| # taz.de -- Wildtiere im Zirkus: Eine Frage der Haltung | |
| > Wildtierhaltung im Zirkus ist Tierquälerei, behauptet Julia Klöckner und | |
| > will den Übeltätern das Handwerk legen. Nur: Leiden die Tiere | |
| > tatsächlich? | |
| Bild: Auftritte wie dieser des Tierlehrers Martin Lacey jr. mit Löwen sollen v… | |
| Es ist Samstagnachmittag in Waltersdorf, als der Regen eine kurze Pause | |
| macht und Mario Spindler nach seinen Tieren sieht. Waltersdorf ist einer | |
| dieser Vororte, deren Namen man vor allem mit dem Besuch schwedischer | |
| Einrichtungshäuser verbindet. Die Autobahn ist gleich um die Ecke, ein paar | |
| Kilometer weiter hat letztes Jahr klammheimlich der Berliner Flughafen | |
| seinen Betrieb aufgenommen. Ein kleines, schon etwas verblasstes, grünes | |
| Schild an einer Straßenlaterne weist den Weg zum [1][Erlebnispark | |
| Waltersdorf], der zugleich das Winterquartier des [2][Circus Berolina] ist. | |
| Wenn kein Lockdown ist, kommen Familien hierher – um Elefanten zu füttern, | |
| Ponys zu reiten oder sich eine kurze Zirkusvorstellung anzusehen. | |
| Heute sind Tiere und Zirkusleute unter sich. „Tantor“ ruft Spindler, als er | |
| bei einem der Gehege angelangt ist. Sofort kommt der Nashornbulle | |
| angetrabt, der Zirkusdirektor krault ihn hinterm Ohr. Seine Eltern haben | |
| den traditionsreichen Zirkus vor 25 Jahren aus den Resten des zerschlagenen | |
| [3][Staatszirkus der DDR] aufgekauft. Noch heute bereist er vorwiegend den | |
| Osten Deutschlands, 15 bis 20 Städte im Jahr. | |
| Wäre nicht das Virus, wäre Berolina seit Anfang März auf Tournee. | |
| Nashornbulle Tantor war jedoch schon ein paar Jahre lang nicht mehr dabei. | |
| Wie auch Mara, Indra und Conny, die Spindler im Nachbargehege mit tiefen | |
| Grolllauten begrüßen. Knapp 60 Jahre alt sind die drei asiatischen | |
| Elefantenkühe. Außer ihnen hat Berolina noch vier afrikanische Elefanten. | |
| Im letzten Programm hat einer von ihnen Mario Spindlers Neffen mit dem | |
| Schleuderbrett in die Luft katapultiert. | |
| Ihr Publikum begeistern die Spindlers mit solchen Nummern, doch für | |
| Tierrechtsorganisationen sind sie nichts als Tierquälerei. Die Dressur von | |
| Elefanten und anderen Wildtieren basiere „immer auf Gewalt und Zwang“, | |
| [4][behauptet etwa Peta] – und hat neuerdings eine hochrangige | |
| Mitstreiterin in der Politik. | |
| Berlin, November 2020, [5][Auftritt Julia Klöckner]. Die | |
| Bundeslandwirtschaftsministerin stellt bei einer Pressekonferenz den | |
| [6][Entwurf einer Verordnung] vor. „Ich werde in den Wanderzirkussen | |
| verbieten“, sagt sie und zählt auf: Giraffen, Flusspferde, Nashörner, | |
| Primaten, Großbären und Elefanten. Sie alle sollen künftig nach dem Willen | |
| der Ministerin nicht mehr in reisenden Zirkussen gehalten werden. Denn das | |
| Leben dort bedeute „große Strapazen, großen Stress“ für die Tiere. | |
| Klöckner ist ein tierlieber Mensch. Seit Monaten postet sie auf Facebook | |
| Fotos ihres Australian Labradoodle Ella: wie sie im schicken Hundeanzug | |
| [7][im Schnee herumtollt], wie sie Frauchen am Geburtstag während einer | |
| Dienstreise in Brüssel [8][besuchen kommt]. Übermäßiges berufliches | |
| Engagement in Sachen Tierwohl wird Klöckner dagegen selten unterstellt. | |
| Kritiker halten ihr vielmehr vor, dass sie beispielsweise die Verbote des | |
| Kükentötens und der betäubungslosen Ferkelkastration hinausgezögert hat und | |
| die Haltung von Muttersäuen im Kastenstand für weitere 17 Jahre erlauben | |
| wollte. | |
| Die unmittelbaren Auswirkungen von Klöckners neuer Verordnung scheinen | |
| zunächst nicht weiter der Rede wert zu sein, denn die wenigen aktuell | |
| gehaltenen Tiere der genannten Arten sollen die Zirkusse behalten dürfen. | |
| Und ihre Zahl ist überschaubar: insgesamt fünf, vielleicht sieben | |
| Elefanten, zwei Giraffen, ein Flusspferd … Neuanschaffungen sind kaum | |
| möglich. In wenigen Jahren wird es keines dieser Tiere mehr im Zirkus geben | |
| – ob mit oder ohne Verordnung. | |
| ## Klöckners Bauchgefühl | |
| Dennoch herrscht in der Zirkusbranche helle Aufregung. Solche staatlichen | |
| Eingriffe seien wegen ihrer rufschädigenden Wirkung existenzbedrohend für | |
| viele Unternehmen. Er akzeptiere, wenn jemand keine Tiere im Zirkus sehen | |
| möchte, sagt etwa Jochen Träger-Krenzola vom Vorstand des | |
| [9][Berufsverbandes der Tierlehrer]. „Aber es hört bei mir auf, wenn sie | |
| versuchen, andere Leute zu missionieren, und mich dafür diskreditieren | |
| wollen.“ | |
| Besonders ärgern sich Zirkusse und Tierlehrer, weil sie auf ausdrücklichen | |
| Wunsch Klöckners eine Selbstverpflichtung vorgeschlagen haben, die weit | |
| über die bisherigen Haltungsvorschriften hinausging. Das Ministerium dankte | |
| und lobte das Konzept, ließ die Zirkusleute allerdings wissen: „Die Leitung | |
| unseres Hauses möchte aus politischen Gründen einen anderen Weg verfolgen.“ | |
| Was unter solchen „politischen Gründen“ zu verstehen ist, ist für Volker | |
| Kauder klar: „Das ist natürlich, weil die Tierrechtler Druck machen“, sagt | |
| der ehemalige Unionsfraktionschef im Bundestag, „und dem will sich Klöckner | |
| entziehen.“ Er halte nichts von einem grundsätzlichen Wildtierverbot, sagt | |
| der Parteifreund Klöckners. „Mir ist wichtig, dass die Tiere anständig | |
| gehalten werden – egal, ob das nun Wild- oder Haustiere sind.“ | |
| Verbote, so monieren die Zirkusse, bringen einen erheblichen Imageschaden | |
| mit sich. „Ankommen wird bei den Leuten: Beim Zirkus ist etwas faul, denen | |
| muss man sogar die Tiere verbieten. So schürt man Vorurteile und | |
| verunglimpft eine ganze Branche“, sagt etwa Helmut Grosscurth, | |
| Geschäftsführer der [10][European Circus Association]. „Am Ende heißt es | |
| wieder: ‚Leute, nehmt die Wäsche rein …‘“ Auch das Argument, dass es i… | |
| wieder Verstöße gegen die geltenden Haltungsvorschriften gebe, will er | |
| nicht gelten lassen: „In Berlin gab es im Jahr 2019 über vier Millionen | |
| Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Trotzdem ist da, soweit ich | |
| weiß, der Straßenverkehr nicht abgeschafft worden. Stattdessen hat man die | |
| Straßenverkehrsordnung verschärft.“ | |
| Vor allem fürchten die Zirkusvertreter, dass die jetzt genannten Tierarten | |
| nur der Anfang sind. Nicht zu Unrecht, denn Klöckners erklärtes Ziel ist | |
| es, das Verbot auf alle Wildtiere auszuweiten – vor allem auch auf | |
| Raubkatzen, die besondere Attraktion einiger größerer Zirkusse: „Wenn ich | |
| jetzt nur von meinem Bauchgefühl spreche, sage ich: Großkatzen haben in der | |
| Manege nichts zu suchen.“ Mit einem bedauernden Lächeln fügt die Ministerin | |
| hinzu: „Aber wir müssen uns auch an die Grundrechte halten.“ | |
| Die Debatte, die durch Klöckners Initiative neuen Zündstoff bekommt, ist | |
| schon über 30 Jahre alt. In Deutschland gibt es rund 25 Millionen Schweine, | |
| über zehn Millionen Hunde und um die 300.000 Reitpferde – doch über kaum | |
| eine Tierhaltungsform wird ähnlich emotional gestritten wie über die von | |
| ein paar hundert Wildtieren im Zirkus. | |
| ## Wenig weiß der Mensch über das Wohlbefinden der Tiere | |
| Pauschale Urteile und Klischees prägen den Streit. Dialog findet längst | |
| nicht mehr statt. Mit denen – gemeint sind immer die anderen – kann man ja | |
| ohnehin nicht reden, heißt es. Stattdessen stellen Peta und Co. die | |
| Zirkusleute an den Pranger, diese wiederum deklarieren die Tierrechtler als | |
| verbohrte Ideologen. Beiden Seiten geht es vor allem ums Prinzip, und alle | |
| nehmen für sich in Anspruch, stellvertretend für die Tierwelt zu sprechen. | |
| Kritischen Nachfragen gegenüber sind beide Seiten skeptisch – und sie sind | |
| gut vernetzt. Man stimmt sich untereinander ab, bevor man mit Journalisten | |
| redet. Ein Tierrechtler sagt zur Begrüßung am Telefon gleich ganz offen: | |
| „Man hat mich vor Ihnen gewarnt.“ | |
| Katharina Lameter holt tief Luft. So wie man eben Luft holt, wenn man mal | |
| wieder an der Begriffsstutzigkeit des Gegenübers verzweifelt. Die | |
| 28-jährige Biologin ist bei der Arten- und Tierschutzorganisation Pro | |
| Wildlife in München zuständig für die [11][Kampagne gegen | |
| Wildtierzirkusse]. | |
| Die Frage, die das erhöhte Sauerstoffbedürfnis ausgelöst hat, ist die, | |
| warum die „Wildheit“ von Tieren das ausschlaggebende Kriterium bei ihrer | |
| Haltung sein soll. Die Frage ist zentral, weil ihre Beantwortung begründen | |
| könnte, warum etwa für Hundehaltung oder Reitsport andere Regeln gelten | |
| sollen. Und es lägen ja auch andere Kriterien nahe: So könnte man annehmen, | |
| dass sich manche Tierarten für ein Leben im Zirkus eignen, andere dagegen | |
| nicht, unabhängig davon, ob sie domestiziert sind oder nicht. Man könnte | |
| auch vermuten, dass es vom Charakter des individuellen Tiers abhängt oder | |
| davon, in welcher Haltung es aufgewachsen ist. Annahmen, die nicht völlig | |
| absurd wären. | |
| Lameter hält dennoch nichts von ihnen. „Ob ein Löwe, ein Zebra oder ein | |
| Elefant – diese Tiere sind und bleiben Wildtiere und haben dementsprechend | |
| an ihre Haltung ganz andere Ansprüche als eine Katze oder ein Hund, die | |
| sich über einen langen Prozess hinweg an das Leben mit dem Menschen | |
| angepasst haben“, sagt sie. | |
| Hinter ihr, in der Ecke des Büros, liegt eines dieser angepassten Wesen und | |
| schläft: der Hund der Aktivistin, zehn Jahre alt. Geht es ihm gut? Ist er | |
| glücklich? Können Tiere glücklich sein? Wenig weiß der Mensch über das | |
| Wohlbefinden der Tiere. Es gibt Hinweise, ja: die körperliche Gesundheit, | |
| das Verhalten. Und natürlich behauptet jeder Tierhalter: Niemand kennt mein | |
| Tier besser als ich; ich werde ja wohl wissen, wie es ihm geht. Da | |
| unterscheiden sich Tierlehrerinnen wenig von Hundehaltern. | |
| Mario Spindler führt in den Küchenwagen. Eine großzügige Einbauküche plus | |
| Sitzecke. Auch im Winterquartier leben die Spindlers in ihren Wohnwagen. | |
| Mario Spindler und seine Frau Melanie erzählen von ihrem Zirkus, ihren | |
| Tieren und wie sich alles geändert hat in den letzten Jahren. In den | |
| Neunzigern, da sind sie noch mit dem größten Drei-Manegen-Zirkus Europas | |
| gereist. „Dann kam die Playstation, dann das Handy“, sagt Melanie Spindler. | |
| „Der Zirkus war zwar nebenan – aber keiner hatte mehr Interesse.“ | |
| Gleichzeitig kamen aber auch die Tierrechtler, die Demonstranten vor dem | |
| Zelt. Und jetzt Klöckner. | |
| „Wir werden von der Politik kriminalisiert“, schimpft Mario Spindler. Das | |
| Direktoren-Ehepaar redet sich in Rage, fällt sich gegenseitig ins Wort, | |
| gestikuliert, eine Kaffeetasse wird umgestoßen. „Frau Klöckner soll doch | |
| mal herkommen“, fordert Melanie Spindler. „Sie soll sich das anschauen, in | |
| einen Zirkus mit Wildtieren gehen. Sie muss sich doch selber überzeugen, ob | |
| die Zustände da so sind, wie sie es darstellt.“ | |
| Aber die Ministerin kommt nicht. Das letzte Mal, bekennt sie, war sie als | |
| Kind in ihrem Dorf in einem Zirkus. Auch sonst wurde niemand aus ihrem | |
| Ministerium in einem Zirkus vorstellig, um dort einmal die Tierhaltung in | |
| Augenschein zu nehmen. Und auf die Ankündigung in der Pressekonferenz, man | |
| werde nun Studien in Auftrag geben, angesprochen, reagiert Klöckner mit | |
| einem Rückzieher: Man müsse erstmal sehen, welche Lücken noch bestünden und | |
| wie man diese wissenschaftlich schließen könne. | |
| ## Kann das Tier mit dem Menschen? | |
| Einen Mangel an Lücken gibt es jedenfalls nicht. So argumentieren Klöckner | |
| und die Tierrechtler unter anderem damit, dass Wildtiere keinerlei | |
| emotionale Bindung zum Menschen eingehen könnten und für sie der Kontakt zu | |
| ihm grundsätzlich schon ein Stressfaktor darstelle. Es wäre ein gewichtiges | |
| Argument, denn in diesem Falle wäre natürlich jede Dressur mit Leid für das | |
| Tier verbunden, doch die Behauptung ist nicht belegt. Der | |
| Verhaltensforscher Immanuel Birmelin etwa ist überzeugt davon, dass | |
| Wildtiere enge Beziehungen zum Menschen eingehen können. [12][„Die | |
| geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier“] heißt das jüngste Buch Birmelins. | |
| Darin schildert er Fälle, in denen Wildtiere – vom Delfin bis zum Elefanten | |
| – ohne Futterreiz die Nähe des Menschen gesucht hätten. | |
| Auch René Strickler ist Birmelins Meinung: „Man kann zu einem Löwen eine | |
| genauso enge Beziehung aufbauen wie zu einem Hund“, sagt er. Strickler | |
| spricht nicht aus wissenschaftlicher Betrachtung, sondern aus Erfahrung. | |
| Jahrelang war der Raubtierlehrer der Star beim Circus Roncalli. Strickler | |
| war einer der ersten und konsequentesten Vertreter der sanften Dressur. | |
| „Ich wollte den Besuchern keine Pranken schlagenden und Zähne fletschenden | |
| Tiere zeigen, sondern wie vertrauensvoll das Zusammenspiel zwischen Tier | |
| und Mensch sein kann.“ Über 40 Jahre lang arbeitete der heute 72-Jährige | |
| mit Raubtieren. Er argumentiert, dass die Dressur das Leben für die Tiere | |
| interessanter und abwechslungsreicher mache. Ohne sinnvolle Beschäftigung | |
| werde man so intelligenten Lebewesen nicht gerecht. | |
| „Der Schlüssel ist Vertrauen“, erklärt der Schweizer am Telefon. Mit | |
| Gewaltandrohung erreiche man, anders als es die Tierrechtler behaupteten, | |
| gar nichts. Niemals wäre Blacky, der Schwarze Panther, ihm aus drei Metern | |
| Entfernung [13][in die Arme gesprungen], sagt Strickler. „Wissen Sie, was | |
| das heißt? Dieses Vertrauen – er springt ja eigentlich ins Nichts.“ | |
| In der Tat lässt das Verhalten von Zirkustieren oft auf ein enges | |
| Vertrauensverhältnis schließen. Ein Beweis ist es nicht. Für Katharina | |
| Lameter ist es noch nicht einmal ein Indiz. „Nein, das sind Wildtiere, die | |
| sich entsprechend ihrem Verhaltensrepertoire verhalten wollen, wie sie es | |
| auch in der freien Wildbahn ausleben würden. Und dazu gehört kein Mensch.“ | |
| Aber lässt sich tatsächlich so kategorisch zwischen Wild- und | |
| domestizierten Tieren unterscheiden? Anruf bei einem, der es wissen muss: | |
| Kai Frölich ist habilitierter Veterinär, promovierter Biologe, | |
| [14][Tierparkdirektor] und vor allem: Experte in Sachen Domestikation. | |
| Nein, sagt Frölich, solche pauschalen Aussagen seien nicht möglich. Auch | |
| Wildtiere könnten emotionale Bindungen zu Menschen eingehen, und | |
| Interaktionen mit ihnen bedeuteten zwar oft, aber nicht grundsätzlich | |
| Stress für die Tiere. | |
| ## Streitthema Transport | |
| Davon, alle Wildtiere in eine Schublade zu stopfen, hält Frölich wenig. Die | |
| Anpassungsfähigkeit von Wildtieren sei sehr unterschiedlich. Auch in Fragen | |
| der Haltung lasse sich keine eindeutige Trennlinie zwischen Wild- und | |
| domestizierten Tieren ziehen. Natürlich lasse sich ein Tiger in | |
| Haltungsfragen in vielerlei Hinsicht mit einer Hauskatze besser vergleichen | |
| als mit einem Zebra – schon allein, weil beide Fleischfresser seien. „Auch | |
| wenn Tiger und Zebra Wildtiere sind, die Katze nicht.“ Aber letztendlich | |
| könne man immer nur Vermutungen anstellen, wie es dem Tier geht. „Der Löwe | |
| wird uns nicht sagen, ob er lieber in der Savanne auf Jagd gehen würde oder | |
| sich lieber im Zirkus das Fressen vorsetzen lässt“, sagt Frölich. „Das si… | |
| sehr schwere Fragen, auf die es keine leichte Antwort gibt, so gern mancher | |
| das vielleicht hätte.“ | |
| Bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Wildtierverbots geht es zudem | |
| nicht darum, ob man gerne Elefanten beim Männchenmachen oder Seehunden beim | |
| Ballspielen zusieht. Es geht um die Frage, ob Leid von Wildtieren in einem | |
| reisenden Zirkusunternehmen unvermeidlich ist, es also beispielsweise nicht | |
| durch strengere Vorschriften oder Kontrollen zu verhindern wäre. Solange es | |
| alternative Maßnahmen gibt, ist ein Verbot laut Tierschutzgesetz nicht | |
| zulässig. | |
| Neben der Frage nach der Anpassungsfähigkeit von Wildtieren ist der | |
| Transport das zentrale Thema in der Debatte. Denn er unterscheidet den | |
| Zirkus von den meisten anderen Tierhaltungsformen und würde rechtfertigen, | |
| warum nur er Ziel eines Verbotes ist. Natürlich kennt auch Tierlehrer | |
| Strickler die Vorwürfe, die Tiere würden durch die häufigen Transporte | |
| ungeheurem Stress ausgesetzt. „Ich wollte mir dann mal selber ein Bild | |
| machen, wie sie damit zurechtkommen, und habe eine ganze Fahrt im | |
| geschlossenen Wagen mit meinen Löwen mitgemacht: Nach zehn Minuten haben | |
| alle Tiere im Stroh geschlafen.“ Auch die Standortwechsel bedeuten in | |
| Stricklers Augen keinen Stress, sondern einen „Riesenvorteil“ gegenüber | |
| manchem Zoo. „Da haben sie neue Gerüche, neue Nachbarn, neue | |
| Bodenbeschaffenheit. Das erhöht die Lebensqualität natürlich, weil die | |
| Tiere stunden-, manchmal tagelang damit beschäftigt sind, die neue Umgebung | |
| zu erkunden.“ | |
| Und die kleinen Käfigwagen, in denen die Tiere die meiste Zeit ausharren | |
| müssen? Die hat es in der Tat einmal gegeben – vor Jahrzehnten. Er sei der | |
| erste gewesen, der mobile Außenanlagen für die Raubkatzen aufgebaut habe, | |
| sagt Strickler stolz, schon 1978. Später brauchte er zehn Lkws und 34 | |
| Anhänger allein für seine Requisiten: „Die Außenanlagen meiner Tiere haben | |
| sich kaum von denen in Zoos unterschieden: Da gab’s Wasserfälle, Baumstämme | |
| Felswände, Rückzugsmöglichkeiten.“ Das sei auch in einem reisenden | |
| Unternehmen alles möglich. | |
| Erfahrungswerte, die freilich keinen Eingang in Klöckners Verordnung | |
| finden, die in ihrer Argumentation den Tierschutzverbänden folgt. Darin | |
| wird darauf verwiesen, dass Transporte „naturgemäß“ mit Belastungen | |
| speziell für Wildtiere einhergingen. Auf Nachfrage der taz, mit welchen | |
| wissenschaftlichen Erkenntnissen man dies begründe, nennt Klöckners Haus | |
| vier Arbeiten – exemplarisch für eine „Vielzahl von Studien“. | |
| Klingt nach einer eindeutigen Quellenlage. Doch sieht man sich die | |
| genannten Arbeiten näher an, stellt man fest: Nur eine der Publikationen, | |
| ein elfseitiger Aufsatz, [15][streift das Thema Transporte] überhaupt: Die | |
| Autoren bekunden darin Zweifel an den Ergebnissen älterer Untersuchungen, | |
| die zu dem Ergebnis gekommen waren, dass sich etwa Raubkatzen und Elefanten | |
| sehr gut an den regelmäßigen Transport gewöhnten – ohne diese jedoch zu | |
| widerlegen. | |
| ## Die Argumentationsdecke ist dünn | |
| Für die Tierschutzverbände steht das Leid der Zirkustiere dennoch außer | |
| Zweifel. Ihnen geht Klöckners Verordnung daher nicht weit genug. So fordern | |
| 15 Verbände in einer gemeinsamen Stellungnahme die Ministerin auf, das | |
| Verbot sofort auf alle Wildtierarten auszuweiten und auf einen | |
| Bestandsschutz für die aktuell gehaltenen Tiere zu verzichten. Ihre Halter | |
| müssten demnach ihre Tiere rasch in Auffangstationen abgeben. | |
| Die Stellungnahme ist ein gutes Beispiel für die dünne Argumentationsdecke, | |
| auf der die Verbotsverfechter wandeln. Die Tierrechtler fahren darin eine | |
| ganze Armada an Argumenten und Quellen auf. Doch betrachtet man sie näher, | |
| stellt man fest, dass sich die meisten Studien auf andere Haltungsformen | |
| beziehen. Das Argumentationsschema läuft dann, etwas vereinfacht, oft so: | |
| Wenn schon bei den Tieren beispielsweise im Zoo dieser und jener Missstand | |
| zu belegen ist, um wie viel schlimmer muss es dann um die Zirkustiere | |
| stehen, denen es ja bekanntlich viel schlechter geht. Dass gerade das der | |
| Punkt ist, der zu beweisen wäre – geschenkt. | |
| Ähnlich funktioniert auch eine [16][von der walisischen Regierung in | |
| Auftrag gegebene Arbeit], auf die sich auch deutsche Tierrechtler immer | |
| wieder beziehen. Auch die Macher dieser Studie haben nur andere | |
| Veröffentlichungen ausgewertet. Und diese beschäftigen sich in den | |
| seltensten Fällen mit der Tierhaltung im Zirkus. Stattdessen geht es um | |
| Transporte zum Schlachthof, Verhaltensbeobachtungen im Zoo, Kannibalismus | |
| unter Ratten oder den Gewichtsverlust weiblicher Rentiere im Winter. | |
| An einer anderen Stelle in der Stellungnahme schreiben die Verfasser | |
| pauschal, in der Dressur würden „nicht selten brachiale Gewalt, wie | |
| Stockschläge, angewendet“. Dahinter die Fußnote Nummer 120, die Behauptung | |
| scheint also belegt zu sein. Folgt man der Fußnote, findet man einen | |
| Verweis auf die Autobiografie eines Tierlehrers. In dieser beschreibt er | |
| tatsächlich, wie er einmal nach einer lebensbedrohlichen Ausnahmesituation | |
| auf einen Löwen eingeschlagen hat. Das Buch ist von 1988, der Fall trug | |
| sich 1965 zu. Ein Beweis für das, was heute „nicht selten“ bei der Dressur | |
| stattfindet? Zumindest ein Hinweis auf die Qualität der Argumentation. | |
| College Station, Texas. Ted Friend war gerade mit der Kettensäge draußen, | |
| hat ein paar Bäume zersägt, die der Schneesturm auf die Zufahrt geweht | |
| hatte. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer vor seinem Computer und lässt seinem | |
| Ärger via Zoom freien Lauf: „Diese Tierrechtsaktivisten sind genau wie die | |
| Anhänger von Donald Trump.“ Mit Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen | |
| seien sie nicht zu erreichen. | |
| Friend trägt ein Sweatshirt mit dem Schriftzug seiner Uni: „Texas A&M | |
| University“. 38 Jahre hat er hier geforscht und gelehrt. Schwerpunkt: | |
| Tierwohl. Zahlreiche seiner Arbeiten beschäftigten sich mit der Haltung von | |
| Wildtieren in Zirkussen. Der Verhaltensforscher ist einer der wenigen | |
| Wissenschaftler, die sich tatsächlich vor Ort ein Bild gemacht haben. Er | |
| hat sich einen Wohnwagen zugelegt und ist regelmäßig mit Zirkussen | |
| mitgereist – in den USA, aber auch in Italien. | |
| ## Auch in Deutschland gibt es Bäume | |
| Das Pikante: Ausgerechnet Friend ist einer der wichtigsten Kronzeugen der | |
| Tierrechtler. Immer wieder berufen sie sich auf seine Studien, insbesondere | |
| diejenigen zu stereotypem Verhalten. Und tatsächlich: Friend hat | |
| stereotypes Verhalten bei Zirkustieren festgestellt, etwa Tiger, die | |
| unruhig am Gitter auf und ab laufen. Doch seien seine Studien zu dem | |
| Ergebnis gekommen, dass es sich hier nicht um eine Verhaltensstörung | |
| gehandelt habe, sondern um eine Reaktion auf äußere Umstände wie die | |
| anstehende Fütterung oder die Vorstellung. Stereotypien könnten | |
| unterschiedliche Ursachen haben, und die gelte es zu unterscheiden. „Die | |
| missdeuten alle meine Studien“, schimpft Friend. Und die meisten hätten | |
| noch nie Feldforschung in einem Zirkus betrieben. | |
| Die mangelnde wissenschaftliche Basis ihrer Behauptungen über das Leid der | |
| Wildtiere im Zirkus scheint aber weder Tierrechtler noch Julia Klöckner zu | |
| beunruhigen. | |
| Entsprechend schludrig präsentiert sich auch Klöckners Papier. So behauptet | |
| das Ministerium darin, Breitmaulnashörner seien gute Schwimmer, was bei der | |
| Haltung berücksichtigt werde müsse. In Wirklichkeit können diese Tiere | |
| überhaupt nicht schwimmen. Weiter heißt es, Flusspferde bräuchten ein | |
| Wasserbecken, in dem sie vollständig eintauchen könnten, was im Zirkus kaum | |
| umsetzbar sei. Dass es in Deutschland nur noch ein Flusspferd gibt, das mit | |
| einem Zirkus reist, und dieser ein solches Becken mitführt – egal. | |
| Unfreiwillig komisch wird es auch, wenn das Ministerium findet, dass eine | |
| adäquate Ernährung von Giraffen „im Zirkusbetrieb deshalb nur schwer | |
| umsetzbar“ sei, da diese gewöhnlich von Baumblättern und -trieben lebten – | |
| und sich der Tierlehrerverband daraufhin tatsächlich bemüßigt fühlt, das | |
| Ministerium darüber in Kenntnis zu setzen, „dass in ganz Deutschland Bäume | |
| wachsen“. | |
| Es bleiben viele Fragen. Man bekäme sie von der Ministerin gerne | |
| beantwortet. Ein Gespräch mit der taz lehnt Klöckner jedoch ab. Und | |
| schriftlich eingereichte Fragen werden zwar pro forma beantwortet, dabei | |
| geht die Politikerin jedoch auf die meisten Fragen gar nicht ein, sondern | |
| wiederholt lediglich Statements aus der Pressekonferenz. | |
| Eines der Hauptargumente bleibt denn auch der Zeitgeist. „Die Zeit hat sich | |
| geändert, und auch die Sichtweise von Zirkusbesuchern hat sich geändert“, | |
| behauptet Klöckner auf der Pressekonferenz. Was sie nicht sagt: dass, wenn | |
| sie recht hätte, Wildtierzirkusse ohnehin kein Publikum mehr fänden und | |
| sich die Frage nach einem Verbot erledigt hätte. | |
| Demnächst soll der Bundesrat über die Verordnung befinden. Eine Zustimmung | |
| gilt als sicher, da von der Länderkammer selbst in der Vergangenheit schon | |
| mehrfach ähnliche Initiativen ausgegangen waren. Klöckners Ziel ist es, die | |
| Verordnung noch vor der Bundestagswahl in Kraft treten zu lassen. Die | |
| Zirkusunternehmen haben für diesen Fall eine Klage angekündigt. | |
| Volker Kauder hat bereits resigniert. Er wisse, dass seine Position nicht | |
| mehrheitsfähig sei, sagt der Politiker. „Leider. Die nächste Nummer wird | |
| sein, dass die Haltung von Tieren im Zirkus komplett verboten wird“, | |
| prophezeit Kauder. „Frau Klöckner ist auf dem besten Weg, aus dem | |
| Gesamtkunstwerk Zirkus ein Varieté im Zelt zu machen.“ | |
| 22 Apr 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.tiererlebnispark.de/ | |
| [2] http://www.circusberolina.de/Willkommen.html | |
| [3] https://staatszirkus-der-ddr.de/ | |
| [4] https://www.peta.de/kategorie/tiere-in-der-unterhaltungsindustrie/zirkus/ | |
| [5] https://twitter.com/i/broadcasts/1MnxnlBBmPNGO | |
| [6] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Glaeserne-Gesetze/Referentenent… | |
| [7] https://www.facebook.com/juliakloeckner/posts/3923840301006852 | |
| [8] https://www.facebook.com/juliakloeckner/posts/3840308882693328 | |
| [9] http://berufsverband-der-tierlehrer.de/ | |
| [10] https://www.europeancircus.eu/ | |
| [11] https://www.prowildlife.de/hintergrund/zirkus/ | |
| [12] https://www.gu.de/produkte/heimtier/weitere-kleintiere/die-geheimnisvolle-… | |
| [13] https://www.instagram.com/p/CJJ2-WUg6M-/ | |
| [14] https://www.arche-warder.de/ | |
| [15] https://www.federalcircusbill.org/wp-content/uploads/2014/04/Iossa2009.pdf… | |
| [16] https://www.ispca.ie/uploads/The_welfare_of_wild_animals_in_travelling_cir… | |
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| Dominik Baur | |
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