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# taz.de -- Tod eines 15-Jährigen in der Türkei: Ein Gefühl der Hilflosigkeit
> Mögen die, die für den Tod von Berkin Elvan verantwortlich sind, zum
> Teufel gejagt werden. Möge die Türkei aufhören, jener Staat zu sein, der
> er ist.
Bild: Trauer in Ankara nach dem Tod von Berkin Elvan.
Die Geschichte der Türkei ist voller Menschen, die aus politischen Gründen
getötet wurden. Viele von ihnen wurden keine dreißig Jahre alt, manche
nicht einmal zwanzig. Kinder. Sie wurden erschossen, gehängt, totgeprügelt,
verbrannt. Der 12. März zum Beispiel ist der Jahrestag des
[1][Militärputsches von 1971] und zugleich Jahrestag des [2][Massakers im
Istanbuler Stadtteil Gazi] im Jahr 1995. „Manche hinterließen einen Namen,
sodass man ihr Lob weitererzählte“, heißt es im Buch Jesus Sirach, einem
nichtkanonischen Buch des Alten Testaments. „Andere blieben ohne
Erinnerung. Sie sind erloschen, sobald sie starben. Sie sind, als wären sie
nie gewesen.“
Vielleicht wird die Türkei eines Tages aufhören, jener Drecksstaat zu sein,
der er (nicht erst seit Recep Tayyip Erdogan) ist. Vielleicht wird man sich
an diesen Jungen aus dem Istanbuler Armenviertel Okmeydanı erinnern;
vielleicht wird es nicht so werden, als wäre Berkin Elvan nie gewesen.
Vielleicht wird wenigstens dieses [3][Foto] bleiben.
Berkin war 14 Jahre alt, als er am 16. Juni 2013 von einer Tränengaspatrone
am Kopf getroffen wurde. Es war der Tag nach der [4][Räumung des
Gezi-Parks], als tausende Menschen in verschiedenen Teilen der Stadt
versuchten, zum [5][Taksim-Platz zu gelangen]. Berkin wollte nicht
demonstrieren, er hatte – es klingt so kitschig, dass man es sich kaum
traut, es aufzuschreiben – das Haus verlassen, um Brot kaufen.
269 Tage lag er im Koma. 269 Tage, in denen er seinen 15. Geburtstag
verbrachte. 269 Tage, in denen seine Familie und Oppositionelle nicht die
Hoffnung verloren. [6][„Diren Berkin“], rief und schrieb man an Wände und
[7][„Uyan Berkin“] – „Kämpfe Berkin“ und „Wach auf Berkin“. Es w…
eine Fürbitte denn eine Parole, fast ein Gebet. Doch Berkin hat es nicht
geschafft. Am frühen [8][Dienstagmorgen ist er verstorben]; am Mittwoch
wird er beigesetzt.
## Zerrissene Erinnerung
Die Geschichte der Türkei ist voller Menschen, die aus politischen Gründen
getötet wurden. Aber es gibt keine gemeinsame Erinnerung. Wo man auch
hinkommt, fast überall sind an den Wänden Bilder von Menschen zu sehen, die
eines gewaltsamen Todes starben. Doch bei den Aleviten hängen andere
Porträts als bei den Kurden, bei den Linken andere als bei den Rechten, bei
den Armeniern andere als bei den Kemalisten. Und nur die Wenigsten davon
finden sich in türkischen Schulbüchern.
Die Zerrissenheit der Gesellschaft spiegelt sich in der Zerrissenheit der
Trauer wider – und der Unfähigkeit, aus dem historischen Abstand zu etwas
wie einer Aussöhnung und damit zu einer gemeinsamen Erinnerung zu gelangen.
Wäre sie dazu fähig, die Geschichte von Blut und Tränen würde sich nicht
seit Jahr und Tag wiederholen; würden nicht ständig neue Berkins
hinzukommen, die sterben, ohne sich einmal verliebt zu haben.
Dies an so einem Tag aufzuschreiben, fällt schwer. Vielmehr muss man den
Wunsch unterdrücken, dass sich jemand findet, der ein paar Verantwortlichen
und einigen ihrer Schergen eine Kugel sauber zwischen die Augen platziert –
nicht, weil dadurch jemand wieder lebendig würde, sondern damit diese
Leute, wenn schon nicht aus schlechtem Gewissen, so wenigstens aus Angst um
ihr beschissenes Leben nicht ruhig schlafen können.
Nein, es wäre keine Lösung, es wäre die Fortsetzung dieser Geschichte. Es
ist nur ein Gefühl, das Hilflosigkeit entspringt. Und dem Wissen darum,
dass derzeit nichts danach aussieht, als würden die Mörder jemals zur
Verantwortung gezogen werden. Nach den Korruptionsermittlungen wurden zwar
9.000 [9][Polizisten und Staatsanwälte strafversetzt]; im Zusammenhang mit
den Toten und Verletzten von Gezi musste niemand auch nur seinen Job
wechseln, ebenso wie in den anderen Fällen vorher.
Anders als bei anderen Toten vom Frühjahr, anders als beispielsweise bei
Ali Ismail Korkmaz, der im westtürkischen Eskişehir von Zivilisten und
Passanten [10][totgeprügelt][11][ wurde], oder bei Abdulllah Cömert, der im
südtürkischen Antakya ebenfalls von einer Tränengasgranate tödlich verletzt
wurde, sind nun Beileidsbekundungen von einigen Verantwortlichen zu
vernehmen. So bekundete der Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu über
[12][Twitter] sein Beileid. Er soll zur Hölle fahren.
## Schwerer als alle Tonbandaufnahmen
Denn wäre die Türkei ein besserer Staat, einer wie Mutlu hätte nicht die
Befehlsgewalt über die Polizei. Anfang der neunziger Jahre hatte er sich im
kurdischen Silopi einen Namen als Befehlshaber der dortigen Folter- und
Prügelpolizisten gemacht und setzte unter der AKP seine Karriere fort.
Wenige Stunden vor der Räumung des Parks twitterte er, dass an diesem Tag
keine Räumung vorgesehen sei, danach [13][gratulierte er der Polizei] zu
dieser „gelungenen Operation“.
Ebenso verlogen ist die Beileidsbekundung von Staatspräsident Abdullah Gül.
Monatelang hatte er kein Wort zu den Gewaltexzessen der Polizei über die
Lippen gebracht. Bei den Familienangehörigen der übrigen Toten der
Gezi-Proteste hat er sich nie gemeldet; bei Berkins Familie rief er am
Montag zum ersten Mal an. Wenigstens Erdogan ist bislang so ehrlich, der
sich nach den Gezi-Protesten gebrüstet hatte, der Polizei die Befehle
erteilt zu haben und sie dafür rühmte, ein „Heldenepos“ geschrieben zu
haben, kein Bedauern auszudrücken, wo er keines empfindet.
„Wir wurden sehenden Auges getötet, mein Volk, vergiss uns nicht“, heißt …
in einem leicht pathetischen, vor allem aber todtraurigen Gedicht des
Journalisten [14][Uğur Mumcu], der 1993 durch eine Autobombe getötet wurde
und dessen Mörder bis heute nicht gefunden wurden. Vielleicht wird dieses
[15][vergessliche Volk] Berkin Elvan nicht vergessen – und nicht, wer für
seinen Tod verantwortlich ist. Denn schwerer als alle Korruptionsvorwürfe,
schwerer als alle veröffentlichten und vielleicht noch kommenden
Tonbandmitschnitte lastet der Tod dieses Jungen auf Erdogan und seiner
Regierung. Mögen sie dafür zum Teufel gejagt werden. Aber auch das wird
Berkin nicht wieder lebendig machen.
11 Mar 2014
## LINKS
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rputsch_in_der_T%C3%BCrkei_1971
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Unruhen_in_Gazi_1995
[3] http://i.milliyet.com.tr/YeniAnaResim/2013/06/18/fft99_mf3382785.Jpeg
[4] /!118199/
[5] /!118237/
[6] http://twitter.com/duvaryazisiyiz/status/443030974578704384/photo/1
[7] http://twitter.com/ilgitdagustun/status/443104254493196289/photo/1
[8] /!134608/
[9] /!130534/
[10] http://webtv.radikal.com.tr/turkiye/4806/ali-ismaili-boyle-oldurmusler.aspx
[11] http://webtv.radikal.com.tr/turkiye/4806/ali-ismaili-boyle-oldurmusler.aspx
[12] http://twitter.com/Valimutlu
[13] /!118182/
[14] http://de.wikipedia.org/wiki/U%C4%9Fur_Mumcu
[15] /!118162/
## AUTOREN
Deniz Yücel
## TAGS
Schwerpunkt Protest in der Türkei
Gezi-Park
Berkin Elvan
Recep Tayyip Erdogan
Tränengas
Türkei
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