| # taz.de -- Kolumne Besser: Der erste islamistische Mord in Berlin | |
| > Eine Erinnerung an Celalettin Kesim, der 1980 von Islamisten und | |
| > Rechtsextremisten ermordet wurde. Oder: Wie aus Türken Muslime wurden. | |
| Bild: Plakat zur Erinnerung an Celalettin Kesim, Gedenktafel in Kreuzberg: „S… | |
| Noch vor ein paar Tagen hingen an der unscheinbaren Skulptur, die in der | |
| Mitte der Brache zwischen der Skalitzer und Kottbusser Straße in | |
| Berlin-Kreuzberg steht, rote, bereits verblühte Nelken. Inzwischen sind sie | |
| verschwunden. Gut zwei Wochen ist es her, dass sie jemand mit Klebestreifen | |
| befestigt hatte. Am 5. Januar nämlich, als sich dort vielleicht 100 | |
| Menschen zusammenfanden, meist ergraute türkische und eine Handvoll | |
| ebenfalls ältere deutsche Linke. Eine Parallelgesellschaft. Denn nur wenige | |
| Kreuzberger dürften heute diese Geschichte kennen: die Geschichte des | |
| ersten und für lange Zeit letzten Mordes, der hierzulande von | |
| Islamfaschisten verübt wurde. | |
| Das Opfer hieß Celalettin Kesim. Er lebte seit 1973 in Berlin, arbeitete | |
| als Berufsschullehrer und war Sekretär eines Vereins namens „Berliner | |
| Türkenzentrum“, Mitglied der Lehrergewerkschaft GEW sowie der | |
| Kommunistischen Partei der Türkei (TKP). | |
| Am 5. Januar 1980, einem kalten Samstagmorgen, verteilt Kesim mit Freunden | |
| am Kottbusser Tor Flugblätter. Es kommt zu einem Streit mit einer Gruppe | |
| von Leuten aus der nahe gelegenen Mevlana-Moschee. Schließlich werden die | |
| Linken mit Messern und Knüppeln angegriffen. Diese Moschee gehört zur | |
| islamistischen Milli-Görüş-Bewegung. In der Türkei herrschen damals | |
| bürgerkriegsähnliche Zustände, täglich liefern sich Anhänger der | |
| faschistischen Grauen Wölfe (MHP) und Islamisten auf der einen und Linke | |
| auf der anderen Seite Schießereien, zuweilen auch konkurrierende linke | |
| Gruppen untereinander. | |
| ## „Allah, Allah!“ | |
| Zweimal sind Islamisten und Faschisten in jenen Jahren an Regierungen des | |
| konservativen Politikers Süleyman Demirel beteiligt. Die Unterschiede | |
| zwischen den Konservativen, der Milli Görüş und den Grauen Wölfen sind | |
| zweitrangig; es gilt, die gemeinsamen Feinde zu bekämpfen: die Kommunisten. | |
| Und diese Spannungen haben sich längst auf die Diasporatürken übertragen. | |
| „Allah, Allah“, rufend stürmen die Angreifer auf TKP-Leute zu. Kesim wird | |
| durch einen Messerstich an der Oberschenkelarterie verletzt. Seine Freunde | |
| können ihn bis zum Landwehrkanal tragen, wo er verblutet. „Der Krankenwagen | |
| kam viel zu spät; das war den Deutschen egal, was die Türken untereinander | |
| machten“, [1][sagen sie noch Jahre später]. Und: „Die Grauen Wölfe waren | |
| Verbündete der deutschen Rechten.“ | |
| Zumindest ist bekannt, dass deren Führer Alparslan Türkeş ein geschätzter | |
| Gesprächspartner von CSU-Chef Franz Josef Strauß war. Und wer heute die | |
| minutiös zusammengestellte Dokumentation von Presseartikeln, Flugblättern | |
| und Reden durchblättert, die das „Türkenzentrum“ ein paar Jahre danach | |
| herausgab, bemerkt tatsächlich ein partielles Interesse der deutschen | |
| Öffentlichkeit. | |
| „Türken-Krieg mit Fleischermesser: 1 Toter“, meldet seinerzeit die | |
| Bild-Zeitung mit ein paar knappen Zeilen, einige Berliner Politiker fordern | |
| Verschärfungen des Ausländerrechts, während die politischen Hintergründe | |
| des Mordes kaum interessieren. | |
| ## „Ausweisung aller Faschisten“ | |
| Anders die deutsche Linke. Über 10.000 Menschen beteiligen sich am | |
| Trauermarsch für Kesim; die Zeitungsfotos zeigen Teilnehmer mit schwarzen | |
| und welche mit blonden Schnauzern. Die taz nennt Kesim „das erste Opfer | |
| faschistischer Gewalt im Nachkriegsberlin“, den wenige Tage zuvor an den | |
| Spätfolgen des Attentats verstorbenen Rudi Dutschke nicht berücksichtigend. | |
| „Verbot aller faschistischen Organisationen“, fordern die Demonstranten. | |
| Und: „Ausweisung aller Faschisten.“ | |
| Beides wäre heute unvorstellbar, das abschätzige Desinteresse der Bild („1 | |
| Toter“) ebenso wie der Umstand, dass Linke gleich welcher Herkunft | |
| Abschiebungen fordern. | |
| Doch eine solche Forderung wäre heute, alle grundsätzlichen Einwänden mal | |
| beiseite gelassen, sinnlos. Den hiesigen Islamisten kann man vielleicht, | |
| wie jüngst der marokkanischstämmige Bürgermeister von Rotterdam, Ahmed | |
| Aboutaleb, ein zorniges [2][„Haut doch ab!“ zurufen]. Aber außer ein paar | |
| [3][Hinterwäldlern in Dresden] und einigen in der CSU weiß jeder, dass | |
| viele von ihnen deutsche Staatsbürger sind und manche zudem Sven, Bernhard | |
| oder Ronny heißen. | |
| Die Salafisten samt ihrer dschihadistischen Abteilung sind eine inländische | |
| Subkultur. Gleichwohl sehen sie sich als Teil einer – mit welchen Mitteln | |
| auch immer – kämpfenden weltweiten Bewegung, was zurückführt zu Kesim. Sein | |
| Tod hatte nicht nur mit Konflikten in der Türkei zu tun, sondern stand | |
| zugleich im Zusammenhang mit einem globalen Konflikt, von dem eine direkte | |
| Linie zum Dschihadismus der Gegenwart weist: zum Afghanistankrieg. | |
| Wenige Tage vor der Attacke, am 25. Dezember 1979, war die Sowjetunion in | |
| Afghanistan einmarschiert. Im Folgenden bildete sich eine einzigartige | |
| Allianz: Von Ronald Reagan zu Michel Foucault, von der taz bis zur Bild | |
| leistete man ideelle oder materielle Unterstützung für die islamistischen | |
| Mudschaheddin, aus deren Erbe später die Taliban und al-Qaida hervorgehen | |
| sollten. Auf der Seite des linken Putschistenführers Babrak Karmal hingegen | |
| stand die Sowjetunion; politische Sympathien genoss er allein unter den | |
| Vasallenparteien der KPdSU, also etwa der DKP, der Westberliner SEW oder | |
| der TKP. | |
| ## „Fremde Ideenwelt“ | |
| In den Flugblättern, die Kesim und seine Genossen an jenem Januarmorgen | |
| verteilen, warnen sie vor einem Putsch in der Türkei. Und sie rufen zur | |
| Solidarität mit dem Einmarsch der Roten Armee auf. Ehe es zum Angriff | |
| kommt, stehen sich beide Gruppen gegenüber. „Die Sowjets sind die Freunde | |
| der Völker“, rufen die einen. „Russen raus aus Afghanistan“, antworten d… | |
| anderen. Und: „Wer Allah liebt, schlage zu!“ Nach diesem Wortgefecht gehen | |
| die Linken weg. Sie haben sich etwas zerstreut, als die Islamisten und | |
| Faschisten zuschlagen und Celalettin Kesim tödlich treffen. Er ist 36 Jahre | |
| alt und hinterlässt eine schwangere Ehefrau und einen siebenjährigen Sohn. | |
| Einer der beiden Angeklagten wird freigesprochen, der andere, der sich im | |
| Prozess als „geistiger Führer“ von Milli Görüş in Berlin bezeichnet, wi… | |
| wegen „Landfriedensbruchs und Beteiligung an einer Schlägerei“ verurteilt. | |
| Das Gericht hält ihm strafmildernd zugute, dass er „nach seiner ganzen | |
| Ideenwelt an eine gute Sache geglaubt“ habe, auch wenn „diese dem hiesigen | |
| Denken fremd“ sei. | |
| Im Folgenden verlieren die politischen Kategorien, die 1980 zählen, an | |
| Bedeutung und verschwinden mit der Zäsur von 1989 fast völlig. Spätestens | |
| mit den Anschlägen zu Beginn der neunziger Jahre wird der Antirassismus zum | |
| zentralen Bestandteil des linken und linksliberalen Selbstverständnisses. | |
| Womöglich ist dies ein Grund dafür, dass Kesims Schicksal in Vergessenheit | |
| gerät – viel stärker als das von [4][Kemal Cemal Altun], der 1983 | |
| angesichts der drohenden Auslieferung an die Türkei mit einem Sprung aus | |
| dem einem Berliner Gerichtsgebäude Suizid verübt hatte. | |
| ## Islamisierung der Türken | |
| Nach einem Ereignis, bei dem abermals eine Verbindung nach Afghanistan | |
| führt, dem 11. September 2001 nämlich, verschiebt sich wieder etwas. In der | |
| öffentlichen Wahrnehmung werden nun Ausländer zu Andersgläubigen und Türken | |
| zu Muslimen. Das zeigt sich schon in den gängigen Statistiken, in denen von | |
| der ethnischen Herkunft auf die Religion geschlossen wird, weshalb von | |
| weltweit 1,6 Milliarden und deutschlandweit von 4,25 Millionen Muslimen die | |
| Rede ist. Für die Kesims von heute, die Sozialisten, Liberale, | |
| Nationalisten, Anarchisten oder von allem ein bisschen oder etwas ganz | |
| anderes sind, aber keine Muslime, auch keine „säkularen Muslime“, ist in | |
| dieser Wahrnehmung kein Platz. | |
| Anfang der neunziger Jahre wurde auf Initiative eines Kreuzberger Lehrers | |
| der Gedenkstein aufgestellt, verziert mit einer Zeile aus einem Gedicht von | |
| Nazım Hikmet: „Sie sind die Feinde der Hoffnung, Geliebte.“ Weiter 15 Jahre | |
| später ließ die Bezirksverwaltung dort ein paar Bänke aufstellen. So ist | |
| aus dieser Ecke ein kleiner Platz entstanden. Ob aus Zufall oder aus | |
| Überlieferung – noch die ersten Berliner Solidaritätskundgebungen für die | |
| Gezi-Proteste, deren Teilnehmern zumeist 1980 noch gar nicht geboren waren, | |
| fanden hier statt. Nur einen Namen hat der Platz nicht. | |
| „Parallelgesellschaft“ ist ein dummes Wort. Gleichwohl braucht die in | |
| Klassen, Schichten Milieus segmentierte moderne kapitalistische | |
| Gesellschaft gemeinsame Grundlagen – rechtliche, normative und narrative. | |
| Dazu gehört, dass sie, wenigstens aus zeitlichem Abstand, verschiedene | |
| Erzählungen kanonisiert. In Kreuzberg trifft heute die Rudi-Dutschke-Straße | |
| die Axel-Springer-Straße. Im kommenden Jahr wird Celalettin Kesims Tod so | |
| lange zurückliegen, wie er gelebt hat: 36 Jahre. [5][Es ist an der Zeit,] | |
| ihm einen Platz geben. Und dieser namenlosen Ecke einen Namen. | |
| Besser: Ein Celalettin-Kesim-Platz für Kreuzberg. | |
| Anmerkung: In einer ersten Version dieses Textes war die Zahl von | |
| Celalettin Kesims Kindern falsch angegeben. | |
| 21 Jan 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://jungle-world.com/artikel/2002/01/24681.html | |
| [2] http://www.welt.de/politik/ausland/article136355172/Wenn-es-euch-hier-nicht… | |
| [3] /Die-Wahrheit/!153093/ | |
| [4] /!122792/ | |
| [5] /Moderne-Gotteshaeuser/!24858/ | |
| ## AUTOREN | |
| Deniz Yücel | |
| ## TAGS | |
| Islamismus | |
| Kreuzberg | |
| Besser | |
| Polizei Berlin | |
| Wuppertal | |
| Besser | |
| Islamismus | |
| Islamismus | |
| Islamophobie | |
| Schwerpunkt Pegida | |
| Gezi-Park | |
| Deniz Yücel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Berliner Polizei geht gegen Islamisten vor: Moschee durchsucht | |
| Razzia in Tempelhofer Moschee und Privatwohnungen wegen Verdachts der | |
| Rekrutierung islamistischer Kämpfer für Syrien. Kenner sagen: Das wurde | |
| Zeit. | |
| Kolumne Besser: Antisemitismus? Ist abgeschafft | |
| Jutta Ditfurth gegen Jürgen Elsässer und der Brandanschlag auf die Synagoge | |
| in Wuppertal – über zwei bemerkenswerte Urteile deutscher Gerichte. | |
| Kolumne Besser: Meine Mudda gehört zu Deutschland | |
| Eine E-Mail von „Emma“. Oder noch mal zur Islamisierung der Türken und zu | |
| Zahlen, die man nicht kennt und die man doch so gerne benutzt. | |
| Razzia in Berlin und Thüringen: Durchsuchung bei Islamisten | |
| Vor vier Tagen nahm die Polizei mutmaßliche Terroristen fest. Nun | |
| durchsuchten die Behörden mehr als ein Dutzend Wohnungen in Berlin, | |
| Brandenburg und Thüringen. | |
| Kommentar „Charlie-Hebdo“-Titel: Die Träne des Propheten | |
| Man kann es kaum erahnen, welch unmenschlicher Druck auf den überlebenden | |
| Mitarbeitern der neuen „Charlie Hebdo“-Ausgabe gelastet haben muss. | |
| Kommentar „Je suis Charlie Hebdo“: Jede Menge falsche Freunde | |
| Die Pegidas dieser Welt haben kein Recht, die ermordeten Satiriker zu | |
| instrumentalisieren. Und wer die Tat mit „Aber“ verurteilt, rechtfertigt | |
| sie. | |
| Kolumne Besser: Wie der Herr, so's Gescherr | |
| Pegida findet die „Lügenpresse“ doof, die „Lügenpresse“ findet Pegida… | |
| Aber es gibt Ausnahmen: Stephan, Weimer, Matussek, Broder, di Lorenzo. | |
| Tod eines 15-Jährigen in der Türkei: Ein Gefühl der Hilflosigkeit | |
| Mögen die, die für den Tod von Berkin Elvan verantwortlich sind, zum Teufel | |
| gejagt werden. Möge die Türkei aufhören, jener Staat zu sein, der er ist. | |
| Moderne Gotteshäuser: Zeigt her eure Moscheen! | |
| Der Boom repräsentativer Moscheebauten ist Ausdruck eines | |
| Emanzipationsprozesses, der auch die Muslime verändert: Das islamische | |
| Gemeindeleben wird transparenter. |