# taz.de -- Zukunft des Zirkus: Salto mortale | |
> Die Abgesänge auf den Zirkus häufen sich, viele große Namen sind | |
> verschwunden. Dafür boomen heute die Weihnachtszirkusse. Eine | |
> Liebeserklärung. | |
Bild: Manege frei: 1768 eröffnete in London ein Pferdetheater – der erste mo… | |
Beginnen wir diese Geschichte dort, wo sie fast immer beginnen, die | |
Geschichten vom Zirkus: in der Kindheit. Fünfziger Jahre, Wilhelmsburg, ein | |
Arbeiterstädtchen in Niederösterreich. Hier wächst Bernhard Paul auf. Eines | |
Nachts kommt ein Zirkus in die Stadt: der große Rebernigg. Hunderte bunte | |
Zirkuswagen überschwemmen den Ort. Weil der Zirkusplatz zu klein ist, | |
stehen sie in jeder Gasse. „Du wachst auf, gehst raus und denkst dir: Was | |
ist denn da los? Boah!“ Es sind zwei, drei Tage, an denen Wilhelmsburg | |
farbig wird. Als hätte Willy Brandt mal eben auf einen Knopf gedrückt. | |
Paul verbringt jede freie Minute auf dem Zirkusplatz. Exotik, Erotik, | |
Artistik – und natürlich die Clowns! Der Junge ist infiziert, hat sich die | |
schönste und hartnäckigste aller Kinderkrankheiten eingefangen. Natürlich | |
will er am letzten Tag mit dem Zirkus durchbrennen. Wer will das nicht | |
damals? Er kommt bis zur Ortsausfahrt. Dort zieht ihn der Vater aus dem | |
Wagen. | |
Die sprichwörtliche Lücke, die etwas hinterlässt – beim Zirkus ist sie | |
sichtbar. Der leere Zirkusplatz, wo tags zuvor noch die Pferde ihre Kreise | |
zogen, die Clowns ihre Sketche darboten, die Feuerspucker Feuer spuckten. | |
Alles weg. Wo gestern noch Farbe war, herrscht wieder grauer Alltag. | |
Anderntags geht der verhinderte Ausreißer zum Zirkusplatz. Am Boden | |
zeichnet sich nur noch ein Kreis aus Sägemehl ab. „Ich bin da gesessen und | |
hatte das Gefühl, meine Familie hat mich verlassen. Dann habe ich im | |
Sägemehl noch ein paar Pailletten gefunden, die habe ich heute noch.“ | |
Es war ziemlich genau zu dieser Zeit, als im Spiegel ein Artikel über den | |
Ruin des Zirkus erschien. Darin hieß es: „So teuer die Erinnerungen an das | |
kindliche Staunen über die Manegenwunder dem Herzen des heutigen | |
Großstädters sein mögen, niemand sieht daran vorbei, dass ein | |
Asphalt-Mensch auf den traditionellen Fez mit Tschingdarassa, Trommelwirbel | |
und ,Allez-hopp' so wenig anspringt wie ein Sack feuchtes Sägemehl.“ Und | |
1970 erzählte der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre: „Vor zwei Jahren | |
ging ich wieder in den Zirkus. Ich wollte wissen, ob er schon tot ist oder | |
nicht.“ Schließlich sei er „heute schon ein vollkommener Anachronismus“. | |
Die Sitte, seinen Tod anzukündigen, gehört zum Zirkus wie Pferde und | |
Popcorn, sie ist so alt wie die ersten Filmprojektoren. Mindestens. | |
So ganz grundlos waren die Prophezeiungen ja nie. Sind sie auch heute | |
nicht. Viele Großzirkusse sind in den vergangenen Jahrzehnten zugrunde | |
gegangen. Williams, Althoff, Hagenbeck, Busch-Roland et cetera. Auch viele | |
der großen Namen auf internationaler Bühne von Benneweis in Dänemark bis | |
Mora Orfei in Italien sind von der Bildfläche verschwunden. „The Greatest | |
Show on Earth“ nannte sich der Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus in | |
den USA. Im Mai gab er in einem Vorort von New York seine letzte | |
Vorstellung. | |
Es sind die fehlenden Plätze in den Städten, die immer höheren | |
Transportkosten, die Bürokratie und der Lärmschutz, die es für den Zirkus | |
heute so schwer machen. Vor allem aber ist es die unglaubliche Konkurrenz, | |
die Fernsehen, Internet und großstädtisches Nachtleben bieten. | |
Früher, da hatte der Zirkus noch einen ganz anderen Stellenwert, Namen wie | |
den des Jongleurs Enrico Rastelli, des Dompteurs Kapitän Schneider oder des | |
Clowns Grock kannte jeder. Der Zirkus brachte Stars hervor wie sonst nur | |
das Kino. Und selbst dort war der Zirkus allgegenwärtig. Chaplin verneigte | |
sich vor dem fahrenden Volk genauso wie Fellini. | |
Und heute? Da weckt das Wort Zirkus bei vielen Menschen nur noch | |
Assoziationen irgendwo zwischen Tierquälerei, Kindergeburtstag und | |
Horrorclowns. Und doch: Die Weihnachtszirkusse boomen, einige | |
Spartenzirkusse ebenso. Und im neuen Jahr feiert er seinen 250. Geburtstag, | |
der Zirkus. Tschingderassa. | |
Vielleicht liegt es an Menschen wie Bernhard Paul. Welche, die sich das | |
kindliche Staunen nicht haben austreiben lassen. Die den Zirkus der | |
Vergangenheit lieben und den der Zukunft gestalten wollen. 1974 beschloss | |
Paul, alles hinzuschmeißen – um Zirkusdirektor zu werden. Er war damals ein | |
erfolgreicher Art Director in Wien, arbeitete zuletzt in einer | |
Werbeagentur, als die große Sinnfrage auf ihn herniedersauste. Konnte das | |
schon alles gewesen sein? Es konnte nicht. Die Liebe zum Zirkus hatte Paul | |
ohnehin nie verloren – obwohl sie in seinem Umfeld auf wenig Verständnis | |
stieß. So meinte der Künstler Manfred Deix, guter Freund aus Studientagen, | |
nur: „Wos hast’n mit deinem Zirkus, bist du deppert?“ Man muss dazu wisse… | |
Damals war der Zirkus gerade auf einem seiner Tiefpunkte angelangt. Dann | |
machen wir es halt besser, sagte sich Paul und gründete – kurzzeitig mit | |
André Heller an seiner Seite – den Circus Roncalli. „Wer nicht verrückt | |
ist, ist nicht normal“, sagt Paul. | |
Bernhard Paul sitzt in seinem Wohnwagen, Salonwagen wäre wohl das | |
passendere Wort. Draußen fährt die Münchner Trambahn vorbei. Heinz Rühmann, | |
Gert Fröbe, Andy Warhol, Musiker, Schriftsteller, Bundespräsidenten – mit | |
allen ist er hier schon an diesem Tisch gesessen. Paul trägt sein übliches | |
Outfit: dünne Lederjacke, Schal, nur die Brillengläser sind nicht mehr ganz | |
so groß wie früher. 70 ist er jetzt. „Ich habe mir gedacht: So wie damals | |
beim Rebernigg, so will ich es auch“, erzählt er. Und so begann er, wo | |
immer es sie noch gab, alte Zirkuswagen aufzukaufen und zu restaurieren. | |
Zur Würstelbude wurde der über 100 Jahre alte Raubtierwagen von Carl Krone, | |
dem Begründer des Circus Krone. | |
Die Gitterstäbe, durch die gefüttert wurde, waren noch dieselben, nur die | |
Richtung hatte sich geändert. Und der rote Mohair-Samt, mit dem die | |
Logenstühle bezogen sind, kommt von dem Hersteller, der auch das Wiener | |
Burgtheater beliefert. Hier ist nichts dem Zufall überlassen, alles | |
durchgestylt bis hin zum Mülleimer. „Perfektionisten sind arme Schweine“, | |
lautet einer von Pauls Lieblingssätzen. Er muss es wissen, er ist einer von | |
ihnen. | |
Roncalli – allein der Name! Klingt nach Rastelli und Houdini. Duftet nach | |
Sägemehl und Bratwurst. Dass es auch der bürgerliche Name des zirkusaffinen | |
Papsts Johannes XXIII. war, der Heller und Paul bei der Namensgebung | |
inspirierte – eine nette Randnotiz. Und dann die Vorstellung: Von Anfang an | |
hatte Roncalli Nummern im Programm, an die sich andere nie getraut hätten. | |
Elvira Lühr etwa. Ganz hohe Schule, was sie mit ihrem Pferd vollführte. | |
Doch die Frau war bereits gute 70 Jahre alt. Eine Rentnerin in der Manege? | |
Die Zirkuswelt schüttelte den Kopf, das Publikum applaudierte. | |
Oder David Shiner: Paul hat den Amerikaner in Knickerbockers vor dem Centre | |
Pompidou aufgegabelt. Clown? Straßenkünstler! Beim Pariser Festival „Zirkus | |
von morgen“ hätten sie ihn fast disqualifiziert. Paul engagierte ihn – und | |
wenig später schrieb Shiner mit seiner Melange aus Improvisation, Pantomime | |
und Publikumsbeteiligung mit an der Roncalli-Erfolgsgeschichte. Lange stand | |
auch Paul selbst als Dummer August in der Manege, nannte sich Zippo. | |
Statt einer Aneinanderreihung von Nummern bot Roncalli eine | |
Gesamtinszenierung. Die Musik natürlich live. Und immer ein bisschen mehr | |
Theater als Leistungsschau. Ein Salto mehr oder weniger, wen kümmerte es? | |
Den Superlativen der Spitzenartistik, derer sich die Großzirkusse der | |
Siebziger rühmten, setzte Roncalli die „größte Poesie des Universums“ | |
entgegen. | |
Draußen laufen die letzten Vorbereitungen für die Abendvorstellung. Vor dem | |
Eingang stehen Hunderte Menschen Schlange. Dann der große Moment. Die | |
Kapelle spielt auf, der Einlass beginnt. Die Künstler begrüßen die | |
Besucher, reichen Bonbons, werfen Konfetti. Auch zwei komische, mannshohe | |
Vögel sind da. Das Popcorn wird frisch zubereitet. Die Musiker spielen | |
„Here Comes the Sun“, die beiden Vögel tanzen. | |
Das Spiel kann beginnen. Da ist das Schleuderbrett-Trio Csàszàr, man kennt | |
es schon aus den Neunzigern, als der Spitzenjongleur Ty Tojo noch gar nicht | |
geboren war. Karl Trunk präsentiert die Größten und Kleinsten der | |
Pferdewelt. Und Paolo Casanovo ist Roncalli in Reinform, wenn er etwa auf | |
einem Hochrad in die Manege einfährt und einem Roboterhund ein Herz | |
schenkt, dazu der Soundtrack von „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Der | |
große Star aber ist Beatboxer Robert Wicke. Wieder so ein Straßenkünstler. | |
Am Ende hat er das Publikum so weit, dass es im Chor Brahms’ Wiegenlied | |
anstimmt: „Morgen früh, wenn Gott will …“ | |
Was also macht diese Faszination des Zirkus aus, lässt Buben durchbrennen | |
und veranlasst eine Oma in Wien am Tag nach der Vorstellung mit der Tram | |
zum Zirkus zu fahren, nach dem Direktor zu fragen und ihm einen | |
selbstgebackenen Guglhupf zu überreichen: „Herr Roncalli, ich wollt’ Ihnen | |
eine Freude machen. Es war so schön.“ Ja, was? | |
## Es geht um das Wesentliche | |
„Der große Reiz ist das Miteinander“, sagt Stefan Langmeyer. „Da arbeiten | |
verschiedene Nationen zusammen und es funktioniert.“ Vor Langmeyer liegen | |
zwei Aktenordner, daneben hängt an einem Ständer ein Wimpel mit dem Logo | |
der Gesellschaft der Circusfreunde in Deutschland e. V. „Wir sind nicht | |
diese Vereinsmeier“, sagt er. Der 44-jährige Krankenpfleger ist seit 2014 | |
im Präsidium der Gesellschaft. Vor 62 Jahren wurde die Gesellschaft der | |
Circusfreunde gegründet, 2.000 Mitglieder hat sie. Einmal im Monat trifft | |
sich Langmeyer mit Gleichgesinnten im Hinterzimmer des Rumpler, einer | |
Gaststätte im Münchner Glockenbachviertel. Die Tapete ist grün, das Essen | |
gutbürgerlich. Zu fünft sind sie heute. | |
„Zirkus ist etwas, was jeder versteht“, sagt Langmeyer. „Vom Kind bis zu | |
den Großeltern, vom Akademiker bis zum Hilfsarbeiter.“ Warum der Zirkus | |
nicht mehr zeitgemäß sein soll, versteht er nicht. „Das kann ich auch über | |
die Oper sagen.“ Langmeyer hat ein paar Raritäten aus seiner Sammlung | |
mitgebracht, das wertvollste Stück: ein Programmheft von Barnum & Bailey | |
auf der Deutschland-Tournee 1900. 20 Heller hat es damals gekostet. Und | |
dann sagt er noch: „Zirkus ist ein Live-Erlebnis für alle Sinne. Man | |
sieht’s, man hört’s, man riecht’s.“ | |
In der Tat erfasst uns der Zirkus ohne Umwege und – so paradox die | |
zirzensische Metapher klingen mag – ohne Netz und doppelten Boden. Ernst | |
Bloch nennt ihn „die einzige ehrliche, bis auf den Grund ehrliche | |
Darbietung, die die Kunst kennt“, Ernest Hemingway „den einzigen Ort der | |
Welt, wo man mit geöffneten Augen träumen kann“, und Walter Benjamin | |
findet: „Im Zirkus muss ja selbst dem Borniertesten aufgehen, um wie viel | |
näher am Wesentlichen, wenn man will, am Wunder gewisse physische | |
Leistungen stehen als die Phänomene der Innerlichkeit.“ | |
Das Ehrliche, das Wesentliche, genau darum geht es. Im Zirkus treffen wir | |
auf Grenzgänger, die uns Zuschauer mitnehmen, im besten Fall mitreißen, | |
während sie bis zum Äußersten gehen. So gewähren sie uns einen kurzen, wenn | |
auch ungefährlichen Blick in den Abgrund. | |
Und dann hat der Zirkus natürlich immer auch mit früher zu tun, mit den | |
Erinnerungen, die man hat oder auch nur zu haben vermeint. Er befriedigt | |
die Nostalgie, dieses Bedürfnis, in einem unbeobachteten Moment wider | |
besseres Wissen einmal dem Gefühl nachhängen zu dürfen, dass früher halt | |
doch alles besser gewesen sei. | |
Es war im Jahr 1768, da eröffnete der ehemalige Kavallerist Philip Astley | |
in London ein Pferdetheater – ein Ereignis, das gemeinhin als Geburtsstunde | |
des modernen Zirkus gilt. Nach und nach nahm Astley auch Clowns und | |
Akrobaten ins Programm und begründete diesen speziellen Dreiklang aus | |
Artistik, Tieren und Clowns. Neu auch die Manege. Durchmesser: 13 Meter, | |
das ideale Maß für Pferdenummern, Standard bis heute. | |
Wer der guten alten Zeit des Zirkus nachspüren will, macht sich am besten | |
auf den Weg nach Einbeck. 30.000 Einwohner, irgendwo zwischen Göttingen und | |
Hannover. Hier lebt Gerd Siemoneit-Barum, er war der letzte Direktor des | |
Circus Barum. Ein Mann mit Hut und federndem Gang. 86 Jahre ist er jetzt | |
alt. Lange Zeit war er der Raubtierdompteur Deutschlands. Die Nummer, die | |
ihn berühmt machte: Onyx, der Schwarze Panther, der vom Podest direkt in | |
seine Arme springt. Mit 15 ging der gebürtige Ostpreuße zum Zirkus. Sein | |
erster Job beim Circus Barum, den er dann Ende der Sechziger kaufen sollte: | |
den Vorhang auf- und zuzuziehen. | |
Jetzt sitzt Siemoneit-Barum in einem Einbecker Café und erzählt von | |
früher. Filterkaffee und ein Käsebrot hat er bestellt. 18. November 2001 in | |
Fulda, natürlich kann sich Siemoneit-Barum noch gut an seinen letzten | |
Auftritt als Dompteur erinnern. „Seit ich zwölf Jahre alt war, wollte ich | |
mit Raubtieren in der Manege stehen. Und jetzt war das alles vorbei.“ | |
Zigtausende Mal hatte er den Zentralkäfig betreten. Sieben Jahre später | |
folgte das Ende des Circus Barum. Geplant war ursprünglich, dass seine | |
Kinder ihn übernehmen würden. Doch dann riet er ihnen selbst davon ab. „Ich | |
bin zu der Erkenntnis gelangt, dass die Zeit, in der man einen Zirkus | |
führen konnte, wie er meinem Ideal entsprach, vorbei ist.“ | |
Es ist ja nicht so, dass er sich nicht immer wieder aufgerappelt hätte. | |
Nicht nur damals, als er im August 1954 bei einem Gastspiel in Ankara | |
plötzlich unter der 150 Kilo schweren Löwin Senta und danach vier Wochen im | |
Krankenhaus lag. Auch als die Zuschauer ausblieben, Anfang der Achtziger, | |
dann wieder Ende der Neunziger. „Einen Zirkus zu betreiben ist Roulette“, | |
sagt er. Siemoneit-Barum ist ein Mann mit vielen Narben. Aber es liegt | |
keine Bitterkeit in seinen Worten. Eher Dankbarkeit. „Ich bin ganz ehrlich: | |
Im Grunde genommen habe ich es gerade noch geschafft, den Zirkus in seiner | |
vollen Blüte zu erleben.“ | |
Die Show muss weitergehen, heißt es im Zirkus. Muss sie? Kann sie? Hat | |
diese große Volkskunst wirklich noch eine Zukunft? Oder hat Siemoneit-Barum | |
recht, wenn er sagt: „Wer nicht einsehen will, dass die Zeiten sich | |
geändert haben, der muss die Konsequenzen tragen.“ | |
Es gibt sie ja, die erfolgreichen Unternehmen: Akrobatikshows, | |
Pferdepaläste, Dinnerdarbietungen, sogar Horrorzirkusse. Aber: Ist das noch | |
Zirkus? Wo verläuft die Grenze? Wenn es keine Tiere mehr gibt? Kein Zelt? | |
Kein Sägemehl? Keine Zirkuswagen? Der kanadische Unterhaltungsriese Cirque | |
du Soleil, der Träume vom Fließband liefert, hat in vielen seiner Shows | |
schon auf all das verzichtet. | |
Und Roncalli? „Wir sind ein reisender Feinkostladen der Artistik“, sagt | |
Bernhard Paul. „Und zeitgemäß.“ Künftig nimmt er auch Foodtrucks mit auf | |
die Tour, bietet veganes Essen an. Außerdem verzichtet er auf Pferde im | |
Programm, die letzte Tiernummer, die es noch gab. Dem Zeitgeist | |
nachhecheln, das wolle er auf keinen Fall, sagt Paul. Aber natürlich weiß | |
er, dass zwischen dem Zeitgemäßem und dem Zeitgeist manchmal nur ein | |
schmaler Grat verläuft.Zirkus ohne Pferde? Eigentlich müsste es Paul das | |
Herz zerreißen. Und er sagt ja selbst: „Wir sind mit Pferden aufgewachsen. | |
Der Zirkus ist durch Pferde entstanden. Nur deshalb ist die Manege rund, | |
nur deshalb gibt es das Sägemehl.“ Eliana Larible, seine Frau, hat lange | |
mit Pferden in der Manege gearbeitet. Aber die Plätze werden kleiner, die | |
Besucher, die Tierhaltung im Zirkus ablehnen, mehr. „Natürlich sind wir | |
traurig“, sagt Paul. Aber die Besucherzahlen geben ihm recht – die | |
Vorstellungen sind regelmäßig ausverkauft. | |
Auch die kleinen Familienzirkussen haben ihre Nische gefunden. Rund 300 von | |
ihnen soll es in Deutschland geben, ihr Programm haben sie ganz auf Kinder | |
ausgerichtet. Es sind Zirkusse wie der von Karl-Heinz Renz. „Kult-Circus | |
Renz“ nennt er sich. Es ist Freitagnachmittag, Taufkirchen bei München, gut | |
80 Besucher sind gekommen. Es treten auf: Vater Renz mit drei Friesen, aber | |
auch als Reiter, Messerwerfer und Requisiteur. Die beiden Töchter – zu | |
Pferd, in der Luft, mit Hula-Hoop-Reifen. Dazu ein Pudel und Clown Pepino, | |
der Manege mit Mayonnaise verwechselt. Hereinspaziert in den | |
realexistierenden Zirkus des 21. Jahrhunderts! Klingt böse. Ist es nicht. | |
Das Lachen der Kinder ist echt. In der Tierschau streicheln sie noch das | |
Pony oder reiten auf dem mongolischen Steppenkamel, während sich Oma die | |
Boa constrictor umlegen lässt. | |
„Geht nach Hause und träumet“, ließ André Heller 1976 den durch den Abend | |
führenden Sprechstallmeister sagen, „geht nach Hause und seid bestürzt, | |
geht nach Hause und lacht, geht nach Hause und seid wahrhaftig. Der Zirkus | |
hat seine Vorstellung beendet, in diesem Zelt. In unserem Kopf, meine | |
Herrschaften – in unseren Köpfen geht die Vorstellung weiter. | |
Aufwiederträumen – Aufwiederdenken – Aufwiedersehen.“ | |
Halt, hochverehrtes Publikum, ein letzter Tusch noch! Für den größten, | |
besten und schönsten Zirkus der Welt mit der größten Zeltstadt Europas, | |
einer gigantischen Elefantenherde, den stärksten Männern der Mongolei, den | |
Besten der Besten aus der internationalen Zirkuswelt. Nun gut, die | |
Adjektive sind geklaut, stammen aus der Pressemappe des Circus Krone. Er | |
hat gerade in Stuttgart sein Zelt aufgebaut, die Lichter spiegeln sich im | |
Neckar. | |
Inmitten dieser Welt der Superlative sitzt ein Mann mit Schiebermütze: | |
Martin Lacey jr. Er hat sich in eine der Logen gesetzt und beobachtet | |
seinen Sohn Alexis beim Boxtraining in der Manege. „Gut machst du das“, | |
ruft er ihm zu. „Mir gefällt dein Haken.“ Lacey ist der Raubtierdompteur | |
des Circus Krone. Beim Zirkusfestival in Monte-Carlo hat er schon zweimal | |
einen Clown abgeräumt. 26 Löwen und Tiger führt er gleichzeitig in der | |
Manege vor. Ein Rekord. | |
Seit 16 Jahren arbeitet der heute 40-Jährige nun bei Krone, seine Frau ist | |
hier die Chefin. Lacey ist ein echter Showman. „Ich liebe es, wenn der Löwe | |
mich angreift, und plötzlich lässt eine Frau vor Schreck das Popcorn | |
fallen“, erzählt Lacey. „Vor ein paar Tagen hat ein Mann gerufen: Pass auf, | |
Junge!“ Die Angriffe der Raubkatze sind natürlich inszeniert. Und doch | |
fragt sich der Zuschauer in dem Moment: War das wirklich so geplant? | |
Lacey liebt seinen Job, liebt seine Tiere. Das Schlimmste für ihn sei es, | |
wenn man ihm Tierquälerei vorwirft, sagt er. Mahnwachen von | |
Tierrechtsaktivisten gehören jedoch schon fast zum Alltag des Circus Krone. | |
Auch vonseiten der Politik wird der Druck auf Tierzirkusse größer. So hat | |
Stuttgart jüngst ein Wildtierverbot für Zirkusse erlassen. Nur wegen einer | |
derzeit noch gültigen Ausnahmegenehmigung kann Krone hier überhaupt | |
gastieren. Der Zirkus wollte die Gelegenheit des Gastspiels nutzen, lud die | |
Lokalpolitiker zu einer Führung ein, damit sie sich selbst ein Bild von | |
Krones Tierhaltung machen könnten. Von 60 Stadträten kam kein | |
einziger.Nicht selten prallen in der Debatte Emotionen auf Argumente, | |
vieles wird über einen Kamm geschert: Zirkusse, Tierarten … Wer wie | |
beispielsweise die US-Organisation Peta Tierhaltung prinzipiell ablehnt, | |
mit dem lässt sich über gute und schlechte Haltungsbedingungen nur schwer | |
diskutieren. In Kassel gab es jüngst Proteste, als der Action-Zirkus Flic | |
Flac erstmals zwei Tiernummern präsentieren wollte. Die bekannte | |
Tierlehrerin Rosi Hochegger sollte auftreten – mit einem Pferd und ein paar | |
Hunden. Anonyme Anrufer drohten daraufhin, das Zelt abzubrennen. Rosi | |
Hochegger sagte ab.Im Wagen mit der Nummer 80 sitzt Jana Lacey-Krone, die | |
Direktorin des Circus Krone. Nachdem ihre Adoptivmutter Christel | |
Sembach-Krone im Juni gestorben ist, hat Lacey-Krone nun in fünfter | |
Generation den Zirkus übernommen. Sie kommt aus keiner Zirkusfamilie und | |
ist doch ein Zirkuskind: Ihre Eltern, Machy und Urs Pilz, zwei Schweizer | |
Zirkusfans, waren enge Freunde von Christel Sembach-Krone. Da der Vater | |
selten zu Hause und beruflich ständig unterwegs war, beschloss die Mutter, | |
mit dem Zirkus mitzureisen. So war Jana schon zwei Wochen nach ihrer Geburt | |
im April 1979 mit auf Tournee. Urs Pilz hat sich mittlerweile ebenfalls | |
komplett dem Zirkus verschrieben: Er organisiert das Festival in Monte | |
Carlo. | |
Das Handy klingelt. „Nein“, sagt Lacey-Krone, „jetzt müssen wir erst mal | |
den Mist wegbringen.“ Mist gibt es viel im Zirkus, rund hundert Tiere hat | |
der Circus Krone unterwegs dabei. Aber Krise? „Nein. Ich kann nur für uns | |
selbst antworten. Zu uns kommen die Zuschauer noch immer.“ Natürlich laufen | |
die Geschäfte auch beim Branchenriesen mal besser und mal schlechter, aber | |
während andere Unternehmen strauchelten, konnte sich der Zirkus Krone immer | |
gut über Wasser halten. Mit dem Circus-Krone-Bau, dem einzigen festen | |
Zirkusbau in Deutschland, hat das Unternehmen zudem eine Spielstätte im | |
Winter – und ein zweites Standbein in den Sommermonaten.Inzwischen ist es | |
später Nachmittag, die Pause ist gerade zu Ende, die Manege in blaues Licht | |
getaucht. Nur schemenhaft erkennt man die Löwen und Tiger, wie sie durch | |
den Laufgang in den Zentralkäfig huschen. Mittendrin: Martin Lacey jr. Die | |
Tiere drehen wilde Runden an der Käfigwand, machen Scheinangriffe und | |
Männchen, springen über ihren Dompteur oder schmusen mit ihm. Am Ende: | |
stehende Ovationen.Bei Krone hört man es nicht gern, wenn der eigene Zirkus | |
von Leuten wie Bernhard Paul – einem bekennenden Krone-Fan übrigens – als | |
„Dinosaurier“ bezeichnet wird. Dabei liegt vielleicht genau darin die | |
letzte Chance für den traditionellen Großzirkus, wenn er neben hippen | |
Akrobatik- und Kulinarikshows bestehen will: offensiv retro zu sein, im | |
besten Sinne gestrig. | |
Modern in Sachen Tierhaltung und Technik, altmodisch in der Ausgestaltung | |
des Programms. Dem Besucher eine Reise in die Vergangenheit, vielleicht in | |
die eigene Kindheit, ermöglichen, ihm eine Pause gönnen von der sich immer | |
schneller drehenden Welt, ihm die kurzzeitige Flucht von der digitalen in | |
die analoge Welt ermöglichen. Der Zirkus als Fluchthelfer – wie gut könnten | |
wir ihn heute in dieser Funktion gebrauchen. „Wenn ich in der Pause ins | |
Zelt gehe“, sagt Susanne Matzenau, die Pressesprecherin des Circus Krone, | |
„und kein Einziger hat sein Smartphone eingeschaltet, weiß ich, wir haben | |
gewonnen.“ | |
Einer der Slogans, mit denen Krone um seine Zuschauer wirbt, lautet: | |
„Vergessen Sie alles, was Sie über Circus wissen.“ Sagt man halt so. Nur | |
ist genau das die Gefahr für den traditionellen Zirkus, das Vergessen. Der | |
Tag, an dem die Zuschauer die Aufforderung wörtlich nehmen, wird sein | |
letzter sein. | |
24 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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