# taz.de -- Wiederaufbau in der Ukraine: Die Hoffnung hat viele Gesichter | |
> Rund um Cherson hat sich der Krieg tief ins Land gefressen, die Front ist | |
> immer noch nah. Aber die Menschen hier wollen ihr Zuhause wieder | |
> aufbauen. | |
Bild: Die Hoffnung ist ein roter Traktor, der irgendwann wieder bei der Melonen… | |
Bila Krynytsia und Bilohirka Wenn du jemanden findest, der so über dich | |
spricht wie Serhiy über seinen Traktor, dann hast du im Leben vielleicht | |
ein paar Dinge richtig gemacht. | |
„Der Traktor ist meine Seele“, sagt Serhiy. Sanft nach vorn gebeugt steht | |
er da, er lächelt so, dass er seine schmalen Lippen kaum anhebt in den | |
Mundwinkeln, und doch erreicht dieses Lächeln sein ganzes, vom kalten Wind | |
gerötetes Gesicht. Serhiy steht vor seinem Traktor und der wiederum stützt | |
sich auf einen abgesägten Baumstumpf, sonst würde er umfallen, er hat | |
gerade nur zwei Räder. Die anderen beiden stehen ein paar Meter weit weg, | |
mitsamt dem Vorderteil der Maschine. Serhiy hat seinen Traktor geteilt, um | |
ihn endlich zu reparieren. Im Frühling 2022 haben Mörsergranaten den Motor | |
zerfetzt. | |
Du kannst dir die zerschossenen alten Teile anschauen, sie liegen noch | |
dort, wo die Granaten eingeschlagen sind vor Serhiys Haus. „Es tut weh, | |
wenn ich sehe, wie jeder aufs Feld fährt, nur ich nicht“, sagt Serhiy, | |
bückt sich und klopft mit einem riesigen Inbusschlüssel neben der | |
Getriebewelle herum, die vorn aus dem Traktor herausragt. Da soll der neue | |
Motor hin. | |
Zwei Jahre hat Serhiy gespart und seit gestern liegt vor seinem Haus, fast | |
an der gleichen Stelle, wo damals die Granaten eingeschlagen sind, ein | |
großes Paket. Die Pappe hat Serhiy schon aufgerissen, aus dem Loch schaut | |
braunes Metall. Heute ist Sonntag, heute bereitet Serhiy alles vor. Morgen | |
baut er den neuen Motor ein. Noch einmal dengelt Serhiy mit seinem | |
Inbusschlüssel neben die Getriebewelle. Öl und Fett regnen in schwarzen | |
Brocken auf den Rasen. Serhiy murmelt etwas in Traktorsprache von | |
Dichtungen und einem Ausrücklager und dann schaut er mit seinem leisen | |
Lächeln auf und sagt auf Ukrainisch: „Ich muss da raus, das Land singt.“ | |
Das Land ist die Steppe nordöstlich der Stadt Cherson, flach und weit unter | |
einem ebenso weiten Himmel. Übersetzt du die Ortsnamen vom Ukrainischen ins | |
Deutsche, könntest du meinen, du wärst in Tolkiens Auenland geraten. | |
Serhiys Dorf heißt Bilohirka, Weißhügel, ein paar Kilometer weiter, auf der | |
anderen Seite des sich wie eine Schlange windenden Flusses Inhulez liegt | |
Bila Krynytsia, Weißbrunnen. Es gibt auch ein Sukhyi Stavok, Trockener | |
Teich. Aber da leben keine Menschen mehr, nur noch Hühner suchen Futter | |
zwischen den Ruinen. | |
Bis Bilohirka kamen Russlands Soldaten Anfang 2022 bei ihrem Versuch, die | |
gesamte Ukraine zu erobern. Über den Inhulez schafften sie es nicht, der | |
war die Grenze, was nicht heißt, dass sie über dieses schmale Wasser nicht | |
schießen konnten mit ihren Mörsern, ihrer Artillerie, ihren | |
Mehrfachraketenwerfern. Ukrainische Soldat:innen schossen zurück. | |
In den Gärten von Bilohirka und Bila Krynytsia liegen mehr Patronenhülsen, | |
Granatreste und Raketentrümmer als dort Blumen wachsen. Gut, es ist März, | |
der Frühling kommt erst noch. Die Ukrainer:innen vertrieben die Besatzer | |
schließlich im Herbst 2022 nach Osten auf die andere Seite eines viel | |
breiteren Flusses, als es der Inhulez je sein wird, auf die andere Seite | |
des Dnipro. | |
Fünfzig Kilometer weit ist die Front heute von Serhiy und seinem Traktor | |
weg. Der Krieg hat sich hier so tief in die Landschaft gefressen, dass es | |
schwerfällt, sich die Dörfer, Felder und Straßen ohne ihn vorzustellen. | |
Einschusslöcher ziehen sich in sprunghaften Mustern über Hauswände und | |
Tore, Schützengräben zerschneiden die Höfe, der blaue Himmel blendet durch | |
hölzerne Dachstuhlgerippe, aus der schwarzen Erde der Weizenäcker ragen die | |
leeren Rohre abgeschossener Raketen. Im struppigen Gebüsch am Rand der Wege | |
flattern zerrissene Einkaufstüten aus Plaste, sie sind ein Signal: Hier | |
wurden Minen geräumt. Was bedeutet, dass an den vielen Stellen, wo keine | |
Plastetüten flattern, noch Minen liegen. | |
Wer will hier leben? | |
Wer baut die Häuser wieder auf, pflanzt neu, schüttet die Gräben zu? | |
Serhiy Brazhenko lebt hier, 59 Jahre alt, bald wird er 60. Er ist ein | |
Melonenbauer, die Gegend hier ist berühmt für ihre Melonen. Serhiy ist ein | |
Poet, wenn es um Landmaschinen und Schwarzerde geht, und über die Zwiebeln | |
schwärmt er wie ein Minnesänger. Seine Sätze werden kürzer, wenn er über | |
Menschen redet. Die Straße hinein nach Bilohirka, die mit Serhiys Haus | |
beginnt, führt an einsamen Wänden, Steinhaufen und Erdlöchern vorbei, von | |
den einst fünfzehn Familien in dieser Straße wohnen hier noch vier, sagt | |
Serhiy. | |
Und dann so ganz nebenher, du hast es kaum gemerkt, hat er dir da eben | |
wirklich gesagt, dass er in den Trümmern nebenan aufgewachsen ist, dass es | |
sein Elternhaus war und dass sein Bruder dort während der Besatzung | |
gestorben ist? Ja, das hat er. Serhiys Mutter immerhin, die lebt noch, sie | |
ist mit ihren 87 Jahren noch einmal umgezogen, nach Davydiv Brid. Brid | |
heißt Furt auf Ukrainisch, der Inhulez ist an der Stelle so flach, dass ihn | |
die Salzhändler früherer Tage dort durchquerten. | |
Auf Serhiys Grundstück stehen Schilder. Sie warnen weiß auf rot: | |
„Nebezpechno! Miny!“, „Gefährlich! Minen!“. Zur Sicherheit prangt zwis… | |
diesen Worten noch ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Und trotzdem tritt | |
ein Mann zu dem Gespräch mit Serhiy dazu und dann tritt dieser Mann mit | |
seinen Stiefeln gegen das dunkle, runde Ding, das neben einem der | |
Totenkopfschilder halb aus dem Rasen guckt. Er will nur mal zeigen, dass | |
diese Sorte Minen nicht so einfach explodiert, da müsste noch mehr Druck | |
ausgeübt werden, sagt er, und mit viel Druck gibt er dir auch die Hand. Ein | |
silbergrauer Hund bellt ihn an, so wie hier die ganze Zeit Hunde jemanden | |
anbellen. Alle sehen sie wie Würste im Fellmantel aus. Es geht ihnen gut. | |
Ungefähr 120 Menschen lebten vor der Invasion in Bilohirka, heute sind es | |
noch etwa 20. Gerade in den kleinen Dörfern sind nur sehr wenige geblieben | |
oder zurückkommen, sagen die beiden Starosta dieser Gegend. Starosta heißt | |
„Ältester“, es ist ein Amt, in das man für fünf Jahre gewählt wird, in | |
Friedenszeiten. Der eine ist für Dörfer rechts des Inhulez zuständig, der | |
andere für die links des Flusses. Beide sind kräftige Männer und auf ihren | |
beiden Gesichtern liegt eine Spannung, als warteten sie darauf, endlich | |
ausatmen zu dürfen. Ständig sind sie im Auto unterwegs, ständig am Telefon. | |
Sie schauen sich kaputte und halb kaputte Häuser an und berechnen die | |
Schäden, sie schlichten bei Streitigkeiten, wenn Hilfslieferungen verteilt | |
werden, sie kämpfen um Unterlagen, damit eine Frau endlich auf dem Friedhof | |
beerdigt werden kann. Ihr Körper liegt seit der Besatzung neben ihrem Haus | |
vergraben. | |
Die meisten, die in diesem Frühjahr hier leben, sind entweder nie gegangen. | |
Weil sie zu alt waren, zu krank, weil sie nicht wussten wohin. Oder es sind | |
Menschen wie Serhiy, die etwas zu bestellen haben, das Land nämlich. Es | |
sind Menschen, die sich an diesem Land festgehalten haben, auch während der | |
Besatzung, der Kämpfe, der Explosionen. Einen Monat harrten Serhiy und | |
seine Frau aus, bevor sie Mitte April 2022 flohen. Kaum hatte die | |
ukrainische Armee ihr Dorf im Herbst zurückerobert, kamen sie wieder. Nur | |
die Stursten sind noch hier, sagen die Starosta. Alle haben eine Geschichte | |
des Überlebens. | |
Siehst du das Loch dahinten? Das war unser Wohnzimmer. Raketeneinschlag. | |
Zum Glück habe ich den Tieren gerade Wasser gegeben. Sonst wäre ich tot. | |
Das erzählen dir die Großmütter von Bilohirka. Auch Serhiys Haus hat es | |
erwischt. Bis er es schafft, das wieder aufzubauen, wohnen er und seine | |
Frau im Stall. Ein großer Raum, rechts das Doppelbett, in der Mitte ein | |
Kanonenofen, links die Küche und neben dem Regal mit den Tellern und Tassen | |
das Klo. Hinter einem Vorhang. | |
Neben dem Stall, der jetzt ein Wohnhaus ist, ragt eine von Soldaten | |
gezimmerte Holzverschanzung aus der Erde wie der faulige Zahn eines | |
riesigen Tieres. Serhiy hat es noch nicht geschafft, das abzureißen und | |
wegzuschaffen, ebenso wie er die Schützengräben quer durch seinen Hühnerhof | |
noch nicht ganz zugeschüttet hat. | |
Andere sind in ihre Garagen gezogen. In ihre Küchen. In dieser Gegend haben | |
die Menschen oft zwei Häuser, ein größeres fürs Wohnen und Schlafen, ein | |
kleineres fürs Kochen und Essen. Wenn sie Glück haben, steht eins davon | |
noch. | |
Was gibt Hoffnung? Sicher nicht die Versprechen auf baldigen Frieden aus | |
Washington, nicht das grausame Gestammel aus dem Weißen Haus. | |
Seit dem Herbst schickt Russland fast täglich Schwärme von Drohnen in die | |
Ukraine. In diesen Tagen im März sterben ein 14-jähriges Mädchen und seine | |
Eltern in Saporischschja. Ein 5-jähriges Mädchen und zwei andere Menschen | |
in Kyjiw. Diese Sprache verstehen die Leute hier. Auch wenn die Drohnen die | |
weite Steppe meist nur überfliegen in Richtung der großen Städte. Nachts | |
kann man ihr Brummen hoch am Himmel hören und das Maschinengewehrfeuer der | |
mobilen Einsatzgruppen der ukrainischen Armee, die versuchen, den Tod vom | |
Himmel zu schießen. Auch wenn die Drohnen die Steppe nur überfliegen, | |
wissen die Menschen hier, dass man in Russland noch an sie denkt. | |
In Velyka Oleksandrivka schlug am 1. Juni 2023 eine Rakete ins Kulturhaus | |
ein. 1. Juni, Internationaler Kindertag in der Sowjetunion, der DDR und | |
anderen sozialistischen Ländern und heute noch in Russland und der Ukraine. | |
Die Rakete kam um 10 Uhr morgens, zur einer Zeit, da hätten sie vor vier | |
Jahren mit den Kindern vielleicht im Kulturhaus gefeiert. Aber weil man | |
nicht nur in Russland noch an die Menschen hier denkt, sondern die Menschen | |
hier auch noch an Russland, waren am 1. Juni 2023 keine Kinder dort. | |
Velyka Oleksandrivka ist so etwas wie die Hauptstadt der kleinen | |
Steppendörfer, hier sitzt die Verwaltung, hier gibt es eine Klinik. Du | |
fährst an den Trümmern des Kulturhauses vorbei, du denkst daran, dass die | |
Deutschen diesen Ort „Alexanderstadt“ genannt haben, als es vor 84 Jahren | |
noch sie waren, die das Land hier besetzten und die Menschen töteten. | |
Was also gibt Hoffnung? Was ist überhaupt Hoffnung? | |
Die Hoffnung sind 760 Steine. 760 Steine passen auf den Truck, der am | |
Donnerstag, den 20. März 2025, in Bila Krynytsia vor dem Hoftor des | |
Starosta, westlich des Flusses hält. Er wird mit diesen Steinen sein Haus | |
wieder aufbauen, seine Eltern und eine Verwandte, die mit ihrem Enkel | |
hierher geflohen ist, leben noch in der Garage. Ob der Kindergarten des | |
Ortes, in dem seine Partnerin Ljudmyla gearbeitet hat, je wieder aufgebaut | |
wird, weiß er nicht. Sie lebt inzwischen davon, aus Hühnern Würste zu | |
machen. | |
Die Hoffnung sind 44 Bretter vor Serhiys Grundstück in Bilohirka, ein jedes | |
6 Meter lang. Die Hoffnung sind 6 Fenster, die der Starosta aus Bila | |
Krynytsia zusammen mit anderen Männern neben die Bretter stellt, obwohl | |
dieser Starosta auf dieser Seite des Inhulez nicht zuständig ist. | |
Die Hoffnung heißt Masha. Maria Khomyakova, 33 Jahre alt, weiches Gesicht | |
und weiche Stimme. Aber es liegt auch etwas Raues in dieser Stimme, das | |
sekundenschnell erblüht, wenn Masha lacht. Wenn sie schreien muss zwischen | |
Männern und Motoren. Masha ist Szenenbildnerin in Kyjiw und sie ist | |
diejenige, die die Steine und die Bretter bezahlt hat, die in Bila | |
Krynytsia und Bilohirka vor den Häusern liegen. Sie hat sich zusammengetan | |
mit anderen Frauen. Sie haben eine Organisation gegründet, „Women’s Forum�… | |
sie haben Gelder im Ausland gesammelt, und dann haben die Frauen Trucks | |
gemietet, Fahrer bezahlt, Steine und Holz. | |
Das mit den Fahrern war gar nicht so einfach, drei sind Masha wieder | |
abgesprungen, kurz vor der Fahrt. Sie haben erfahren, dass sie sich zur | |
Musterung melden sollen, sie hatten Angst, sie müssten zur Armee, in den | |
Krieg. So nahe der Front stehen viele Checkpoints mit Soldat:innen und | |
Polizist:innen. Vielleicht hätten sie die drei Männer gleich mitgenommen. | |
Masha hat so lange telefoniert, bis sie neue Fahrer hatte. | |
Wegen des Krieges findet Masha auch keine Bauarbeiter für Bilohirka und | |
Bila Krynytsia mehr. Sie werden eingezogen oder verstecken sich, versuchen | |
wenig zu reisen, fliehen. Viele Frauen trauen sich das Häuserbauen noch | |
nicht zu, sie haben es nie gelernt. Also lässt Masha Steine, Holz und | |
Isolierwolle nur vor den Häusern abladen, in denen es noch Männer gibt. | |
Masha stempelt Lieferscheine, Masha beißt sich auf die Zunge, wenn ein | |
Angetrunkener sagt, freiwillige Helferinnen wie sie würden nichts tun, | |
während von Masha bezahlte Arbeiter um ihn herum Mashas Steine stapeln. | |
Masha zuckt nicht einmal, wenn es laut knallt. Minen, die jemand gefunden | |
hat, Minen, die jemand gesammelt und in ein Loch geworfen hat und auf die | |
jemand einen brennenden Autoreifen schleudert, damit sie explodieren. | |
Sie schickt dir nach diesen Tagen im März Bilder per Telegram, Bilder von | |
Hämmern mit Köpfen aus Hartgummi. Kyianka heißt der Hammer der | |
Zimmermannsleute auf Ukrainisch und Kyianka nennt sich auch Masha, weil sie | |
in Kyjiw geboren ist und nicht nur zugezogen. Sie ist stolz darauf, und zu | |
den Bildern mit den Hämmern schreibt sie: „Manchmal muss ich selbst so ein | |
Hammer sein.“ | |
Staatliche Hoffnung, die gibt es auch, Programme für den Wiederaufbau, | |
viele mit einem „e“ im Namen, weil in der Ukraine vieles nur noch im | |
Internet passiert. Ukrainer:innen, deren Häuser beschädigt wurden, können | |
Geld für Baumaterialien bekommen. Für zerstörte Häuser gibt es digitale | |
Zertifikate, mit denen man sich ein anderes Haus kaufen kann. Aber viele | |
Menschen hier haben nicht die notwendigen Dokumente für diese Programme. | |
Von 38 Häusern in Bilohirka existiert nur für eins die Besitzurkunde, | |
erzählt der Starosta östlich des Flusses. Die Menschen haben über | |
Generationen ohne Papiere gelebt und ihren Besitz per Handschlag verkauft. | |
Was es überhaupt an Unterlagen gab, ist dann größtenteils im Krieg | |
verbrannt. | |
Die Hoffnung sind Gurken und Tomaten. Wenn man die Straße an Serhiys Haus | |
in Bilohirka vorbei bis ganz ans Ende fährt, kommt man zu den | |
Gewächshäusern von Darya Pashnyuk und Kateryna Lypunova. Tropisch warm ist | |
es hier drin, 25 Grad, es können 45 werden, würde man die Türen schließen. | |
Dasha, 23 Jahre alt, kniet zwischen zentimeterhohen Gurkenpflanzen, greift | |
nach grünen Schnüren, die von der Decke über ihr hängen, knotet und windet | |
sie um kleine Stengel. Hochbinden heißt das, die Gurken sollen entlang der | |
Schnüre nach oben ranken. | |
Katya, 25 Jahre alt, topft Tomatenpflanzen in größere Gefäße um. „Natürl… | |
haben wir Angst“, sagt Dasha. Angst davor, wie viel ukrainisches Land Trump | |
an Putin verdealt, Angst davor, dass ihr Dorf noch einmal besetzt wird, | |
Angst davor, dass sie sich wieder vor Soldaten aus Russland verstecken | |
müssen wie während der ersten Besatzung 2022. | |
Die beiden führen dich aus der Wärme des Gewächshauses hinaus in die | |
strahlende Märzsonne und den arktisch kalten Wind und durch eine Tür und | |
nach rechts in ein Zimmer mit zwei Betten. An der Wand steht ein | |
Wäscheständer und dahinter hängt ein Teppich, groß, braun und schwer, mit | |
einem dieser Muster, sollen es Blumen sein, ein Wappen, ein Geschwür? | |
Jedenfalls hebt Dasha den Teppich an, sie fasst die untere linke Ecke und | |
hebt ihn hoch und dahinter siehst du den Sims eines Fensters und | |
übereinander gemauerte Steine dort, wo Glas sein müsste. Hierhin haben sich | |
die beiden Frauen verkrochen, wenn Soldaten aus Russland auf ihren Hof | |
kamen. | |
Katya sagt: „Wir leben Tag für Tag. Monat für Monat.“ Dasha sagt: „Wir | |
versenken uns darin, etwas wachsen zu sehen, in die Arbeit mit unseren | |
Händen.“ Bilohirka war mal bekannt für seinen Gemüseanbau. Vielleicht wird | |
es das wieder. | |
Wärme ist Hoffnung. Es wird wärmer werden und Yulias Bienen werden fliegen. | |
Okay, eigentlich fliegen Yulias Bienen schon, seit Mitte Februar. Aber sie | |
trainieren nur ihre Flügel, werfen die Scheiße ab, die sie während des | |
Winters gesammelt haben. Yulia Petrienko, 36 Jahre alt, muss sie mit Honig | |
füttern, damit ihre Bienenvölker nach dem Winter wieder wachsen können. 60 | |
davon leben in Holzkästen hinter ihrem Haus, Holzkästen in Blau, Zartrosa | |
und Grün. Fotos auf ihrem Mobiltelefon zeigen Erde und Asche an dieser | |
Stelle. | |
Bila Krynytsia liegt zwar westlich des Inhulez, Russland hat Yulias Dorf | |
nie besetzt, „aber sie haben unser Dorf mit Feuer unter Kontrolle | |
gehalten“, wie Yulia sagt. Ihre Bienen sind verbrannt, ihre 200 Papageien | |
getötet und vertrieben. Mit den Bienen hat sie neu angefangen, die | |
Vogelzucht aufgegeben. Zu teuer. Yulia sagt, was Serhiy sagt, was Dasha und | |
Katya sagen, sie sagt, sie konzentriert sich auf die tägliche Arbeit. Auf | |
ihre Hände. | |
100 Bienenvölker hätte Yulia gern, das ist ihr Ziel. Und ein gesundes Kind. | |
Sie und der Mann, mit dem sie hier lebt, werden wohl die 120 Kilometer in | |
die große Hafenstadt Mykolajiw fahren, um es zur Welt zu bringen. Die | |
Geburtstation, die näher dran war, musste schließen. Es leben zu wenig | |
Menschen hier. | |
Ein letzter Besuch. Du fährst zu Dmytro Petrienko, dem Bruder von Yulia, | |
der Imkerin, und Ljudmyla, der Frau, die einmal Kindergärtnerin war. Dmytro | |
liegt auf einem Hügel über Bila Krynytsia. Ein Mann mit feinen Zügen und | |
großen dunklen Augen. Auf dem Foto unter dem Kreuz trägt er Uniform und | |
presst die Lippen zusammen. | |
23. 05. 1992 – 09. 04. 2023. | |
Über seinem Grab weht eine blau-gelbe Fahne. Ein paar Meter weiter weht | |
eine zweite, dort liegt der Sohn neben dem Vater. Der Stein des Vaters ist | |
zerschmettert, das Bild des Sohnes liegt auf der Erde. Granaten machen vor | |
den Toten nicht halt. | |
Du fährst am golden glänzenden Unbekannten Soldaten vorbei, an einer | |
Wegkreuzung in der Steppe. Der Unbekannte Soldat ist die sowjetische Art, | |
an die vielen Toten zu erinnern und sie zugleich in der Namenlosigkeit | |
verschwinden zu lassen, die vielen Toten, die es kostete, die Deutschen | |
wieder zu vertreiben. Neben dem vergoldeten Denkmal, du musst nur einmal | |
über einen Sandweg laufen, erhebt sich ein Kurgan, einer der vielen | |
Grabhügel, in denen das antike Volk der Skythen seine Fürst:innen und | |
Krieger:innen begrub. So ziemlich alle Hügel in der Steppe sind Gräber. | |
Der ganz alte Tod hat an Schrecken verloren, was einstmals Ehrfurcht gebot, | |
ist heute nur noch ein Haufen Stein und Erde; Bauern pflanzen Getreide | |
darauf an, fahren mit ihren Traktoren bis ganz hinauf. | |
Auf den Feldern siehst du Menschen mit Helmen, sie schauen nach unten und | |
schwenken beim Laufen lange Metallstangen. Sie suchen Minen. | |
Du hast hier gelernt, dass nicht nur die Bäuer:innen von Bilohirka und | |
Bila Krynytsia die Jahreszeiten gut kennen. Die Menschen, die hier Minen | |
ausgesät haben, kennen die Jahreszeiten auch. „Lepestok“, Blütenblätter, | |
heißen die kleinen Anti-Personen-Minen, die oft so schwer zu sehen sind. Es | |
gibt sie in Hellgrün für den Frühling, Sattgrün für den Sommer und Braun | |
für den Herbst. | |
Serhiy Brazhenko hat seinen Traktor tatsächlich repariert. Er ist mit der | |
Egge auf sein Feld gefahren. Und dann mit einer Scheibenegge noch mal | |
hinterher. Dann ging der Motor aus. | |
Als er davon am Telefon erzählt, denkst du an das, was andere im Dorf über | |
Serhiy erzählen. Serhiy soll gesagt haben, dass er nicht mehr leben will, | |
wenn er nicht endlich wieder auf seine Äcker fahren könne. Du denkst an | |
das, was er selbst erzählt hat, über seine Großmutter, die den Holodomor | |
überlebt hat, eine der großen von Stalin und seinen Getreuen verursachten | |
Hungersnöte in der Sowjetunion. Eine Zeit, in der es keine Melonen gab und | |
keine Zwiebeln und die Menschen alles gegessen haben, was sie kriegen | |
konnten, auch andere Menschen. „Meine Großmutter hat zwei Dinge gehasst“, | |
hat Serhiy dir neben seinem Traktor gesagt: „Krieg. Und Hunger.“ | |
Aber Serhiy klingt fröhlich am Telefon. Die Leute, die ihm den Motor | |
verkauft haben, seien eben keine guten Leute, sagt er, die hätten sich | |
schon bei der Bezahlung seltsam angestellt. Er werde den Motor reparieren, | |
sagt er noch, und dass Minensucher:innen ein weiteres seiner Felder | |
geräumt haben. Er will bei Masha und ihren Frauen nachfragen, ob sie Samen | |
für ihn kaufen können. Er will Melonen säen. | |
14 Apr 2025 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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