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# taz.de -- Wildtiere im Zirkus: Eine Frage der Haltung
> Wildtierhaltung im Zirkus ist Tierquälerei, behauptet Julia Klöckner und
> will den Übeltätern das Handwerk legen. Nur: Leiden die Tiere
> tatsächlich?
Bild: Auftritte wie dieser des Tierlehrers Martin Lacey jr. mit Löwen sollen v…
Es ist Samstagnachmittag in Waltersdorf, als der Regen eine kurze Pause
macht und Mario Spindler nach seinen Tieren sieht. Waltersdorf ist einer
dieser Vororte, deren Namen man vor allem mit dem Besuch schwedischer
Einrichtungshäuser verbindet. Die Autobahn ist gleich um die Ecke, ein paar
Kilometer weiter hat letztes Jahr klammheimlich der Berliner Flughafen
seinen Betrieb aufgenommen. Ein kleines, schon etwas verblasstes, grünes
Schild an einer Straßenlaterne weist den Weg zum [1][Erlebnispark
Waltersdorf], der zugleich das Winterquartier des [2][Circus Berolina] ist.
Wenn kein Lockdown ist, kommen Familien hierher – um Elefanten zu füttern,
Ponys zu reiten oder sich eine kurze Zirkusvorstellung anzusehen.
Heute sind Tiere und Zirkusleute unter sich. „Tantor“ ruft Spindler, als er
bei einem der Gehege angelangt ist. Sofort kommt der Nashornbulle
angetrabt, der Zirkusdirektor krault ihn hinterm Ohr. Seine Eltern haben
den traditionsreichen Zirkus vor 25 Jahren aus den Resten des zerschlagenen
[3][Staatszirkus der DDR] aufgekauft. Noch heute bereist er vorwiegend den
Osten Deutschlands, 15 bis 20 Städte im Jahr.
Wäre nicht das Virus, wäre Berolina seit Anfang März auf Tournee.
Nashornbulle Tantor war jedoch schon ein paar Jahre lang nicht mehr dabei.
Wie auch Mara, Indra und Conny, die Spindler im Nachbargehege mit tiefen
Grolllauten begrüßen. Knapp 60 Jahre alt sind die drei asiatischen
Elefantenkühe. Außer ihnen hat Berolina noch vier afrikanische Elefanten.
Im letzten Programm hat einer von ihnen Mario Spindlers Neffen mit dem
Schleuderbrett in die Luft katapultiert.
Ihr Publikum begeistern die Spindlers mit solchen Nummern, doch für
Tierrechtsorganisationen sind sie nichts als Tierquälerei. Die Dressur von
Elefanten und anderen Wildtieren basiere „immer auf Gewalt und Zwang“,
[4][behauptet etwa Peta] – und hat neuerdings eine hochrangige
Mitstreiterin in der Politik.
Berlin, November 2020, [5][Auftritt Julia Klöckner]. Die
Bundeslandwirtschaftsministerin stellt bei einer Pressekonferenz den
[6][Entwurf einer Verordnung] vor. „Ich werde in den Wanderzirkussen
verbieten“, sagt sie und zählt auf: Giraffen, Flusspferde, Nashörner,
Primaten, Großbären und Elefanten. Sie alle sollen künftig nach dem Willen
der Ministerin nicht mehr in reisenden Zirkussen gehalten werden. Denn das
Leben dort bedeute „große Strapazen, großen Stress“ für die Tiere.
Klöckner ist ein tierlieber Mensch. Seit Monaten postet sie auf Facebook
Fotos ihres Australian Labradoodle Ella: wie sie im schicken Hundeanzug
[7][im Schnee herumtollt], wie sie Frauchen am Geburtstag während einer
Dienstreise in Brüssel [8][besuchen kommt]. Übermäßiges berufliches
Engagement in Sachen Tierwohl wird Klöckner dagegen selten unterstellt.
Kritiker halten ihr vielmehr vor, dass sie beispielsweise die Verbote des
Kükentötens und der betäubungslosen Ferkelkastration hinausgezögert hat und
die Haltung von Muttersäuen im Kastenstand für weitere 17 Jahre erlauben
wollte.
Die unmittelbaren Auswirkungen von Klöckners neuer Verordnung scheinen
zunächst nicht weiter der Rede wert zu sein, denn die wenigen aktuell
gehaltenen Tiere der genannten Arten sollen die Zirkusse behalten dürfen.
Und ihre Zahl ist überschaubar: insgesamt fünf, vielleicht sieben
Elefanten, zwei Giraffen, ein Flusspferd … Neuanschaffungen sind kaum
möglich. In wenigen Jahren wird es keines dieser Tiere mehr im Zirkus geben
– ob mit oder ohne Verordnung.
## Klöckners Bauchgefühl
Dennoch herrscht in der Zirkusbranche helle Aufregung. Solche staatlichen
Eingriffe seien wegen ihrer rufschädigenden Wirkung existenzbedrohend für
viele Unternehmen. Er akzeptiere, wenn jemand keine Tiere im Zirkus sehen
möchte, sagt etwa Jochen Träger-Krenzola vom Vorstand des
[9][Berufsverbandes der Tierlehrer]. „Aber es hört bei mir auf, wenn sie
versuchen, andere Leute zu missionieren, und mich dafür diskreditieren
wollen.“
Besonders ärgern sich Zirkusse und Tierlehrer, weil sie auf ausdrücklichen
Wunsch Klöckners eine Selbstverpflichtung vorgeschlagen haben, die weit
über die bisherigen Haltungsvorschriften hinausging. Das Ministerium dankte
und lobte das Konzept, ließ die Zirkusleute allerdings wissen: „Die Leitung
unseres Hauses möchte aus politischen Gründen einen anderen Weg verfolgen.“
Was unter solchen „politischen Gründen“ zu verstehen ist, ist für Volker
Kauder klar: „Das ist natürlich, weil die Tierrechtler Druck machen“, sagt
der ehemalige Unionsfraktionschef im Bundestag, „und dem will sich Klöckner
entziehen.“ Er halte nichts von einem grundsätzlichen Wildtierverbot, sagt
der Parteifreund Klöckners. „Mir ist wichtig, dass die Tiere anständig
gehalten werden – egal, ob das nun Wild- oder Haustiere sind.“
Verbote, so monieren die Zirkusse, bringen einen erheblichen Imageschaden
mit sich. „Ankommen wird bei den Leuten: Beim Zirkus ist etwas faul, denen
muss man sogar die Tiere verbieten. So schürt man Vorurteile und
verunglimpft eine ganze Branche“, sagt etwa Helmut Grosscurth,
Geschäftsführer der [10][European Circus Association]. „Am Ende heißt es
wieder: ‚Leute, nehmt die Wäsche rein …‘“ Auch das Argument, dass es i…
wieder Verstöße gegen die geltenden Haltungsvorschriften gebe, will er
nicht gelten lassen: „In Berlin gab es im Jahr 2019 über vier Millionen
Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Trotzdem ist da, soweit ich
weiß, der Straßenverkehr nicht abgeschafft worden. Stattdessen hat man die
Straßenverkehrsordnung verschärft.“
Vor allem fürchten die Zirkusvertreter, dass die jetzt genannten Tierarten
nur der Anfang sind. Nicht zu Unrecht, denn Klöckners erklärtes Ziel ist
es, das Verbot auf alle Wildtiere auszuweiten – vor allem auch auf
Raubkatzen, die besondere Attraktion einiger größerer Zirkusse: „Wenn ich
jetzt nur von meinem Bauchgefühl spreche, sage ich: Großkatzen haben in der
Manege nichts zu suchen.“ Mit einem bedauernden Lächeln fügt die Ministerin
hinzu: „Aber wir müssen uns auch an die Grundrechte halten.“
Die Debatte, die durch Klöckners Initiative neuen Zündstoff bekommt, ist
schon über 30 Jahre alt. In Deutschland gibt es rund 25 Millionen Schweine,
über zehn Millionen Hunde und um die 300.000 Reitpferde – doch über kaum
eine Tierhaltungsform wird ähnlich emotional gestritten wie über die von
ein paar hundert Wildtieren im Zirkus.
## Wenig weiß der Mensch über das Wohlbefinden der Tiere
Pauschale Urteile und Klischees prägen den Streit. Dialog findet längst
nicht mehr statt. Mit denen – gemeint sind immer die anderen – kann man ja
ohnehin nicht reden, heißt es. Stattdessen stellen Peta und Co. die
Zirkusleute an den Pranger, diese wiederum deklarieren die Tierrechtler als
verbohrte Ideologen. Beiden Seiten geht es vor allem ums Prinzip, und alle
nehmen für sich in Anspruch, stellvertretend für die Tierwelt zu sprechen.
Kritischen Nachfragen gegenüber sind beide Seiten skeptisch – und sie sind
gut vernetzt. Man stimmt sich untereinander ab, bevor man mit Journalisten
redet. Ein Tierrechtler sagt zur Begrüßung am Telefon gleich ganz offen:
„Man hat mich vor Ihnen gewarnt.“
Katharina Lameter holt tief Luft. So wie man eben Luft holt, wenn man mal
wieder an der Begriffsstutzigkeit des Gegenübers verzweifelt. Die
28-jährige Biologin ist bei der Arten- und Tierschutzorganisation Pro
Wildlife in München zuständig für die [11][Kampagne gegen
Wildtierzirkusse].
Die Frage, die das erhöhte Sauerstoffbedürfnis ausgelöst hat, ist die,
warum die „Wildheit“ von Tieren das ausschlaggebende Kriterium bei ihrer
Haltung sein soll. Die Frage ist zentral, weil ihre Beantwortung begründen
könnte, warum etwa für Hundehaltung oder Reitsport andere Regeln gelten
sollen. Und es lägen ja auch andere Kriterien nahe: So könnte man annehmen,
dass sich manche Tierarten für ein Leben im Zirkus eignen, andere dagegen
nicht, unabhängig davon, ob sie domestiziert sind oder nicht. Man könnte
auch vermuten, dass es vom Charakter des individuellen Tiers abhängt oder
davon, in welcher Haltung es aufgewachsen ist. Annahmen, die nicht völlig
absurd wären.
Lameter hält dennoch nichts von ihnen. „Ob ein Löwe, ein Zebra oder ein
Elefant – diese Tiere sind und bleiben Wildtiere und haben dementsprechend
an ihre Haltung ganz andere Ansprüche als eine Katze oder ein Hund, die
sich über einen langen Prozess hinweg an das Leben mit dem Menschen
angepasst haben“, sagt sie.
Hinter ihr, in der Ecke des Büros, liegt eines dieser angepassten Wesen und
schläft: der Hund der Aktivistin, zehn Jahre alt. Geht es ihm gut? Ist er
glücklich? Können Tiere glücklich sein? Wenig weiß der Mensch über das
Wohlbefinden der Tiere. Es gibt Hinweise, ja: die körperliche Gesundheit,
das Verhalten. Und natürlich behauptet jeder Tierhalter: Niemand kennt mein
Tier besser als ich; ich werde ja wohl wissen, wie es ihm geht. Da
unterscheiden sich Tierlehrerinnen wenig von Hundehaltern.
Mario Spindler führt in den Küchenwagen. Eine großzügige Einbauküche plus
Sitzecke. Auch im Winterquartier leben die Spindlers in ihren Wohnwagen.
Mario Spindler und seine Frau Melanie erzählen von ihrem Zirkus, ihren
Tieren und wie sich alles geändert hat in den letzten Jahren. In den
Neunzigern, da sind sie noch mit dem größten Drei-Manegen-Zirkus Europas
gereist. „Dann kam die Playstation, dann das Handy“, sagt Melanie Spindler.
„Der Zirkus war zwar nebenan – aber keiner hatte mehr Interesse.“
Gleichzeitig kamen aber auch die Tierrechtler, die Demonstranten vor dem
Zelt. Und jetzt Klöckner.
„Wir werden von der Politik kriminalisiert“, schimpft Mario Spindler. Das
Direktoren-Ehepaar redet sich in Rage, fällt sich gegenseitig ins Wort,
gestikuliert, eine Kaffeetasse wird umgestoßen. „Frau Klöckner soll doch
mal herkommen“, fordert Melanie Spindler. „Sie soll sich das anschauen, in
einen Zirkus mit Wildtieren gehen. Sie muss sich doch selber überzeugen, ob
die Zustände da so sind, wie sie es darstellt.“
Aber die Ministerin kommt nicht. Das letzte Mal, bekennt sie, war sie als
Kind in ihrem Dorf in einem Zirkus. Auch sonst wurde niemand aus ihrem
Ministerium in einem Zirkus vorstellig, um dort einmal die Tierhaltung in
Augenschein zu nehmen. Und auf die Ankündigung in der Pressekonferenz, man
werde nun Studien in Auftrag geben, angesprochen, reagiert Klöckner mit
einem Rückzieher: Man müsse erstmal sehen, welche Lücken noch bestünden und
wie man diese wissenschaftlich schließen könne.
## Kann das Tier mit dem Menschen?
Einen Mangel an Lücken gibt es jedenfalls nicht. So argumentieren Klöckner
und die Tierrechtler unter anderem damit, dass Wildtiere keinerlei
emotionale Bindung zum Menschen eingehen könnten und für sie der Kontakt zu
ihm grundsätzlich schon ein Stressfaktor darstelle. Es wäre ein gewichtiges
Argument, denn in diesem Falle wäre natürlich jede Dressur mit Leid für das
Tier verbunden, doch die Behauptung ist nicht belegt. Der
Verhaltensforscher Immanuel Birmelin etwa ist überzeugt davon, dass
Wildtiere enge Beziehungen zum Menschen eingehen können. [12][„Die
geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier“] heißt das jüngste Buch Birmelins.
Darin schildert er Fälle, in denen Wildtiere – vom Delfin bis zum Elefanten
– ohne Futterreiz die Nähe des Menschen gesucht hätten.
Auch René Strickler ist Birmelins Meinung: „Man kann zu einem Löwen eine
genauso enge Beziehung aufbauen wie zu einem Hund“, sagt er. Strickler
spricht nicht aus wissenschaftlicher Betrachtung, sondern aus Erfahrung.
Jahrelang war der Raubtierlehrer der Star beim Circus Roncalli. Strickler
war einer der ersten und konsequentesten Vertreter der sanften Dressur.
„Ich wollte den Besuchern keine Pranken schlagenden und Zähne fletschenden
Tiere zeigen, sondern wie vertrauensvoll das Zusammenspiel zwischen Tier
und Mensch sein kann.“ Über 40 Jahre lang arbeitete der heute 72-Jährige
mit Raubtieren. Er argumentiert, dass die Dressur das Leben für die Tiere
interessanter und abwechslungsreicher mache. Ohne sinnvolle Beschäftigung
werde man so intelligenten Lebewesen nicht gerecht.
„Der Schlüssel ist Vertrauen“, erklärt der Schweizer am Telefon. Mit
Gewaltandrohung erreiche man, anders als es die Tierrechtler behaupteten,
gar nichts. Niemals wäre Blacky, der Schwarze Panther, ihm aus drei Metern
Entfernung [13][in die Arme gesprungen], sagt Strickler. „Wissen Sie, was
das heißt? Dieses Vertrauen – er springt ja eigentlich ins Nichts.“
In der Tat lässt das Verhalten von Zirkustieren oft auf ein enges
Vertrauensverhältnis schließen. Ein Beweis ist es nicht. Für Katharina
Lameter ist es noch nicht einmal ein Indiz. „Nein, das sind Wildtiere, die
sich entsprechend ihrem Verhaltensrepertoire verhalten wollen, wie sie es
auch in der freien Wildbahn ausleben würden. Und dazu gehört kein Mensch.“
Aber lässt sich tatsächlich so kategorisch zwischen Wild- und
domestizierten Tieren unterscheiden? Anruf bei einem, der es wissen muss:
Kai Frölich ist habilitierter Veterinär, promovierter Biologe,
[14][Tierparkdirektor] und vor allem: Experte in Sachen Domestikation.
Nein, sagt Frölich, solche pauschalen Aussagen seien nicht möglich. Auch
Wildtiere könnten emotionale Bindungen zu Menschen eingehen, und
Interaktionen mit ihnen bedeuteten zwar oft, aber nicht grundsätzlich
Stress für die Tiere.
## Streitthema Transport
Davon, alle Wildtiere in eine Schublade zu stopfen, hält Frölich wenig. Die
Anpassungsfähigkeit von Wildtieren sei sehr unterschiedlich. Auch in Fragen
der Haltung lasse sich keine eindeutige Trennlinie zwischen Wild- und
domestizierten Tieren ziehen. Natürlich lasse sich ein Tiger in
Haltungsfragen in vielerlei Hinsicht mit einer Hauskatze besser vergleichen
als mit einem Zebra – schon allein, weil beide Fleischfresser seien. „Auch
wenn Tiger und Zebra Wildtiere sind, die Katze nicht.“ Aber letztendlich
könne man immer nur Vermutungen anstellen, wie es dem Tier geht. „Der Löwe
wird uns nicht sagen, ob er lieber in der Savanne auf Jagd gehen würde oder
sich lieber im Zirkus das Fressen vorsetzen lässt“, sagt Frölich. „Das si…
sehr schwere Fragen, auf die es keine leichte Antwort gibt, so gern mancher
das vielleicht hätte.“
Bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Wildtierverbots geht es zudem
nicht darum, ob man gerne Elefanten beim Männchenmachen oder Seehunden beim
Ballspielen zusieht. Es geht um die Frage, ob Leid von Wildtieren in einem
reisenden Zirkusunternehmen unvermeidlich ist, es also beispielsweise nicht
durch strengere Vorschriften oder Kontrollen zu verhindern wäre. Solange es
alternative Maßnahmen gibt, ist ein Verbot laut Tierschutzgesetz nicht
zulässig.
Neben der Frage nach der Anpassungsfähigkeit von Wildtieren ist der
Transport das zentrale Thema in der Debatte. Denn er unterscheidet den
Zirkus von den meisten anderen Tierhaltungsformen und würde rechtfertigen,
warum nur er Ziel eines Verbotes ist. Natürlich kennt auch Tierlehrer
Strickler die Vorwürfe, die Tiere würden durch die häufigen Transporte
ungeheurem Stress ausgesetzt. „Ich wollte mir dann mal selber ein Bild
machen, wie sie damit zurechtkommen, und habe eine ganze Fahrt im
geschlossenen Wagen mit meinen Löwen mitgemacht: Nach zehn Minuten haben
alle Tiere im Stroh geschlafen.“ Auch die Standortwechsel bedeuten in
Stricklers Augen keinen Stress, sondern einen „Riesenvorteil“ gegenüber
manchem Zoo. „Da haben sie neue Gerüche, neue Nachbarn, neue
Bodenbeschaffenheit. Das erhöht die Lebensqualität natürlich, weil die
Tiere stunden-, manchmal tagelang damit beschäftigt sind, die neue Umgebung
zu erkunden.“
Und die kleinen Käfigwagen, in denen die Tiere die meiste Zeit ausharren
müssen? Die hat es in der Tat einmal gegeben – vor Jahrzehnten. Er sei der
erste gewesen, der mobile Außenanlagen für die Raubkatzen aufgebaut habe,
sagt Strickler stolz, schon 1978. Später brauchte er zehn Lkws und 34
Anhänger allein für seine Requisiten: „Die Außenanlagen meiner Tiere haben
sich kaum von denen in Zoos unterschieden: Da gab’s Wasserfälle, Baumstämme
Felswände, Rückzugsmöglichkeiten.“ Das sei auch in einem reisenden
Unternehmen alles möglich.
Erfahrungswerte, die freilich keinen Eingang in Klöckners Verordnung
finden, die in ihrer Argumentation den Tierschutzverbänden folgt. Darin
wird darauf verwiesen, dass Transporte „naturgemäß“ mit Belastungen
speziell für Wildtiere einhergingen. Auf Nachfrage der taz, mit welchen
wissenschaftlichen Erkenntnissen man dies begründe, nennt Klöckners Haus
vier Arbeiten – exemplarisch für eine „Vielzahl von Studien“.
Klingt nach einer eindeutigen Quellenlage. Doch sieht man sich die
genannten Arbeiten näher an, stellt man fest: Nur eine der Publikationen,
ein elfseitiger Aufsatz, [15][streift das Thema Transporte] überhaupt: Die
Autoren bekunden darin Zweifel an den Ergebnissen älterer Untersuchungen,
die zu dem Ergebnis gekommen waren, dass sich etwa Raubkatzen und Elefanten
sehr gut an den regelmäßigen Transport gewöhnten – ohne diese jedoch zu
widerlegen.
## Die Argumentationsdecke ist dünn
Für die Tierschutzverbände steht das Leid der Zirkustiere dennoch außer
Zweifel. Ihnen geht Klöckners Verordnung daher nicht weit genug. So fordern
15 Verbände in einer gemeinsamen Stellungnahme die Ministerin auf, das
Verbot sofort auf alle Wildtierarten auszuweiten und auf einen
Bestandsschutz für die aktuell gehaltenen Tiere zu verzichten. Ihre Halter
müssten demnach ihre Tiere rasch in Auffangstationen abgeben.
Die Stellungnahme ist ein gutes Beispiel für die dünne Argumentationsdecke,
auf der die Verbotsverfechter wandeln. Die Tierrechtler fahren darin eine
ganze Armada an Argumenten und Quellen auf. Doch betrachtet man sie näher,
stellt man fest, dass sich die meisten Studien auf andere Haltungsformen
beziehen. Das Argumentationsschema läuft dann, etwas vereinfacht, oft so:
Wenn schon bei den Tieren beispielsweise im Zoo dieser und jener Missstand
zu belegen ist, um wie viel schlimmer muss es dann um die Zirkustiere
stehen, denen es ja bekanntlich viel schlechter geht. Dass gerade das der
Punkt ist, der zu beweisen wäre – geschenkt.
Ähnlich funktioniert auch eine [16][von der walisischen Regierung in
Auftrag gegebene Arbeit], auf die sich auch deutsche Tierrechtler immer
wieder beziehen. Auch die Macher dieser Studie haben nur andere
Veröffentlichungen ausgewertet. Und diese beschäftigen sich in den
seltensten Fällen mit der Tierhaltung im Zirkus. Stattdessen geht es um
Transporte zum Schlachthof, Verhaltensbeobachtungen im Zoo, Kannibalismus
unter Ratten oder den Gewichtsverlust weiblicher Rentiere im Winter.
An einer anderen Stelle in der Stellungnahme schreiben die Verfasser
pauschal, in der Dressur würden „nicht selten brachiale Gewalt, wie
Stockschläge, angewendet“. Dahinter die Fußnote Nummer 120, die Behauptung
scheint also belegt zu sein. Folgt man der Fußnote, findet man einen
Verweis auf die Autobiografie eines Tierlehrers. In dieser beschreibt er
tatsächlich, wie er einmal nach einer lebensbedrohlichen Ausnahmesituation
auf einen Löwen eingeschlagen hat. Das Buch ist von 1988, der Fall trug
sich 1965 zu. Ein Beweis für das, was heute „nicht selten“ bei der Dressur
stattfindet? Zumindest ein Hinweis auf die Qualität der Argumentation.
College Station, Texas. Ted Friend war gerade mit der Kettensäge draußen,
hat ein paar Bäume zersägt, die der Schneesturm auf die Zufahrt geweht
hatte. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer vor seinem Computer und lässt seinem
Ärger via Zoom freien Lauf: „Diese Tierrechtsaktivisten sind genau wie die
Anhänger von Donald Trump.“ Mit Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen
seien sie nicht zu erreichen.
Friend trägt ein Sweatshirt mit dem Schriftzug seiner Uni: „Texas A&M
University“. 38 Jahre hat er hier geforscht und gelehrt. Schwerpunkt:
Tierwohl. Zahlreiche seiner Arbeiten beschäftigten sich mit der Haltung von
Wildtieren in Zirkussen. Der Verhaltensforscher ist einer der wenigen
Wissenschaftler, die sich tatsächlich vor Ort ein Bild gemacht haben. Er
hat sich einen Wohnwagen zugelegt und ist regelmäßig mit Zirkussen
mitgereist – in den USA, aber auch in Italien.
## Auch in Deutschland gibt es Bäume
Das Pikante: Ausgerechnet Friend ist einer der wichtigsten Kronzeugen der
Tierrechtler. Immer wieder berufen sie sich auf seine Studien, insbesondere
diejenigen zu stereotypem Verhalten. Und tatsächlich: Friend hat
stereotypes Verhalten bei Zirkustieren festgestellt, etwa Tiger, die
unruhig am Gitter auf und ab laufen. Doch seien seine Studien zu dem
Ergebnis gekommen, dass es sich hier nicht um eine Verhaltensstörung
gehandelt habe, sondern um eine Reaktion auf äußere Umstände wie die
anstehende Fütterung oder die Vorstellung. Stereotypien könnten
unterschiedliche Ursachen haben, und die gelte es zu unterscheiden. „Die
missdeuten alle meine Studien“, schimpft Friend. Und die meisten hätten
noch nie Feldforschung in einem Zirkus betrieben.
Die mangelnde wissenschaftliche Basis ihrer Behauptungen über das Leid der
Wildtiere im Zirkus scheint aber weder Tierrechtler noch Julia Klöckner zu
beunruhigen.
Entsprechend schludrig präsentiert sich auch Klöckners Papier. So behauptet
das Ministerium darin, Breitmaulnashörner seien gute Schwimmer, was bei der
Haltung berücksichtigt werde müsse. In Wirklichkeit können diese Tiere
überhaupt nicht schwimmen. Weiter heißt es, Flusspferde bräuchten ein
Wasserbecken, in dem sie vollständig eintauchen könnten, was im Zirkus kaum
umsetzbar sei. Dass es in Deutschland nur noch ein Flusspferd gibt, das mit
einem Zirkus reist, und dieser ein solches Becken mitführt – egal.
Unfreiwillig komisch wird es auch, wenn das Ministerium findet, dass eine
adäquate Ernährung von Giraffen „im Zirkusbetrieb deshalb nur schwer
umsetzbar“ sei, da diese gewöhnlich von Baumblättern und -trieben lebten –
und sich der Tierlehrerverband daraufhin tatsächlich bemüßigt fühlt, das
Ministerium darüber in Kenntnis zu setzen, „dass in ganz Deutschland Bäume
wachsen“.
Es bleiben viele Fragen. Man bekäme sie von der Ministerin gerne
beantwortet. Ein Gespräch mit der taz lehnt Klöckner jedoch ab. Und
schriftlich eingereichte Fragen werden zwar pro forma beantwortet, dabei
geht die Politikerin jedoch auf die meisten Fragen gar nicht ein, sondern
wiederholt lediglich Statements aus der Pressekonferenz.
Eines der Hauptargumente bleibt denn auch der Zeitgeist. „Die Zeit hat sich
geändert, und auch die Sichtweise von Zirkusbesuchern hat sich geändert“,
behauptet Klöckner auf der Pressekonferenz. Was sie nicht sagt: dass, wenn
sie recht hätte, Wildtierzirkusse ohnehin kein Publikum mehr fänden und
sich die Frage nach einem Verbot erledigt hätte.
Demnächst soll der Bundesrat über die Verordnung befinden. Eine Zustimmung
gilt als sicher, da von der Länderkammer selbst in der Vergangenheit schon
mehrfach ähnliche Initiativen ausgegangen waren. Klöckners Ziel ist es, die
Verordnung noch vor der Bundestagswahl in Kraft treten zu lassen. Die
Zirkusunternehmen haben für diesen Fall eine Klage angekündigt.
Volker Kauder hat bereits resigniert. Er wisse, dass seine Position nicht
mehrheitsfähig sei, sagt der Politiker. „Leider. Die nächste Nummer wird
sein, dass die Haltung von Tieren im Zirkus komplett verboten wird“,
prophezeit Kauder. „Frau Klöckner ist auf dem besten Weg, aus dem
Gesamtkunstwerk Zirkus ein Varieté im Zelt zu machen.“
22 Apr 2021
## LINKS
[1] http://www.tiererlebnispark.de/
[2] http://www.circusberolina.de/Willkommen.html
[3] https://staatszirkus-der-ddr.de/
[4] https://www.peta.de/kategorie/tiere-in-der-unterhaltungsindustrie/zirkus/
[5] https://twitter.com/i/broadcasts/1MnxnlBBmPNGO
[6] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Glaeserne-Gesetze/Referentenent…
[7] https://www.facebook.com/juliakloeckner/posts/3923840301006852
[8] https://www.facebook.com/juliakloeckner/posts/3840308882693328
[9] http://berufsverband-der-tierlehrer.de/
[10] https://www.europeancircus.eu/
[11] https://www.prowildlife.de/hintergrund/zirkus/
[12] https://www.gu.de/produkte/heimtier/weitere-kleintiere/die-geheimnisvolle-…
[13] https://www.instagram.com/p/CJJ2-WUg6M-/
[14] https://www.arche-warder.de/
[15] https://www.federalcircusbill.org/wp-content/uploads/2014/04/Iossa2009.pdf…
[16] https://www.ispca.ie/uploads/The_welfare_of_wild_animals_in_travelling_cir…
## AUTOREN
Dominik Baur
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Liebeserklärung.
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