkanister und Gasflaschen. Mehr als sechs Stunden dauert es,
bis die vierköpfige Mannschaft ihr Ziel erreicht.
„Stanzia“ ist der russische Name der Wetterstation am Adygine-Gletscher.
Sie liegt 3.600 Meter über dem Meeresspiegel und 1.500 Höhenmeter entfernt
vom Ausgangspunkt der Wanderung, dem Ala-Artscha-Tal in Kirgisien.
Das Team aus Wissenschaftlern und Ingenieuren arbeitet für das Institut für
Wasserprobleme und Wasserkraft in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Sie
werden mehrere Tage in der „Stanzia“ bleiben, um Messungen durchzuführen.
Die kleine Hütte hat mehrere Bettenlager, einen Dieselgenerator für Strom
und sogar eine Küche mit Gasherd.
Ein Wissenschaftler, der an diesem Abend erschöpft am Küchentisch sitzt,
ist der Geröllexperte Witali Zaginajew. Er erklärt: „Es gibt 18
Schmelzwasserseen am Adygine. Der größte davon ist gefährlich. Das Wasser
wird durch einen Eispfropfen in einem unterirdischen Kanal aufgestaut. Wenn
die Temperatur im Sommer zu schnell steigt, wird es schlagartig frei.“
Unterhalb des Gletschersees liegt viel loses Gesteinsmaterial, das bei
einem Ausbruch von der Flutwelle mitgerissen würde. „Die Schlammlawine
könnte nicht nur im Ala-Artscha-Tal, sondern auch im 40 Kilometer
entfernten Bischkek katastrophale Schäden anrichten“, sagt Zaginajew.
Deshalb seien er und seine Kollegen hier, um Parameter wie Temperatur,
Niederschlag und Wasserpegel zu überwachen. Nur so könne man einen Ausbruch
vorhersagen. Im Sommer wechseln sich die Wissenschaftler in Schichten ab,
und die Station ist permanent besetzt.
Fluten, die durch Gletscherseeausbrüche entstehen, sogenannte Glacial Lake
Outburst Floods (Glofs), sind weltweit zu einem großen Problem geworden.
Bereits 2007 bezeichnet das United Nations Environmental Program Glofs als
schwerwiegendste Gefahr, die von der Gletscherschmelze ausgeht, mit enormem
Schadenspotenzial. So forderte im Juli 1998 ein Gletscherseeausbruch im
Schahimardan-Tal zwischen Kirgisien und Usbekistan mehr als 100
Menschenleben. 1994 zerstörte eine Flut in Bhutan die gesamte regionale
Ernte, 24 Menschen kamen ums Leben. Auch in den Alpen, in Nordamerika und
in Skandinavien kennt man die Schmelzwasserfluten.
## Auslöser ist der Klimawandel
„Praktisch jedes Jahr entsteht ein neuer See“, sagt Glaziologe Wilfried
Haeberli von der Universität Zürich. Das betrifft vor allem
Hochgebirgsregionen wie Zentralasien, Himalaja, Anden sowie die Alpen.
Haeberli und sein Team haben Modellrechnungen durchgeführt, wonach im 21.
Jahrhundert in der Schweiz bis zu 600 neue Gletscherseen entstehen – am
Konkordiaplatz des Aletschgletschers sogar mit bis zu 300 Metern Tiefe.
Ursache sei der Klimawandel. Haeberli sagt: „Die Gletscher der Alpen
verlieren im Durchschnitt jährlich etwa 2 bis 3 Prozent ihrer Fläche. In
den jetzigen Gletscherbetten gibt es 500 bis 600 durch Gletschererosion
verursachte Vertiefungen mit einer Gesamtfläche von 50 bis 60
Quadratkilometern. Dort können sich überall neue Schmelzwasserseen bilden,
die Alpen werden sich in eine Landschaft aus Fels, Schutt und Seen
verwandeln.“
Besonders gefährlich seien Seen, die sich unter steilen Felsflanken bilden.
Große Fels- und Eislawinen, die von oben in den See stürzen, lösen
plötzlich Flutwellen aus. „Eis stabilisiert das Gebirge, das weiß jeder
Bergführer. Unter der Oberfläche reicht der Permafrost mancherorts Hunderte
von Metern in den Berg hinein. Zum Beispiel ist das Matterhorn durch und
durch gefroren. Das Eis verschließt die Felsklüfte, und genau das ist der
entscheidende Punkt. Wenn es schmilzt, kann sich ein hoher Wasserdruck im
Fels aufbauen und Stürze auslösen“, erklärt Haeberli.
## „Tsunamio“ in den Anden
So war es zum Beispiel 2010 in Peru, als eine Eislawine in einen See am
Hualcan-Gletscher stürzte und einen 25 Meter hohen „Tsunami“ auslöste. Die
Flutwelle verursachte bedeutende Sachschäden in der Stadt Carhuaz und
versetzte die Einwohner in Panik.
„Die Zerstörungskraft eines Sees hängt nicht nur von seinem Volumen ab,
sondern in erster Linie davon, wie der Ausbruch abläuft und wie das Gelände
unterhalb des Sees beschaffen ist. Auch ein kleiner See mit 10.000
Kubikmetern Wasser kann in steilem Gelände viel Schutt mitreißen und große
Schlammlawinen, sogenannte Murgänge, auslösen“, sagt Haeberli. Er
empfiehlt, die gefährlichen Bereiche zu meiden. Am See selbst könne man den
Wasserspiegel künstlich absenken oder, falls vorhanden, einen talwärts
gelegenen Stausee so gestalten, dass er die gefährliche Flutwelle auffängt.
Die Installation von Frühwarnsystemen sei wichtig, damit man die Menschen
rechtzeitig evakuieren könne. Haeberli zufolge ist es entscheidend, dass
die betroffene Bevölkerung weiß, was im Alarmfall zu tun ist.
Im Mai 2008 brach der See am unteren Grindelwaldgletscher im Schweizer
Kanton Bern aus, die folgende Schlammflut überschwemmte den Talboden.
Niemand wurde verletzt, jedoch entstand ein Sachschaden von einer halben
Million Schweizer Franken. Emanuel Schläppi, der Bürgermeister von
Grindelwald, sagt: „Die Ortschaft selbst war nie gefährdet. Aber wir haben
uns große Sorgen um den Tourismus gemacht – eine wichtige Einnahmequelle in
der Region.“
## Automatische Messstationen
Seit der Katastrophe hat man Maßnahmen ergriffen: Für 15 Millionen
Schweizer Franken wurde ein Stollen gegraben, um überschüssiges Wasser aus
dem Gletschersee abzuleiten. Zudem wurden automatische Messstellen
eingerichtet für zusätzliche 50.000 Franken. Über diese Sonden wird im
Sommer der Wasserpegel im See und im Abflussbereich ständig überwacht.
Werden die Messwerte überschritten, lösen die Sonden im Tal Alarm aus. Der
Fachausschuss für Naturgefahren, der aus Bergführern und
Katastrophenexperten besteht, informiert daraufhin die Feuerwehr. Die übt
wöchentlich das Vorgehen im Ernstfall.
Über eine Homepage informiert die Gemeinde Bevölkerung und Medien über alle
Vorgänge am Grindelwaldgletscher. „Während der kritischen Phasen haben wir
dreimal im Jahr Helikopterrundflüge organisiert“, so Schläppi. Er fügt
hinzu: „Derzeit geht keine besondere Gefahr vom See aus. Der Gletscher hat
sich so weit zurückgezogen, dass die Geländeneigung das Überlaufen des Sees
verhindert.“
Am Grindelwald scheint die Gefahr vorüber, jedoch stellt man sich in der
gesamten Schweiz auf die Prävention und Früherkennung von
Gletscherseeausbrüchen ein. Eine ähnliche Topografie wie die Schweiz
besitzt die Kirgisische Republik in Zentralasien. Dort gibt es mehr als 300
Seen, die ausbruchsgefährdet sind. Allerdings fehlen dort die Mittel, um
sich angemessen vorzubereiten. Nur sechs Spezialisten stehen zur Verfügung,
um die Seen im ganzen Land zu überwachen. Sie können jedes Jahr nur eine
Handvoll Seen auswählen und zu Fuß dorthin wandern, um Messungen
durchführen. In ganz Kirgistan gibt es nur eine „Stanzia“, die so gut
ausgestattet ist wie die am Adygine-Gletscher.
## Warnung in letzter Sekunde
„Zumindest einige automatische Messstationen würden unsere Arbeit sehr
erleichtern“, sagt Geröllexperte Zaginajew, während er mit seinem Kollegen
über den zugefrorenen See geht. Im Winter besteht keine Glof-Gefahr, aber
die Studien müssten das ganze Jahr über durchgeführt werden. Mit einer
Brechstange schlagen die beiden ein Loch ins Eis, dann hält Zaginajew ein
Maßband hinein. 15 Zentimeter ist das Eis dick. Vor genau einem Jahr war es
doppelt so viel.
Dass ihre Arbeit wichtig ist, konnten die Forscher im Juli 2012 beweisen,
als der Teztorsee im Nachbartal kurz vor dem Ausbruch stand. „Die
Wassertemperatur stieg innerhalb von zwei Tagen um zwei Grad. Durch das
zusätzliche Schmelzwasser aus dem unterirdischen Eiskanal stieg der
Wasserpegel schlagartig um ganze 16 Meter.
Wir haben diese Informationen sofort an das kirgisische Ministerium für
Notfallsituationen weitergeleitet“, berichtet Zaginajew. Danach habe es
allerdings zehn Tage gedauert, bis die Region evakuiert wurde, gerade noch
rechtzeitig, bevor die Schlammlawine das Tal überflutete.
15 May 2015
## AUTOREN
Adriane Lochner
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