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# taz.de -- #allesaufdentisch vs. Youtube: Lieber auf als unter dem Tisch
> Die Video-Aktion #allesaufdentisch enthält viel Corona-Geschwurbel aus
> Intuition und wenig Kontext. Doch eine Löschung auf Youtube ist keine
> Lösung.
Bild: Manchmal muss einfach alles auf den Tisch, auch das, was stinkt
Manchmal ist es verständlich, Gesprächsbeiträge loswerden zu wollen, wenn
sie vom Thema ablenken, wenig hilfreich sind, selbstdarstellerisch oder
gefährlich falsch. Das gilt für jeden Diskurs. Mehr noch im Netz, wo sich
Falschinformationen, Gerüchte und Verschwörungsglauben unkontrolliert und
schnell verbreiten und – wie wir inzwischen wissen – Stimmungen kippen,
politische Entscheidungen prägen und Menschen in Gefahr bringen können. Und
das, ohne dass man mit Gegendarstellungen und Faktenchecks wirksam
hinterherkäme.
Die Internetplattformen stehen seit einigen Jahren stärker unter Druck,
darüber zu richten, was im Netz stehen soll und was nicht. Aber die
Plattformen sind im Kampf gegen Desinformation ambivalente Verbündete.
[1][Die Initiative #allesaufdentisch] um den Regisseur und Drehbuchautor
Dietrich Brüggemann und den Schauspieler Volker Bruch hat beim Landgericht
Köln einen Erfolg gegen Youtube erzielt. Die Videoplattform hatte zwei
[2][Videos der Aktion] gelöscht, in denen zwei Forscher sich zur
Coronakrise äußern. Das Gericht erließ am Montag eine einstweilige
Verfügung mit dem Verbot, diese Videos zu löschen. Zuvor hatte einer der
Initiatoren, der Fernsehschauspieler Volker Bruch, rechtliche Schritte
gegen Youtube angekündigt.
Bei den betroffenen Videos handelt es sich um Gespräche mit dem
Neurobiologen und Angstforscher Gerald Hüther und dem Mathematiker Stephan
Luckhaus. Youtube hatte sie gelöscht, wahrscheinlich nachdem sie von
User*innen geflaggt, also gemeldet worden waren. Von sich aus durchgräbt
Youtube für gewöhnlich nicht seine Datenbank.
## Für Löschung fehle konkrete Erklärung
Warum und durch wen die Entscheidung fiel, die Videos zu löschen, war
unklar. „Wir arbeiten mit einer Kombination aus Mensch und Technologie, um
Inhalte auf unserer Plattform zu moderieren“, sagt ein Sprecher des
Mutterkonzerns Google, zu dem Youtube gehört, der taz. „Mehrere Videos,
hochgeladen auf dem Kanal allesaufdentisch, wurden als Verstoß gegen unsere
Richtlinien erkannt.“ Warum? Keine Angabe. Auch nicht gegenüber den
Kanalbetreiber*innen.
Weil die konkrete Erklärung fehle, so das Landgericht Köln in seiner
Begründung, gebe es auch nichts zu löschen. Youtube „habe der
Antragstellerin nicht konkret genug mitgeteilt, welche Passagen ihrer
Meinung nach gegen welche Vorschrift der von ihr aufgestellten Richtlinien
verstoßen würden“.
So, lautet die Begründung weiter, dürfe „nur bei kurzen Videos mit
offensichtlich auf den ersten Blick erkennbaren medizinischen
Fehlinformationen“ verfahren werden. Hier geht es aber um zwei Halbstünder,
in denen die Forscher Hüther und Luckhaus sehr viel sagen. Das meiste davon
– möglicherweise sogar alles – ist faktisch erst mal korrekt.
Bei der Initiative #allesaufdentisch wie schon bei der Vorgängeraktion
#allesdichtmachen geht es vorrangig weniger um Falschinformationen der Art
„Chlorreiniger trinken hilft gegen Corona“ oder „Hillary Clinton betreibt
einen Kinderhandel aus einem Pizzaladen“.
## Diffuse Behauptungen
Es geht eigentlich nicht direkt um Falschaussagen, sondern um einen
Dreiklang aus: 1. ganz viel Intuitives und Ungefähres, 2. wenig Kontext und
3. extrem viel Interpretationsspielraum.
Die Befragten in den Videos werfen größtenteils interessante und legitime
Punkte auf, von der Vernachlässigung der Schulbildung in der Pandemie über
angstgetriebene Kommunikation bis hin zur [3][für Laien unüberblickbaren
Komplexität] und der Abhängigkeit von Experten. Punkte, die auch
größtenteils in den vergangenen anderthalb Jahren regelmäßig erörtert
wurden.
Allerdings findet durch die „interviewenden“ Künstler*innen so wenig
kritische Befragung statt, dass die einzelnen Themen und Aussagen im
luftleeren Raum stehen bleiben. Gerahmt wird das Ganze in die diffuse
Behauptung „ihr habt uns alle diese Informationen vorenthalten“.
Das Problem bei diesem Framing ist, dass man ihm mit Deplatforming (Anm. d.
Red.: Strategie zum Ausschluss einzelner Personen oder Gruppen von
digitalen Plattformen) nicht beikommt. „Geschwurbel“ zeichnet sich nicht
dadurch aus, dass es klar falsch ist. Sondern es bombardiert mit assoziativ
sortierten Informationen, von denen man die meisten unterschreiben muss,
und suggeriert dadurch eine Wahrheit der darunterliegenden Haltung.
## Nicht falsch, aber sehr platt
Konkret gelöscht hatte Youtube zum einen das Video „Angst“ mit Neurobiologe
Gerald Hüther. Dieser stellt darin die These auf, dass die Pandemie zu
einem angstgeleiteten Denken führe. Das ist nicht falsch. Er mündet im
Laufe des Gesprächs in der These, dass man gut zu sich selber sein soll, um
die Angst zu überwinden.
Das ist im Zusammenhang mit dieser mit großer Fanfare gestarteten Aktion
extrem banal – aber nicht falsch. Hüther schlägt kurz
verschwörungsideologische Töne an, wenn er suggeriert, dass die
Pandemieangst im Zusammenhang stehe zur Dienstleistungs- und
Konsumgesellschaft. Aber auch das muss kein Verschwörungsglaube sein,
sondern ist vielleicht nur eine ganz besonders platte These.
Ebenfalls gelöscht wurde das Video mit dem Mathematiker Stephan Luckhaus,
der aus [4][der wissenschaftlichen Vereinigung Leopoldina] ausgetreten ist
und seit Längerem regelmäßig vorrechnet, dass die Zahl der tatsächlich
Infizierten zu Beginn der Pandemie schon 20-mal größer gewesen sein soll,
als das RKI annimmt. Diese Berechnung enthält viele Unsicherheiten und
fordert natürlich auch die Frage heraus, was daraus folgt: ein
Durchseuchungsexperiment wie in England mit wesentlich mehr Toten?
Es ist sicher keine eklatante Falschinformation. Es ist ein Beitrag zum
wissenschaftlichen und pandemiepolitischen Diskurs, der seit Monaten kein
breites Gehör findet und es noch einmal versucht. Und der übrigens auch als
Vorlesung von Luckhaus auf Youtube zu finden ist.
Das Landgericht Köln stellt fest: Solange Youtube nicht konkret eine Stelle
nennen kann, die gegen die Geschäftsbedingungen verstößt, hat
#allesaufdentisch einen vertraglichen Anspruch auf die angebotene
Dienstleitung. Damit wäre die Diskursposition auf dem Geschäftsweg geklärt.
Nebenbei bekommt die Aktion wohl gerade mehr Aufmerksamkeit, als es die
länglichen und drögen Videos aus eigener Kraft geschafft hätten.
## Youtube und Desinformation
Youtube und andere Plattformen [5][müssen dazu verpflichtet werden], bei
Verstößen mit geltendem Recht einzugreifen, bei Diskriminierung, Bedrohung,
Mobbing und Aufrufen zur Gewalt sowie bei der Organisation von Straftaten
wie dem Capitol-Sturm im Januar, für den Facebook gerade wieder zu Recht
unter Druck steht.
Einen Kausalzusammenhang zu ziehen zwischen #allesaufdentisch und den
menschenfeindlichen und gewaltsamen Auswüchsen der Querdenkerei führt zu
weit. Gewiss mag sich die eine oder andere radikale Querdenkerin von der
diffusen Antihaltung von #allesaufdentisch angespornt fühlen, und das in
Kauf zu nehmen, dafür ist die Aktion in jedem Fall scharf zu kritisieren.
Die Plattformen aber als Löschverbündete zu begreifen bei allem, was im
gesellschaftlichen Diskurs einen gefährlichen Schmetterlingseffekt auslösen
könnte, ist gefährlich. Es überträgt den Plattformen Macht und moralische
Legitimation für intransparente Eingriffe in Debatten.
Es gibt Parallelen zwischen den Schwurblern und den Plattformen. Auf
konkrete, transparente Aussagen festnageln lassen sie sich beide nicht.
13 Oct 2021
## LINKS
[1] /Prominente-gegen-Coronapolitik/!5802821
[2] https://www.allesaufdentisch.tv/
[3] /Intensivmediziner-ueber-Inzidenzwert/!5791684
[4] /Vermittlung-von-Wissenschaft/!5779429
[5] /padeluun-ueber-maechtige-Tech-Konzerne/!5804031
## AUTOREN
Peter Weissenburger
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