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# taz.de -- Wiederaufbau in der Ukraine: Die Hoffnung hat viele Gesichter
> Rund um Cherson hat sich der Krieg tief ins Land gefressen, die Front ist
> immer noch nah. Aber die Menschen hier wollen ihr Zuhause wieder
> aufbauen.
Bild: Die Hoffnung ist ein roter Traktor, der irgendwann wieder bei der Melonen…
Bila Krynytsia und Bilohirka Wenn du jemanden findest, der so über dich
spricht wie Serhiy über seinen Traktor, dann hast du im Leben vielleicht
ein paar Dinge richtig gemacht.
„Der Traktor ist meine Seele“, sagt Serhiy. Sanft nach vorn gebeugt steht
er da, er lächelt so, dass er seine schmalen Lippen kaum anhebt in den
Mundwinkeln, und doch erreicht dieses Lächeln sein ganzes, vom kalten Wind
gerötetes Gesicht. Serhiy steht vor seinem Traktor und der wiederum stützt
sich auf einen abgesägten Baumstumpf, sonst würde er umfallen, er hat
gerade nur zwei Räder. Die anderen beiden stehen ein paar Meter weit weg,
mitsamt dem Vorderteil der Maschine. Serhiy hat seinen Traktor geteilt, um
ihn endlich zu reparieren. Im Frühling 2022 haben Mörsergranaten den Motor
zerfetzt.
Du kannst dir die zerschossenen alten Teile anschauen, sie liegen noch
dort, wo die Granaten eingeschlagen sind vor Serhiys Haus. „Es tut weh,
wenn ich sehe, wie jeder aufs Feld fährt, nur ich nicht“, sagt Serhiy,
bückt sich und klopft mit einem riesigen Inbusschlüssel neben der
Getriebewelle herum, die vorn aus dem Traktor herausragt. Da soll der neue
Motor hin.
Zwei Jahre hat Serhiy gespart und seit gestern liegt vor seinem Haus, fast
an der gleichen Stelle, wo damals die Granaten eingeschlagen sind, ein
großes Paket. Die Pappe hat Serhiy schon aufgerissen, aus dem Loch schaut
braunes Metall. Heute ist Sonntag, heute bereitet Serhiy alles vor. Morgen
baut er den neuen Motor ein. Noch einmal dengelt Serhiy mit seinem
Inbusschlüssel neben die Getriebewelle. Öl und Fett regnen in schwarzen
Brocken auf den Rasen. Serhiy murmelt etwas in Traktorsprache von
Dichtungen und einem Ausrücklager und dann schaut er mit seinem leisen
Lächeln auf und sagt auf Ukrainisch: „Ich muss da raus, das Land singt.“
Das Land ist die Steppe nordöstlich der Stadt Cherson, flach und weit unter
einem ebenso weiten Himmel. Übersetzt du die Ortsnamen vom Ukrainischen ins
Deutsche, könntest du meinen, du wärst in Tolkiens Auenland geraten.
Serhiys Dorf heißt Bilohirka, Weißhügel, ein paar Kilometer weiter, auf der
anderen Seite des sich wie eine Schlange windenden Flusses Inhulez liegt
Bila Krynytsia, Weißbrunnen. Es gibt auch ein Sukhyi Stavok, Trockener
Teich. Aber da leben keine Menschen mehr, nur noch Hühner suchen Futter
zwischen den Ruinen.
Bis Bilohirka kamen Russlands Soldaten Anfang 2022 bei ihrem Versuch, die
gesamte Ukraine zu erobern. Über den Inhulez schafften sie es nicht, der
war die Grenze, was nicht heißt, dass sie über dieses schmale Wasser nicht
schießen konnten mit ihren Mörsern, ihrer Artillerie, ihren
Mehrfachraketenwerfern. Ukrainische Soldat:innen schossen zurück.
In den Gärten von Bilohirka und Bila Krynytsia liegen mehr Patronenhülsen,
Granatreste und Raketentrümmer als dort Blumen wachsen. Gut, es ist März,
der Frühling kommt erst noch. Die Ukrainer:innen vertrieben die Besatzer
schließlich im Herbst 2022 nach Osten auf die andere Seite eines viel
breiteren Flusses, als es der Inhulez je sein wird, auf die andere Seite
des Dnipro.
Fünfzig Kilometer weit ist die Front heute von Serhiy und seinem Traktor
weg. Der Krieg hat sich hier so tief in die Landschaft gefressen, dass es
schwerfällt, sich die Dörfer, Felder und Straßen ohne ihn vorzustellen.
Einschusslöcher ziehen sich in sprunghaften Mustern über Hauswände und
Tore, Schützengräben zerschneiden die Höfe, der blaue Himmel blendet durch
hölzerne Dachstuhlgerippe, aus der schwarzen Erde der Weizenäcker ragen die
leeren Rohre abgeschossener Raketen. Im struppigen Gebüsch am Rand der Wege
flattern zerrissene Einkaufstüten aus Plaste, sie sind ein Signal: Hier
wurden Minen geräumt. Was bedeutet, dass an den vielen Stellen, wo keine
Plastetüten flattern, noch Minen liegen.
Wer will hier leben?
Wer baut die Häuser wieder auf, pflanzt neu, schüttet die Gräben zu?
Serhiy Brazhenko lebt hier, 59 Jahre alt, bald wird er 60. Er ist ein
Melonenbauer, die Gegend hier ist berühmt für ihre Melonen. Serhiy ist ein
Poet, wenn es um Landmaschinen und Schwarzerde geht, und über die Zwiebeln
schwärmt er wie ein Minnesänger. Seine Sätze werden kürzer, wenn er über
Menschen redet. Die Straße hinein nach Bilohirka, die mit Serhiys Haus
beginnt, führt an einsamen Wänden, Steinhaufen und Erdlöchern vorbei, von
den einst fünfzehn Familien in dieser Straße wohnen hier noch vier, sagt
Serhiy.
Und dann so ganz nebenher, du hast es kaum gemerkt, hat er dir da eben
wirklich gesagt, dass er in den Trümmern nebenan aufgewachsen ist, dass es
sein Elternhaus war und dass sein Bruder dort während der Besatzung
gestorben ist? Ja, das hat er. Serhiys Mutter immerhin, die lebt noch, sie
ist mit ihren 87 Jahren noch einmal umgezogen, nach Davydiv Brid. Brid
heißt Furt auf Ukrainisch, der Inhulez ist an der Stelle so flach, dass ihn
die Salzhändler früherer Tage dort durchquerten.
Auf Serhiys Grundstück stehen Schilder. Sie warnen weiß auf rot:
„Nebezpechno! Miny!“, „Gefährlich! Minen!“. Zur Sicherheit prangt zwis…
diesen Worten noch ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Und trotzdem tritt
ein Mann zu dem Gespräch mit Serhiy dazu und dann tritt dieser Mann mit
seinen Stiefeln gegen das dunkle, runde Ding, das neben einem der
Totenkopfschilder halb aus dem Rasen guckt. Er will nur mal zeigen, dass
diese Sorte Minen nicht so einfach explodiert, da müsste noch mehr Druck
ausgeübt werden, sagt er, und mit viel Druck gibt er dir auch die Hand. Ein
silbergrauer Hund bellt ihn an, so wie hier die ganze Zeit Hunde jemanden
anbellen. Alle sehen sie wie Würste im Fellmantel aus. Es geht ihnen gut.
Ungefähr 120 Menschen lebten vor der Invasion in Bilohirka, heute sind es
noch etwa 20. Gerade in den kleinen Dörfern sind nur sehr wenige geblieben
oder zurückkommen, sagen die beiden Starosta dieser Gegend. Starosta heißt
„Ältester“, es ist ein Amt, in das man für fünf Jahre gewählt wird, in
Friedenszeiten. Der eine ist für Dörfer rechts des Inhulez zuständig, der
andere für die links des Flusses. Beide sind kräftige Männer und auf ihren
beiden Gesichtern liegt eine Spannung, als warteten sie darauf, endlich
ausatmen zu dürfen. Ständig sind sie im Auto unterwegs, ständig am Telefon.
Sie schauen sich kaputte und halb kaputte Häuser an und berechnen die
Schäden, sie schlichten bei Streitigkeiten, wenn Hilfslieferungen verteilt
werden, sie kämpfen um Unterlagen, damit eine Frau endlich auf dem Friedhof
beerdigt werden kann. Ihr Körper liegt seit der Besatzung neben ihrem Haus
vergraben.
Die meisten, die in diesem Frühjahr hier leben, sind entweder nie gegangen.
Weil sie zu alt waren, zu krank, weil sie nicht wussten wohin. Oder es sind
Menschen wie Serhiy, die etwas zu bestellen haben, das Land nämlich. Es
sind Menschen, die sich an diesem Land festgehalten haben, auch während der
Besatzung, der Kämpfe, der Explosionen. Einen Monat harrten Serhiy und
seine Frau aus, bevor sie Mitte April 2022 flohen. Kaum hatte die
ukrainische Armee ihr Dorf im Herbst zurückerobert, kamen sie wieder. Nur
die Stursten sind noch hier, sagen die Starosta. Alle haben eine Geschichte
des Überlebens.
Siehst du das Loch dahinten? Das war unser Wohnzimmer. Raketeneinschlag.
Zum Glück habe ich den Tieren gerade Wasser gegeben. Sonst wäre ich tot.
Das erzählen dir die Großmütter von Bilohirka. Auch Serhiys Haus hat es
erwischt. Bis er es schafft, das wieder aufzubauen, wohnen er und seine
Frau im Stall. Ein großer Raum, rechts das Doppelbett, in der Mitte ein
Kanonenofen, links die Küche und neben dem Regal mit den Tellern und Tassen
das Klo. Hinter einem Vorhang.
Neben dem Stall, der jetzt ein Wohnhaus ist, ragt eine von Soldaten
gezimmerte Holzverschanzung aus der Erde wie der faulige Zahn eines
riesigen Tieres. Serhiy hat es noch nicht geschafft, das abzureißen und
wegzuschaffen, ebenso wie er die Schützengräben quer durch seinen Hühnerhof
noch nicht ganz zugeschüttet hat.
Andere sind in ihre Garagen gezogen. In ihre Küchen. In dieser Gegend haben
die Menschen oft zwei Häuser, ein größeres fürs Wohnen und Schlafen, ein
kleineres fürs Kochen und Essen. Wenn sie Glück haben, steht eins davon
noch.
Was gibt Hoffnung? Sicher nicht die Versprechen auf baldigen Frieden aus
Washington, nicht das grausame Gestammel aus dem Weißen Haus.
Seit dem Herbst schickt Russland fast täglich Schwärme von Drohnen in die
Ukraine. In diesen Tagen im März sterben ein 14-jähriges Mädchen und seine
Eltern in Saporischschja. Ein 5-jähriges Mädchen und zwei andere Menschen
in Kyjiw. Diese Sprache verstehen die Leute hier. Auch wenn die Drohnen die
weite Steppe meist nur überfliegen in Richtung der großen Städte. Nachts
kann man ihr Brummen hoch am Himmel hören und das Maschinengewehrfeuer der
mobilen Einsatzgruppen der ukrainischen Armee, die versuchen, den Tod vom
Himmel zu schießen. Auch wenn die Drohnen die Steppe nur überfliegen,
wissen die Menschen hier, dass man in Russland noch an sie denkt.
In Velyka Oleksandrivka schlug am 1. Juni 2023 eine Rakete ins Kulturhaus
ein. 1. Juni, Internationaler Kindertag in der Sowjetunion, der DDR und
anderen sozialistischen Ländern und heute noch in Russland und der Ukraine.
Die Rakete kam um 10 Uhr morgens, zur einer Zeit, da hätten sie vor vier
Jahren mit den Kindern vielleicht im Kulturhaus gefeiert. Aber weil man
nicht nur in Russland noch an die Menschen hier denkt, sondern die Menschen
hier auch noch an Russland, waren am 1. Juni 2023 keine Kinder dort.
Velyka Oleksandrivka ist so etwas wie die Hauptstadt der kleinen
Steppendörfer, hier sitzt die Verwaltung, hier gibt es eine Klinik. Du
fährst an den Trümmern des Kulturhauses vorbei, du denkst daran, dass die
Deutschen diesen Ort „Alexanderstadt“ genannt haben, als es vor 84 Jahren
noch sie waren, die das Land hier besetzten und die Menschen töteten.
Was also gibt Hoffnung? Was ist überhaupt Hoffnung?
Die Hoffnung sind 760 Steine. 760 Steine passen auf den Truck, der am
Donnerstag, den 20. März 2025, in Bila Krynytsia vor dem Hoftor des
Starosta, westlich des Flusses hält. Er wird mit diesen Steinen sein Haus
wieder aufbauen, seine Eltern und eine Verwandte, die mit ihrem Enkel
hierher geflohen ist, leben noch in der Garage. Ob der Kindergarten des
Ortes, in dem seine Partnerin Ljudmyla gearbeitet hat, je wieder aufgebaut
wird, weiß er nicht. Sie lebt inzwischen davon, aus Hühnern Würste zu
machen.
Die Hoffnung sind 44 Bretter vor Serhiys Grundstück in Bilohirka, ein jedes
6 Meter lang. Die Hoffnung sind 6 Fenster, die der Starosta aus Bila
Krynytsia zusammen mit anderen Männern neben die Bretter stellt, obwohl
dieser Starosta auf dieser Seite des Inhulez nicht zuständig ist.
Die Hoffnung heißt Masha. Maria Khomyakova, 33 Jahre alt, weiches Gesicht
und weiche Stimme. Aber es liegt auch etwas Raues in dieser Stimme, das
sekundenschnell erblüht, wenn Masha lacht. Wenn sie schreien muss zwischen
Männern und Motoren. Masha ist Szenenbildnerin in Kyjiw und sie ist
diejenige, die die Steine und die Bretter bezahlt hat, die in Bila
Krynytsia und Bilohirka vor den Häusern liegen. Sie hat sich zusammengetan
mit anderen Frauen. Sie haben eine Organisation gegründet, „Women’s Forum�…
sie haben Gelder im Ausland gesammelt, und dann haben die Frauen Trucks
gemietet, Fahrer bezahlt, Steine und Holz.
Das mit den Fahrern war gar nicht so einfach, drei sind Masha wieder
abgesprungen, kurz vor der Fahrt. Sie haben erfahren, dass sie sich zur
Musterung melden sollen, sie hatten Angst, sie müssten zur Armee, in den
Krieg. So nahe der Front stehen viele Checkpoints mit Soldat:innen und
Polizist:innen. Vielleicht hätten sie die drei Männer gleich mitgenommen.
Masha hat so lange telefoniert, bis sie neue Fahrer hatte.
Wegen des Krieges findet Masha auch keine Bauarbeiter für Bilohirka und
Bila Krynytsia mehr. Sie werden eingezogen oder verstecken sich, versuchen
wenig zu reisen, fliehen. Viele Frauen trauen sich das Häuserbauen noch
nicht zu, sie haben es nie gelernt. Also lässt Masha Steine, Holz und
Isolierwolle nur vor den Häusern abladen, in denen es noch Männer gibt.
Masha stempelt Lieferscheine, Masha beißt sich auf die Zunge, wenn ein
Angetrunkener sagt, freiwillige Helferinnen wie sie würden nichts tun,
während von Masha bezahlte Arbeiter um ihn herum Mashas Steine stapeln.
Masha zuckt nicht einmal, wenn es laut knallt. Minen, die jemand gefunden
hat, Minen, die jemand gesammelt und in ein Loch geworfen hat und auf die
jemand einen brennenden Autoreifen schleudert, damit sie explodieren.
Sie schickt dir nach diesen Tagen im März Bilder per Telegram, Bilder von
Hämmern mit Köpfen aus Hartgummi. Kyianka heißt der Hammer der
Zimmermannsleute auf Ukrainisch und Kyianka nennt sich auch Masha, weil sie
in Kyjiw geboren ist und nicht nur zugezogen. Sie ist stolz darauf, und zu
den Bildern mit den Hämmern schreibt sie: „Manchmal muss ich selbst so ein
Hammer sein.“
Staatliche Hoffnung, die gibt es auch, Programme für den Wiederaufbau,
viele mit einem „e“ im Namen, weil in der Ukraine vieles nur noch im
Internet passiert. Ukrainer:innen, deren Häuser beschädigt wurden, können
Geld für Baumaterialien bekommen. Für zerstörte Häuser gibt es digitale
Zertifikate, mit denen man sich ein anderes Haus kaufen kann. Aber viele
Menschen hier haben nicht die notwendigen Dokumente für diese Programme.
Von 38 Häusern in Bilohirka existiert nur für eins die Besitzurkunde,
erzählt der Starosta östlich des Flusses. Die Menschen haben über
Generationen ohne Papiere gelebt und ihren Besitz per Handschlag verkauft.
Was es überhaupt an Unterlagen gab, ist dann größtenteils im Krieg
verbrannt.
Die Hoffnung sind Gurken und Tomaten. Wenn man die Straße an Serhiys Haus
in Bilohirka vorbei bis ganz ans Ende fährt, kommt man zu den
Gewächshäusern von Darya Pashnyuk und Kateryna Lypunova. Tropisch warm ist
es hier drin, 25 Grad, es können 45 werden, würde man die Türen schließen.
Dasha, 23 Jahre alt, kniet zwischen zentimeterhohen Gurkenpflanzen, greift
nach grünen Schnüren, die von der Decke über ihr hängen, knotet und windet
sie um kleine Stengel. Hochbinden heißt das, die Gurken sollen entlang der
Schnüre nach oben ranken.
Katya, 25 Jahre alt, topft Tomatenpflanzen in größere Gefäße um. „Natürl…
haben wir Angst“, sagt Dasha. Angst davor, wie viel ukrainisches Land Trump
an Putin verdealt, Angst davor, dass ihr Dorf noch einmal besetzt wird,
Angst davor, dass sie sich wieder vor Soldaten aus Russland verstecken
müssen wie während der ersten Besatzung 2022.
Die beiden führen dich aus der Wärme des Gewächshauses hinaus in die
strahlende Märzsonne und den arktisch kalten Wind und durch eine Tür und
nach rechts in ein Zimmer mit zwei Betten. An der Wand steht ein
Wäscheständer und dahinter hängt ein Teppich, groß, braun und schwer, mit
einem dieser Muster, sollen es Blumen sein, ein Wappen, ein Geschwür?
Jedenfalls hebt Dasha den Teppich an, sie fasst die untere linke Ecke und
hebt ihn hoch und dahinter siehst du den Sims eines Fensters und
übereinander gemauerte Steine dort, wo Glas sein müsste. Hierhin haben sich
die beiden Frauen verkrochen, wenn Soldaten aus Russland auf ihren Hof
kamen.
Katya sagt: „Wir leben Tag für Tag. Monat für Monat.“ Dasha sagt: „Wir
versenken uns darin, etwas wachsen zu sehen, in die Arbeit mit unseren
Händen.“ Bilohirka war mal bekannt für seinen Gemüseanbau. Vielleicht wird
es das wieder.
Wärme ist Hoffnung. Es wird wärmer werden und Yulias Bienen werden fliegen.
Okay, eigentlich fliegen Yulias Bienen schon, seit Mitte Februar. Aber sie
trainieren nur ihre Flügel, werfen die Scheiße ab, die sie während des
Winters gesammelt haben. Yulia Petrienko, 36 Jahre alt, muss sie mit Honig
füttern, damit ihre Bienenvölker nach dem Winter wieder wachsen können. 60
davon leben in Holzkästen hinter ihrem Haus, Holzkästen in Blau, Zartrosa
und Grün. Fotos auf ihrem Mobiltelefon zeigen Erde und Asche an dieser
Stelle.
Bila Krynytsia liegt zwar westlich des Inhulez, Russland hat Yulias Dorf
nie besetzt, „aber sie haben unser Dorf mit Feuer unter Kontrolle
gehalten“, wie Yulia sagt. Ihre Bienen sind verbrannt, ihre 200 Papageien
getötet und vertrieben. Mit den Bienen hat sie neu angefangen, die
Vogelzucht aufgegeben. Zu teuer. Yulia sagt, was Serhiy sagt, was Dasha und
Katya sagen, sie sagt, sie konzentriert sich auf die tägliche Arbeit. Auf
ihre Hände.
100 Bienenvölker hätte Yulia gern, das ist ihr Ziel. Und ein gesundes Kind.
Sie und der Mann, mit dem sie hier lebt, werden wohl die 120 Kilometer in
die große Hafenstadt Mykolajiw fahren, um es zur Welt zu bringen. Die
Geburtstation, die näher dran war, musste schließen. Es leben zu wenig
Menschen hier.
Ein letzter Besuch. Du fährst zu Dmytro Petrienko, dem Bruder von Yulia,
der Imkerin, und Ljudmyla, der Frau, die einmal Kindergärtnerin war. Dmytro
liegt auf einem Hügel über Bila Krynytsia. Ein Mann mit feinen Zügen und
großen dunklen Augen. Auf dem Foto unter dem Kreuz trägt er Uniform und
presst die Lippen zusammen.
23. 05. 1992 – 09. 04. 2023.
Über seinem Grab weht eine blau-gelbe Fahne. Ein paar Meter weiter weht
eine zweite, dort liegt der Sohn neben dem Vater. Der Stein des Vaters ist
zerschmettert, das Bild des Sohnes liegt auf der Erde. Granaten machen vor
den Toten nicht halt.
Du fährst am golden glänzenden Unbekannten Soldaten vorbei, an einer
Wegkreuzung in der Steppe. Der Unbekannte Soldat ist die sowjetische Art,
an die vielen Toten zu erinnern und sie zugleich in der Namenlosigkeit
verschwinden zu lassen, die vielen Toten, die es kostete, die Deutschen
wieder zu vertreiben. Neben dem vergoldeten Denkmal, du musst nur einmal
über einen Sandweg laufen, erhebt sich ein Kurgan, einer der vielen
Grabhügel, in denen das antike Volk der Skythen seine Fürst:innen und
Krieger:innen begrub. So ziemlich alle Hügel in der Steppe sind Gräber.
Der ganz alte Tod hat an Schrecken verloren, was einstmals Ehrfurcht gebot,
ist heute nur noch ein Haufen Stein und Erde; Bauern pflanzen Getreide
darauf an, fahren mit ihren Traktoren bis ganz hinauf.
Auf den Feldern siehst du Menschen mit Helmen, sie schauen nach unten und
schwenken beim Laufen lange Metallstangen. Sie suchen Minen.
Du hast hier gelernt, dass nicht nur die Bäuer:innen von Bilohirka und
Bila Krynytsia die Jahreszeiten gut kennen. Die Menschen, die hier Minen
ausgesät haben, kennen die Jahreszeiten auch. „Lepestok“, Blütenblätter,
heißen die kleinen Anti-Personen-Minen, die oft so schwer zu sehen sind. Es
gibt sie in Hellgrün für den Frühling, Sattgrün für den Sommer und Braun
für den Herbst.
Serhiy Brazhenko hat seinen Traktor tatsächlich repariert. Er ist mit der
Egge auf sein Feld gefahren. Und dann mit einer Scheibenegge noch mal
hinterher. Dann ging der Motor aus.
Als er davon am Telefon erzählt, denkst du an das, was andere im Dorf über
Serhiy erzählen. Serhiy soll gesagt haben, dass er nicht mehr leben will,
wenn er nicht endlich wieder auf seine Äcker fahren könne. Du denkst an
das, was er selbst erzählt hat, über seine Großmutter, die den Holodomor
überlebt hat, eine der großen von Stalin und seinen Getreuen verursachten
Hungersnöte in der Sowjetunion. Eine Zeit, in der es keine Melonen gab und
keine Zwiebeln und die Menschen alles gegessen haben, was sie kriegen
konnten, auch andere Menschen. „Meine Großmutter hat zwei Dinge gehasst“,
hat Serhiy dir neben seinem Traktor gesagt: „Krieg. Und Hunger.“
Aber Serhiy klingt fröhlich am Telefon. Die Leute, die ihm den Motor
verkauft haben, seien eben keine guten Leute, sagt er, die hätten sich
schon bei der Bezahlung seltsam angestellt. Er werde den Motor reparieren,
sagt er noch, und dass Minensucher:innen ein weiteres seiner Felder
geräumt haben. Er will bei Masha und ihren Frauen nachfragen, ob sie Samen
für ihn kaufen können. Er will Melonen säen.
14 Apr 2025
## AUTOREN
Daniel Schulz
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