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# taz.de -- Expedition nach Spitzbergen: Eine dahinschmelzende Welt
> Eine Kreuzfahrt zu den Eisbären führt durch eine bedrohte arktische
> Insellandschaft. Statt Bord-Entertainment gibt es wissenschaftliche
> Vorträge.
Bild: Huhu! Walrosse bei Spitzbergen
Expeditionskreuzfahrt Spitzbergen: Zodiac-Ausfahrt im Hochsommer, 80 ° N,
Luft plus 0,5 ° C, Wasser minus 0,7 ° C.
Irgendwie ist er wie ein kleiner Karl May, dieser Herbert Friedrich.
Ebenfalls gebürtiger Sachse, und auch er wurde erst Lehrer und dann
Schriftsteller. Nun gut, der eine berühmt, der andere weniger. Und
trotzdem, auch seine Romanhelden sollten unzählige Kinder und Jugendliche
fesseln mit ihren Abenteuern, die es in den entferntesten Ecken der Welt zu
bestehen galt. Gegenden, die weder May noch Friedrich zum Zeitpunkt des
Schreibens je gesehen hatten. Elisabeth Grimm aus Berlin-Friedrichshain war
eines dieser Kinder.
Sie habe „Die Eissee“ von Herbert Friedrich förmlich verschlungen, erzählt
die Internistin mit leuchtenden Augen. Seite für Seite, Buchstaben für
Buchstaben. Wie packend der Autor "Die letzte Reise des Willem Barents"
beschrieben habe, die der Spitzbergen-Entdecker nach seiner zweijährigen
Odyssee durchs Eis im Jahre 1597 schließlich mit dem Leben bezahlte. Und
mit jedem Kapitel reifte der Entschluss, diesen menschenfeindlichen
Archipel im hohen Norden irgendwann einmal selbst zu erobern.
In die Fußstapfen von Willem Barents, Fridtjof Nansen und Roald Amundsen zu
treten. Ein wirklich kühner Plan, den das pubertierende Mädchen damals in
Ribnitz-Damgarten fasste. Für eine normale DDR-Bürgerin lag die zu Norwegen
gehörende arktische Inselgruppe in den 1980ern zwar geografisch im Norden,
politisch jedoch im Westen, sprich auf einem anderen Stern. Drei Jahrzehnte
später allerdings sollte sich Elisabeths Kindheitstraum erfüllen.
## Der Eisbär ist immer der Star
Und nun steht sie also an der Reling des Expeditionsschiffes und mag den
eignen Augen kaum trauen: ihr erster Eisbär in freier Wildbahn, und das
kurz nach Mitternacht in gleißender Sonne, nur zwei Tage nach der
Einschiffung in Longyearbyen, der kleinen Inselhauptstadt Spitzbergens. Wie
geschmeidig sich dieser Bursche entlang der Eiskante doch bewegt. Wie
unglaublich schnell dieser Räuber ist. Dabei hat er gerade mal den
Spaziergang eingelegt.
An die 400 Kilo wird der Ursus maritimus auf den Rippen haben, erklärt uns
Crewmitglied Ian Stirling, der kanadische Meeresbiologe vom
Expeditionsteam. Eisbären sind weltweit die größten an Land lebenden
Karnivoren, sprich Fleischfresser. „Ein halbstarker Teenager also noch.
Obendrein in ziemlich gelbem Pelz“, bemerkt Elisabeths Freundin und
Kollegin Angelika Bublak. Das sei aber auch gut so, denn sonst wäre Meister
Petz definitiv nicht auf weißem Grund auszumachen.
Niemand an Bord will sich den ersten Polarbären entgehen lassen. Helen
LeCain, 81, stürmt gleich im Morgenmantel und dicken Wollsocken an Deck und
reibt sich blinzelnd den Schlaf aus den müden Augen. Die rüstige Dame aus
North Carolina ist die älteste Passagierin an Bord und versteht sogar ein
paar Brocken Deutsch. Ihre Oma emigrierte 1898 von Weimar nach
Pennsylvania. Ansonsten hört man vornehmlich Englisch. Viele haben eine
wirklich weite Anreise hinter sich: Australien, Neuseeland, Südafrika, USA,
Kanada. Der Rest stammt aus Westeuropa.
Es sollte eine kurze Nacht werden. Die Mitternachtssonne macht den meisten
doch mehr zu schaffen als erwartet. Sie bringt den Biorhythmus mächtig aus
dem Takt. Vier Monate im Jahr, von April bis August, geht sie in Svalbard -
so der formelle norwegische Name für Spitzbergen - gar nicht mehr unter.
Zur Sonnenwende Ende Juni thront sie nahezu wie angenagelt Tag und Nacht am
stahlblauen Firmament.
Die arktische Inselgruppe Spitzbergen (Svalbard) ist so groß wie Holland
und Belgien zusammen und ist geprägt durch eine unberührte gebirgige Natur.
Nur 2.800 Menschen leben dort, die meisten in der Hauptstadt Longyearbyen.
Ab 1900 zogen die Menschen wegen reicher Kohlevorkommen nach Spitzbergen.
In neuerer Zeit gilt die Region als Labor für Arktisforschung.
## Das einstige Exportgut Wal
Unser Schiff passiert das vorgelagerte Prinz Karls Fortland und lässt
Ny-Ålesund, die nördlichste ständig bewohnte Ansiedlung mit dem legendären
nördlichsten Postamt der Welt, backbord hinter sich. Hier an der Westküste
versteht der Besucher, warum Willem Barents die von ihm entdeckte arktische
Inselwelt vor 400 Jahren Spitzbergen taufte. Hunderte, wenn nicht gar
Tausende eisbedeckte Berge recken sich in den strahlend blauen Himmel. Es
ist ein überwältigendes Panorama grandioser menschenleerer Natur.
"Überall Gletscher und Schnee und Eis zwischen den Gipfeln, und mächtige
Moränen nach dem Fjord. Das sind die Urkräfte selbst in ihrer Entfaltung,
Wasser und Stein, Schwere und Frost", beschreibt der Polarforscher, Autor,
Politiker und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen vor über einhundert
Jahren dieses mächtige Panorama. Der höchste Gipfel, der Newtontoppen in Ny
Friesland, misst immerhin stolze 1.713 Meter Höhe.
Nach dem Frühstück ankern wir im Naturschutzgebiet Nordost Spitzbergen im
Smeerenburgfjord vor der Amsterdam-Insel. Dann geht es mit den Zodiacs, den
Schlauchbooten, zum ersten Landgang nach Smeerenburg, in die "Speckstadt".
Sie zählt zu den geschichtsträchtigsten Orten der gesamten Hohen Arktis.
Die alte holländische Walfangstation wurde 1620 gegründet, also bereits
kurz nachdem die Überlebenden der ersten Spitzbergen-Expedition unter
Willem Barents heimkamen und nach ihnen andere Forscher wie Henry Hudson
aufbrachen, um die Kunde von einem schier unerschöpflichen Reichtum an
Grönlandwalen nach Europa zu tragen.
Die emporstrebenden Städte des Alten Kontinents gierten nach Lampenöl,
Seife und Schmiermittel. All das wurde aus dem eingekochten Walspeck
hergestellt. So begann eine bis dahin nie da gewesene Hatz auf den
Grönlandwal, die fast zu seiner Ausrottung führte. In dem für beide Seiten
lebensgefährlichen Kampf "Mann gegen Wal" wurden in "guten" Jahren bis zu
tausend Tiere abgeschlachtet. Ganze Fjorde färbten sich blutrot. Noch heute
zeugen die Reste der Tranöfen, Häuser und Seemannsgräber von dieser kurzen
Epoche. Denn schon um 1660 war der Walbestand derart dezimiert, dass die
Jagd unrentabel wurde. Man überließ Smeerenburg einfach sich selbst.
## Landgang mit Geleitschutz
Dies gilt nicht für uns Passagiere. Die Guides sichern die Landgänger mit
großkalibrigen Gewehren, geladen mit abschreckenden Signalpatronen und -
für den Notfall - auch mit scharfer Munition. Spitzbergen ist „Polar Bear
Country“, das Tragen von Waffen außerhalb der wenigen Ortschaften ist
Gesetz und macht Sinn. Im Augenblick tanken jedoch lediglich ein paar
schwergewichtige Walrosse Sonne am Strand bei hochsommerlichen Temperaturen
knapp über null. Scharf geschossen wird trotzdem, aber nur mit den
großkalibrigen Kameras.
Am Abend, nach einem deftigen Menü, erklärt der Münchner Geologe Wolfgang
Blümel in einem Vortrag die Topografie Spitzbergens. Es gibt kaum eine
Gegend auf der Welt, wo die verschiedensten offen liegenden
Gesteinsschichten mehr über die Entstehungsgeschichte der Erde verraten.
Ein wahres Eldorado für Archäologen. So stammt der äußerst seltene
hellgraue und feine Sand vor Smeerenburg aus präkaledonischer Zeit und ist
rund eine Milliarde Jahre alt.
Eine Vegetation gibt es hier kaum. In den Wäldern Spitzbergens könnte sich
nicht mal eine Maus verlaufen. Die Polarweide, die am weitesten verbreitete
Baumart, wird gerade mal einen Zentimeter groß. Neun Monate im Jahr bedeckt
Schnee die Inseln mit einem schweren weißen Tuch. Die wissenschaftlichen
Vorträge auf den Expeditionskreuzfahrten ersetzen das übliche
Bord-Entertainment von Aida, Arosa und Co.
## Besuch auf der Walross-Insel
Das rustikale Forschungsschiff der Eisklasse E2 hat indes längst wieder
Kurs Richtung Norden genommen. Draußen ziehen zwei majestätische Finnwale
ihre Bahn, als ob sie die Besucher aus der fernen Welt eskortieren wollten.
Die Walross-Insel Moffen ist unser entferntestes Etappenziel. Sie liegt
genau 80 Grad nördlicher Breite. Mit anderen Worten: Von hier sind es nur
noch 10° oder 600 Seemeilen bis zum Nordpol. Zu Nansens Zeiten befand sich
die flache Insel meist ganzjährig im festen Würgegriff des Eises. Heute
muss das Schiff noch einen halben Tag nordwärts fahren, bis es das
vermeintlich ewige Eis erreicht. Denn nirgends vollzieht sich der
Klimawandel dramatischer als an der Nordkappe unseres Planeten.
Die Erderwärmung verursacht derzeit eine rasante Eisschmelze, die das
Überleben der dortigen Eisbärenpopulation infrage stellt. Das Packeis hat
sich in den vergangenen Jahrzehnten im Sommer in einem Rekordtempo
zurückgezogen. Schlimmer noch, es ist erheblich dünner geworden.
Elisabeth Grimm hat sich ihren Kindheitstraum erfüllt und Eisbären noch mit
eigenen Augen in freier Wildbahn erleben dürfen. Sie wurde Zeugin einer
arktischen Welt, die es so bald nicht mehr geben wird.
9 Aug 2014
## AUTOREN
Marc Vorsatz
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Schwerpunkt Klimawandel
Arktis
Eisbären
Kanada
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