# taz.de -- Wildtiere im Zirkus: Eine Frage der Haltung | |
> Wildtierhaltung im Zirkus ist Tierquälerei, behauptet Julia Klöckner und | |
> will den Übeltätern das Handwerk legen. Nur: Leiden die Tiere | |
> tatsächlich? | |
Bild: Auftritte wie dieser des Tierlehrers Martin Lacey jr. mit Löwen sollen v… | |
Es ist Samstagnachmittag in Waltersdorf, als der Regen eine kurze Pause | |
macht und Mario Spindler nach seinen Tieren sieht. Waltersdorf ist einer | |
dieser Vororte, deren Namen man vor allem mit dem Besuch schwedischer | |
Einrichtungshäuser verbindet. Die Autobahn ist gleich um die Ecke, ein paar | |
Kilometer weiter hat letztes Jahr klammheimlich der Berliner Flughafen | |
seinen Betrieb aufgenommen. Ein kleines, schon etwas verblasstes, grünes | |
Schild an einer Straßenlaterne weist den Weg zum [1][Erlebnispark | |
Waltersdorf], der zugleich das Winterquartier des [2][Circus Berolina] ist. | |
Wenn kein Lockdown ist, kommen Familien hierher – um Elefanten zu füttern, | |
Ponys zu reiten oder sich eine kurze Zirkusvorstellung anzusehen. | |
Heute sind Tiere und Zirkusleute unter sich. „Tantor“ ruft Spindler, als er | |
bei einem der Gehege angelangt ist. Sofort kommt der Nashornbulle | |
angetrabt, der Zirkusdirektor krault ihn hinterm Ohr. Seine Eltern haben | |
den traditionsreichen Zirkus vor 25 Jahren aus den Resten des zerschlagenen | |
[3][Staatszirkus der DDR] aufgekauft. Noch heute bereist er vorwiegend den | |
Osten Deutschlands, 15 bis 20 Städte im Jahr. | |
Wäre nicht das Virus, wäre Berolina seit Anfang März auf Tournee. | |
Nashornbulle Tantor war jedoch schon ein paar Jahre lang nicht mehr dabei. | |
Wie auch Mara, Indra und Conny, die Spindler im Nachbargehege mit tiefen | |
Grolllauten begrüßen. Knapp 60 Jahre alt sind die drei asiatischen | |
Elefantenkühe. Außer ihnen hat Berolina noch vier afrikanische Elefanten. | |
Im letzten Programm hat einer von ihnen Mario Spindlers Neffen mit dem | |
Schleuderbrett in die Luft katapultiert. | |
Ihr Publikum begeistern die Spindlers mit solchen Nummern, doch für | |
Tierrechtsorganisationen sind sie nichts als Tierquälerei. Die Dressur von | |
Elefanten und anderen Wildtieren basiere „immer auf Gewalt und Zwang“, | |
[4][behauptet etwa Peta] – und hat neuerdings eine hochrangige | |
Mitstreiterin in der Politik. | |
Berlin, November 2020, [5][Auftritt Julia Klöckner]. Die | |
Bundeslandwirtschaftsministerin stellt bei einer Pressekonferenz den | |
[6][Entwurf einer Verordnung] vor. „Ich werde in den Wanderzirkussen | |
verbieten“, sagt sie und zählt auf: Giraffen, Flusspferde, Nashörner, | |
Primaten, Großbären und Elefanten. Sie alle sollen künftig nach dem Willen | |
der Ministerin nicht mehr in reisenden Zirkussen gehalten werden. Denn das | |
Leben dort bedeute „große Strapazen, großen Stress“ für die Tiere. | |
Klöckner ist ein tierlieber Mensch. Seit Monaten postet sie auf Facebook | |
Fotos ihres Australian Labradoodle Ella: wie sie im schicken Hundeanzug | |
[7][im Schnee herumtollt], wie sie Frauchen am Geburtstag während einer | |
Dienstreise in Brüssel [8][besuchen kommt]. Übermäßiges berufliches | |
Engagement in Sachen Tierwohl wird Klöckner dagegen selten unterstellt. | |
Kritiker halten ihr vielmehr vor, dass sie beispielsweise die Verbote des | |
Kükentötens und der betäubungslosen Ferkelkastration hinausgezögert hat und | |
die Haltung von Muttersäuen im Kastenstand für weitere 17 Jahre erlauben | |
wollte. | |
Die unmittelbaren Auswirkungen von Klöckners neuer Verordnung scheinen | |
zunächst nicht weiter der Rede wert zu sein, denn die wenigen aktuell | |
gehaltenen Tiere der genannten Arten sollen die Zirkusse behalten dürfen. | |
Und ihre Zahl ist überschaubar: insgesamt fünf, vielleicht sieben | |
Elefanten, zwei Giraffen, ein Flusspferd … Neuanschaffungen sind kaum | |
möglich. In wenigen Jahren wird es keines dieser Tiere mehr im Zirkus geben | |
– ob mit oder ohne Verordnung. | |
## Klöckners Bauchgefühl | |
Dennoch herrscht in der Zirkusbranche helle Aufregung. Solche staatlichen | |
Eingriffe seien wegen ihrer rufschädigenden Wirkung existenzbedrohend für | |
viele Unternehmen. Er akzeptiere, wenn jemand keine Tiere im Zirkus sehen | |
möchte, sagt etwa Jochen Träger-Krenzola vom Vorstand des | |
[9][Berufsverbandes der Tierlehrer]. „Aber es hört bei mir auf, wenn sie | |
versuchen, andere Leute zu missionieren, und mich dafür diskreditieren | |
wollen.“ | |
Besonders ärgern sich Zirkusse und Tierlehrer, weil sie auf ausdrücklichen | |
Wunsch Klöckners eine Selbstverpflichtung vorgeschlagen haben, die weit | |
über die bisherigen Haltungsvorschriften hinausging. Das Ministerium dankte | |
und lobte das Konzept, ließ die Zirkusleute allerdings wissen: „Die Leitung | |
unseres Hauses möchte aus politischen Gründen einen anderen Weg verfolgen.“ | |
Was unter solchen „politischen Gründen“ zu verstehen ist, ist für Volker | |
Kauder klar: „Das ist natürlich, weil die Tierrechtler Druck machen“, sagt | |
der ehemalige Unionsfraktionschef im Bundestag, „und dem will sich Klöckner | |
entziehen.“ Er halte nichts von einem grundsätzlichen Wildtierverbot, sagt | |
der Parteifreund Klöckners. „Mir ist wichtig, dass die Tiere anständig | |
gehalten werden – egal, ob das nun Wild- oder Haustiere sind.“ | |
Verbote, so monieren die Zirkusse, bringen einen erheblichen Imageschaden | |
mit sich. „Ankommen wird bei den Leuten: Beim Zirkus ist etwas faul, denen | |
muss man sogar die Tiere verbieten. So schürt man Vorurteile und | |
verunglimpft eine ganze Branche“, sagt etwa Helmut Grosscurth, | |
Geschäftsführer der [10][European Circus Association]. „Am Ende heißt es | |
wieder: ‚Leute, nehmt die Wäsche rein …‘“ Auch das Argument, dass es i… | |
wieder Verstöße gegen die geltenden Haltungsvorschriften gebe, will er | |
nicht gelten lassen: „In Berlin gab es im Jahr 2019 über vier Millionen | |
Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Trotzdem ist da, soweit ich | |
weiß, der Straßenverkehr nicht abgeschafft worden. Stattdessen hat man die | |
Straßenverkehrsordnung verschärft.“ | |
Vor allem fürchten die Zirkusvertreter, dass die jetzt genannten Tierarten | |
nur der Anfang sind. Nicht zu Unrecht, denn Klöckners erklärtes Ziel ist | |
es, das Verbot auf alle Wildtiere auszuweiten – vor allem auch auf | |
Raubkatzen, die besondere Attraktion einiger größerer Zirkusse: „Wenn ich | |
jetzt nur von meinem Bauchgefühl spreche, sage ich: Großkatzen haben in der | |
Manege nichts zu suchen.“ Mit einem bedauernden Lächeln fügt die Ministerin | |
hinzu: „Aber wir müssen uns auch an die Grundrechte halten.“ | |
Die Debatte, die durch Klöckners Initiative neuen Zündstoff bekommt, ist | |
schon über 30 Jahre alt. In Deutschland gibt es rund 25 Millionen Schweine, | |
über zehn Millionen Hunde und um die 300.000 Reitpferde – doch über kaum | |
eine Tierhaltungsform wird ähnlich emotional gestritten wie über die von | |
ein paar hundert Wildtieren im Zirkus. | |
## Wenig weiß der Mensch über das Wohlbefinden der Tiere | |
Pauschale Urteile und Klischees prägen den Streit. Dialog findet längst | |
nicht mehr statt. Mit denen – gemeint sind immer die anderen – kann man ja | |
ohnehin nicht reden, heißt es. Stattdessen stellen Peta und Co. die | |
Zirkusleute an den Pranger, diese wiederum deklarieren die Tierrechtler als | |
verbohrte Ideologen. Beiden Seiten geht es vor allem ums Prinzip, und alle | |
nehmen für sich in Anspruch, stellvertretend für die Tierwelt zu sprechen. | |
Kritischen Nachfragen gegenüber sind beide Seiten skeptisch – und sie sind | |
gut vernetzt. Man stimmt sich untereinander ab, bevor man mit Journalisten | |
redet. Ein Tierrechtler sagt zur Begrüßung am Telefon gleich ganz offen: | |
„Man hat mich vor Ihnen gewarnt.“ | |
Katharina Lameter holt tief Luft. So wie man eben Luft holt, wenn man mal | |
wieder an der Begriffsstutzigkeit des Gegenübers verzweifelt. Die | |
28-jährige Biologin ist bei der Arten- und Tierschutzorganisation Pro | |
Wildlife in München zuständig für die [11][Kampagne gegen | |
Wildtierzirkusse]. | |
Die Frage, die das erhöhte Sauerstoffbedürfnis ausgelöst hat, ist die, | |
warum die „Wildheit“ von Tieren das ausschlaggebende Kriterium bei ihrer | |
Haltung sein soll. Die Frage ist zentral, weil ihre Beantwortung begründen | |
könnte, warum etwa für Hundehaltung oder Reitsport andere Regeln gelten | |
sollen. Und es lägen ja auch andere Kriterien nahe: So könnte man annehmen, | |
dass sich manche Tierarten für ein Leben im Zirkus eignen, andere dagegen | |
nicht, unabhängig davon, ob sie domestiziert sind oder nicht. Man könnte | |
auch vermuten, dass es vom Charakter des individuellen Tiers abhängt oder | |
davon, in welcher Haltung es aufgewachsen ist. Annahmen, die nicht völlig | |
absurd wären. | |
Lameter hält dennoch nichts von ihnen. „Ob ein Löwe, ein Zebra oder ein | |
Elefant – diese Tiere sind und bleiben Wildtiere und haben dementsprechend | |
an ihre Haltung ganz andere Ansprüche als eine Katze oder ein Hund, die | |
sich über einen langen Prozess hinweg an das Leben mit dem Menschen | |
angepasst haben“, sagt sie. | |
Hinter ihr, in der Ecke des Büros, liegt eines dieser angepassten Wesen und | |
schläft: der Hund der Aktivistin, zehn Jahre alt. Geht es ihm gut? Ist er | |
glücklich? Können Tiere glücklich sein? Wenig weiß der Mensch über das | |
Wohlbefinden der Tiere. Es gibt Hinweise, ja: die körperliche Gesundheit, | |
das Verhalten. Und natürlich behauptet jeder Tierhalter: Niemand kennt mein | |
Tier besser als ich; ich werde ja wohl wissen, wie es ihm geht. Da | |
unterscheiden sich Tierlehrerinnen wenig von Hundehaltern. | |
Mario Spindler führt in den Küchenwagen. Eine großzügige Einbauküche plus | |
Sitzecke. Auch im Winterquartier leben die Spindlers in ihren Wohnwagen. | |
Mario Spindler und seine Frau Melanie erzählen von ihrem Zirkus, ihren | |
Tieren und wie sich alles geändert hat in den letzten Jahren. In den | |
Neunzigern, da sind sie noch mit dem größten Drei-Manegen-Zirkus Europas | |
gereist. „Dann kam die Playstation, dann das Handy“, sagt Melanie Spindler. | |
„Der Zirkus war zwar nebenan – aber keiner hatte mehr Interesse.“ | |
Gleichzeitig kamen aber auch die Tierrechtler, die Demonstranten vor dem | |
Zelt. Und jetzt Klöckner. | |
„Wir werden von der Politik kriminalisiert“, schimpft Mario Spindler. Das | |
Direktoren-Ehepaar redet sich in Rage, fällt sich gegenseitig ins Wort, | |
gestikuliert, eine Kaffeetasse wird umgestoßen. „Frau Klöckner soll doch | |
mal herkommen“, fordert Melanie Spindler. „Sie soll sich das anschauen, in | |
einen Zirkus mit Wildtieren gehen. Sie muss sich doch selber überzeugen, ob | |
die Zustände da so sind, wie sie es darstellt.“ | |
Aber die Ministerin kommt nicht. Das letzte Mal, bekennt sie, war sie als | |
Kind in ihrem Dorf in einem Zirkus. Auch sonst wurde niemand aus ihrem | |
Ministerium in einem Zirkus vorstellig, um dort einmal die Tierhaltung in | |
Augenschein zu nehmen. Und auf die Ankündigung in der Pressekonferenz, man | |
werde nun Studien in Auftrag geben, angesprochen, reagiert Klöckner mit | |
einem Rückzieher: Man müsse erstmal sehen, welche Lücken noch bestünden und | |
wie man diese wissenschaftlich schließen könne. | |
## Kann das Tier mit dem Menschen? | |
Einen Mangel an Lücken gibt es jedenfalls nicht. So argumentieren Klöckner | |
und die Tierrechtler unter anderem damit, dass Wildtiere keinerlei | |
emotionale Bindung zum Menschen eingehen könnten und für sie der Kontakt zu | |
ihm grundsätzlich schon ein Stressfaktor darstelle. Es wäre ein gewichtiges | |
Argument, denn in diesem Falle wäre natürlich jede Dressur mit Leid für das | |
Tier verbunden, doch die Behauptung ist nicht belegt. Der | |
Verhaltensforscher Immanuel Birmelin etwa ist überzeugt davon, dass | |
Wildtiere enge Beziehungen zum Menschen eingehen können. [12][„Die | |
geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier“] heißt das jüngste Buch Birmelins. | |
Darin schildert er Fälle, in denen Wildtiere – vom Delfin bis zum Elefanten | |
– ohne Futterreiz die Nähe des Menschen gesucht hätten. | |
Auch René Strickler ist Birmelins Meinung: „Man kann zu einem Löwen eine | |
genauso enge Beziehung aufbauen wie zu einem Hund“, sagt er. Strickler | |
spricht nicht aus wissenschaftlicher Betrachtung, sondern aus Erfahrung. | |
Jahrelang war der Raubtierlehrer der Star beim Circus Roncalli. Strickler | |
war einer der ersten und konsequentesten Vertreter der sanften Dressur. | |
„Ich wollte den Besuchern keine Pranken schlagenden und Zähne fletschenden | |
Tiere zeigen, sondern wie vertrauensvoll das Zusammenspiel zwischen Tier | |
und Mensch sein kann.“ Über 40 Jahre lang arbeitete der heute 72-Jährige | |
mit Raubtieren. Er argumentiert, dass die Dressur das Leben für die Tiere | |
interessanter und abwechslungsreicher mache. Ohne sinnvolle Beschäftigung | |
werde man so intelligenten Lebewesen nicht gerecht. | |
„Der Schlüssel ist Vertrauen“, erklärt der Schweizer am Telefon. Mit | |
Gewaltandrohung erreiche man, anders als es die Tierrechtler behaupteten, | |
gar nichts. Niemals wäre Blacky, der Schwarze Panther, ihm aus drei Metern | |
Entfernung [13][in die Arme gesprungen], sagt Strickler. „Wissen Sie, was | |
das heißt? Dieses Vertrauen – er springt ja eigentlich ins Nichts.“ | |
In der Tat lässt das Verhalten von Zirkustieren oft auf ein enges | |
Vertrauensverhältnis schließen. Ein Beweis ist es nicht. Für Katharina | |
Lameter ist es noch nicht einmal ein Indiz. „Nein, das sind Wildtiere, die | |
sich entsprechend ihrem Verhaltensrepertoire verhalten wollen, wie sie es | |
auch in der freien Wildbahn ausleben würden. Und dazu gehört kein Mensch.“ | |
Aber lässt sich tatsächlich so kategorisch zwischen Wild- und | |
domestizierten Tieren unterscheiden? Anruf bei einem, der es wissen muss: | |
Kai Frölich ist habilitierter Veterinär, promovierter Biologe, | |
[14][Tierparkdirektor] und vor allem: Experte in Sachen Domestikation. | |
Nein, sagt Frölich, solche pauschalen Aussagen seien nicht möglich. Auch | |
Wildtiere könnten emotionale Bindungen zu Menschen eingehen, und | |
Interaktionen mit ihnen bedeuteten zwar oft, aber nicht grundsätzlich | |
Stress für die Tiere. | |
## Streitthema Transport | |
Davon, alle Wildtiere in eine Schublade zu stopfen, hält Frölich wenig. Die | |
Anpassungsfähigkeit von Wildtieren sei sehr unterschiedlich. Auch in Fragen | |
der Haltung lasse sich keine eindeutige Trennlinie zwischen Wild- und | |
domestizierten Tieren ziehen. Natürlich lasse sich ein Tiger in | |
Haltungsfragen in vielerlei Hinsicht mit einer Hauskatze besser vergleichen | |
als mit einem Zebra – schon allein, weil beide Fleischfresser seien. „Auch | |
wenn Tiger und Zebra Wildtiere sind, die Katze nicht.“ Aber letztendlich | |
könne man immer nur Vermutungen anstellen, wie es dem Tier geht. „Der Löwe | |
wird uns nicht sagen, ob er lieber in der Savanne auf Jagd gehen würde oder | |
sich lieber im Zirkus das Fressen vorsetzen lässt“, sagt Frölich. „Das si… | |
sehr schwere Fragen, auf die es keine leichte Antwort gibt, so gern mancher | |
das vielleicht hätte.“ | |
Bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Wildtierverbots geht es zudem | |
nicht darum, ob man gerne Elefanten beim Männchenmachen oder Seehunden beim | |
Ballspielen zusieht. Es geht um die Frage, ob Leid von Wildtieren in einem | |
reisenden Zirkusunternehmen unvermeidlich ist, es also beispielsweise nicht | |
durch strengere Vorschriften oder Kontrollen zu verhindern wäre. Solange es | |
alternative Maßnahmen gibt, ist ein Verbot laut Tierschutzgesetz nicht | |
zulässig. | |
Neben der Frage nach der Anpassungsfähigkeit von Wildtieren ist der | |
Transport das zentrale Thema in der Debatte. Denn er unterscheidet den | |
Zirkus von den meisten anderen Tierhaltungsformen und würde rechtfertigen, | |
warum nur er Ziel eines Verbotes ist. Natürlich kennt auch Tierlehrer | |
Strickler die Vorwürfe, die Tiere würden durch die häufigen Transporte | |
ungeheurem Stress ausgesetzt. „Ich wollte mir dann mal selber ein Bild | |
machen, wie sie damit zurechtkommen, und habe eine ganze Fahrt im | |
geschlossenen Wagen mit meinen Löwen mitgemacht: Nach zehn Minuten haben | |
alle Tiere im Stroh geschlafen.“ Auch die Standortwechsel bedeuten in | |
Stricklers Augen keinen Stress, sondern einen „Riesenvorteil“ gegenüber | |
manchem Zoo. „Da haben sie neue Gerüche, neue Nachbarn, neue | |
Bodenbeschaffenheit. Das erhöht die Lebensqualität natürlich, weil die | |
Tiere stunden-, manchmal tagelang damit beschäftigt sind, die neue Umgebung | |
zu erkunden.“ | |
Und die kleinen Käfigwagen, in denen die Tiere die meiste Zeit ausharren | |
müssen? Die hat es in der Tat einmal gegeben – vor Jahrzehnten. Er sei der | |
erste gewesen, der mobile Außenanlagen für die Raubkatzen aufgebaut habe, | |
sagt Strickler stolz, schon 1978. Später brauchte er zehn Lkws und 34 | |
Anhänger allein für seine Requisiten: „Die Außenanlagen meiner Tiere haben | |
sich kaum von denen in Zoos unterschieden: Da gab’s Wasserfälle, Baumstämme | |
Felswände, Rückzugsmöglichkeiten.“ Das sei auch in einem reisenden | |
Unternehmen alles möglich. | |
Erfahrungswerte, die freilich keinen Eingang in Klöckners Verordnung | |
finden, die in ihrer Argumentation den Tierschutzverbänden folgt. Darin | |
wird darauf verwiesen, dass Transporte „naturgemäß“ mit Belastungen | |
speziell für Wildtiere einhergingen. Auf Nachfrage der taz, mit welchen | |
wissenschaftlichen Erkenntnissen man dies begründe, nennt Klöckners Haus | |
vier Arbeiten – exemplarisch für eine „Vielzahl von Studien“. | |
Klingt nach einer eindeutigen Quellenlage. Doch sieht man sich die | |
genannten Arbeiten näher an, stellt man fest: Nur eine der Publikationen, | |
ein elfseitiger Aufsatz, [15][streift das Thema Transporte] überhaupt: Die | |
Autoren bekunden darin Zweifel an den Ergebnissen älterer Untersuchungen, | |
die zu dem Ergebnis gekommen waren, dass sich etwa Raubkatzen und Elefanten | |
sehr gut an den regelmäßigen Transport gewöhnten – ohne diese jedoch zu | |
widerlegen. | |
## Die Argumentationsdecke ist dünn | |
Für die Tierschutzverbände steht das Leid der Zirkustiere dennoch außer | |
Zweifel. Ihnen geht Klöckners Verordnung daher nicht weit genug. So fordern | |
15 Verbände in einer gemeinsamen Stellungnahme die Ministerin auf, das | |
Verbot sofort auf alle Wildtierarten auszuweiten und auf einen | |
Bestandsschutz für die aktuell gehaltenen Tiere zu verzichten. Ihre Halter | |
müssten demnach ihre Tiere rasch in Auffangstationen abgeben. | |
Die Stellungnahme ist ein gutes Beispiel für die dünne Argumentationsdecke, | |
auf der die Verbotsverfechter wandeln. Die Tierrechtler fahren darin eine | |
ganze Armada an Argumenten und Quellen auf. Doch betrachtet man sie näher, | |
stellt man fest, dass sich die meisten Studien auf andere Haltungsformen | |
beziehen. Das Argumentationsschema läuft dann, etwas vereinfacht, oft so: | |
Wenn schon bei den Tieren beispielsweise im Zoo dieser und jener Missstand | |
zu belegen ist, um wie viel schlimmer muss es dann um die Zirkustiere | |
stehen, denen es ja bekanntlich viel schlechter geht. Dass gerade das der | |
Punkt ist, der zu beweisen wäre – geschenkt. | |
Ähnlich funktioniert auch eine [16][von der walisischen Regierung in | |
Auftrag gegebene Arbeit], auf die sich auch deutsche Tierrechtler immer | |
wieder beziehen. Auch die Macher dieser Studie haben nur andere | |
Veröffentlichungen ausgewertet. Und diese beschäftigen sich in den | |
seltensten Fällen mit der Tierhaltung im Zirkus. Stattdessen geht es um | |
Transporte zum Schlachthof, Verhaltensbeobachtungen im Zoo, Kannibalismus | |
unter Ratten oder den Gewichtsverlust weiblicher Rentiere im Winter. | |
An einer anderen Stelle in der Stellungnahme schreiben die Verfasser | |
pauschal, in der Dressur würden „nicht selten brachiale Gewalt, wie | |
Stockschläge, angewendet“. Dahinter die Fußnote Nummer 120, die Behauptung | |
scheint also belegt zu sein. Folgt man der Fußnote, findet man einen | |
Verweis auf die Autobiografie eines Tierlehrers. In dieser beschreibt er | |
tatsächlich, wie er einmal nach einer lebensbedrohlichen Ausnahmesituation | |
auf einen Löwen eingeschlagen hat. Das Buch ist von 1988, der Fall trug | |
sich 1965 zu. Ein Beweis für das, was heute „nicht selten“ bei der Dressur | |
stattfindet? Zumindest ein Hinweis auf die Qualität der Argumentation. | |
College Station, Texas. Ted Friend war gerade mit der Kettensäge draußen, | |
hat ein paar Bäume zersägt, die der Schneesturm auf die Zufahrt geweht | |
hatte. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer vor seinem Computer und lässt seinem | |
Ärger via Zoom freien Lauf: „Diese Tierrechtsaktivisten sind genau wie die | |
Anhänger von Donald Trump.“ Mit Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen | |
seien sie nicht zu erreichen. | |
Friend trägt ein Sweatshirt mit dem Schriftzug seiner Uni: „Texas A&M | |
University“. 38 Jahre hat er hier geforscht und gelehrt. Schwerpunkt: | |
Tierwohl. Zahlreiche seiner Arbeiten beschäftigten sich mit der Haltung von | |
Wildtieren in Zirkussen. Der Verhaltensforscher ist einer der wenigen | |
Wissenschaftler, die sich tatsächlich vor Ort ein Bild gemacht haben. Er | |
hat sich einen Wohnwagen zugelegt und ist regelmäßig mit Zirkussen | |
mitgereist – in den USA, aber auch in Italien. | |
## Auch in Deutschland gibt es Bäume | |
Das Pikante: Ausgerechnet Friend ist einer der wichtigsten Kronzeugen der | |
Tierrechtler. Immer wieder berufen sie sich auf seine Studien, insbesondere | |
diejenigen zu stereotypem Verhalten. Und tatsächlich: Friend hat | |
stereotypes Verhalten bei Zirkustieren festgestellt, etwa Tiger, die | |
unruhig am Gitter auf und ab laufen. Doch seien seine Studien zu dem | |
Ergebnis gekommen, dass es sich hier nicht um eine Verhaltensstörung | |
gehandelt habe, sondern um eine Reaktion auf äußere Umstände wie die | |
anstehende Fütterung oder die Vorstellung. Stereotypien könnten | |
unterschiedliche Ursachen haben, und die gelte es zu unterscheiden. „Die | |
missdeuten alle meine Studien“, schimpft Friend. Und die meisten hätten | |
noch nie Feldforschung in einem Zirkus betrieben. | |
Die mangelnde wissenschaftliche Basis ihrer Behauptungen über das Leid der | |
Wildtiere im Zirkus scheint aber weder Tierrechtler noch Julia Klöckner zu | |
beunruhigen. | |
Entsprechend schludrig präsentiert sich auch Klöckners Papier. So behauptet | |
das Ministerium darin, Breitmaulnashörner seien gute Schwimmer, was bei der | |
Haltung berücksichtigt werde müsse. In Wirklichkeit können diese Tiere | |
überhaupt nicht schwimmen. Weiter heißt es, Flusspferde bräuchten ein | |
Wasserbecken, in dem sie vollständig eintauchen könnten, was im Zirkus kaum | |
umsetzbar sei. Dass es in Deutschland nur noch ein Flusspferd gibt, das mit | |
einem Zirkus reist, und dieser ein solches Becken mitführt – egal. | |
Unfreiwillig komisch wird es auch, wenn das Ministerium findet, dass eine | |
adäquate Ernährung von Giraffen „im Zirkusbetrieb deshalb nur schwer | |
umsetzbar“ sei, da diese gewöhnlich von Baumblättern und -trieben lebten – | |
und sich der Tierlehrerverband daraufhin tatsächlich bemüßigt fühlt, das | |
Ministerium darüber in Kenntnis zu setzen, „dass in ganz Deutschland Bäume | |
wachsen“. | |
Es bleiben viele Fragen. Man bekäme sie von der Ministerin gerne | |
beantwortet. Ein Gespräch mit der taz lehnt Klöckner jedoch ab. Und | |
schriftlich eingereichte Fragen werden zwar pro forma beantwortet, dabei | |
geht die Politikerin jedoch auf die meisten Fragen gar nicht ein, sondern | |
wiederholt lediglich Statements aus der Pressekonferenz. | |
Eines der Hauptargumente bleibt denn auch der Zeitgeist. „Die Zeit hat sich | |
geändert, und auch die Sichtweise von Zirkusbesuchern hat sich geändert“, | |
behauptet Klöckner auf der Pressekonferenz. Was sie nicht sagt: dass, wenn | |
sie recht hätte, Wildtierzirkusse ohnehin kein Publikum mehr fänden und | |
sich die Frage nach einem Verbot erledigt hätte. | |
Demnächst soll der Bundesrat über die Verordnung befinden. Eine Zustimmung | |
gilt als sicher, da von der Länderkammer selbst in der Vergangenheit schon | |
mehrfach ähnliche Initiativen ausgegangen waren. Klöckners Ziel ist es, die | |
Verordnung noch vor der Bundestagswahl in Kraft treten zu lassen. Die | |
Zirkusunternehmen haben für diesen Fall eine Klage angekündigt. | |
Volker Kauder hat bereits resigniert. Er wisse, dass seine Position nicht | |
mehrheitsfähig sei, sagt der Politiker. „Leider. Die nächste Nummer wird | |
sein, dass die Haltung von Tieren im Zirkus komplett verboten wird“, | |
prophezeit Kauder. „Frau Klöckner ist auf dem besten Weg, aus dem | |
Gesamtkunstwerk Zirkus ein Varieté im Zelt zu machen.“ | |
22 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.tiererlebnispark.de/ | |
[2] http://www.circusberolina.de/Willkommen.html | |
[3] https://staatszirkus-der-ddr.de/ | |
[4] https://www.peta.de/kategorie/tiere-in-der-unterhaltungsindustrie/zirkus/ | |
[5] https://twitter.com/i/broadcasts/1MnxnlBBmPNGO | |
[6] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Glaeserne-Gesetze/Referentenent… | |
[7] https://www.facebook.com/juliakloeckner/posts/3923840301006852 | |
[8] https://www.facebook.com/juliakloeckner/posts/3840308882693328 | |
[9] http://berufsverband-der-tierlehrer.de/ | |
[10] https://www.europeancircus.eu/ | |
[11] https://www.prowildlife.de/hintergrund/zirkus/ | |
[12] https://www.gu.de/produkte/heimtier/weitere-kleintiere/die-geheimnisvolle-… | |
[13] https://www.instagram.com/p/CJJ2-WUg6M-/ | |
[14] https://www.arche-warder.de/ | |
[15] https://www.federalcircusbill.org/wp-content/uploads/2014/04/Iossa2009.pdf… | |
[16] https://www.ispca.ie/uploads/The_welfare_of_wild_animals_in_travelling_cir… | |
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Dominik Baur | |
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