| # taz.de -- Völkerrechtler zum Krieg im Nahen Osten: „Müssen Rechtsverstö�… | |
| > Der Terror der Hamas erlaubt es Israel nicht, mit gleichsam illegalen | |
| > Mitteln zu antworten, sagt der Völkerrechtler Wolff Heintschel von | |
| > Heinegg. | |
| Bild: Letzte Bordmittel: Menschen müssen mit ihren Habseligkeiten aus Gaza-Sta… | |
| taz: Herr von Heinegg, nach dem [1][furchtbaren Angriff der Hamas auf | |
| israelische Zivilisten am 7. Oktober] hat Israel erklärt, nunmehr die | |
| Struktur der Hamas insgesamt zerstören zu wollen. Ist das durch das | |
| völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung gedeckt? | |
| Wolff Heintschel von Heinegg: Da muss man sehr vorsichtig sein, denn die | |
| Hamas ist eine sehr heterogene Organisation. Wenn wir darüber reden, meinen | |
| wir den militärischen Flügel der Hamas – und den zu zerstören, wäre nicht | |
| nur legitim, sondern auch legal. | |
| Nun gibt es das vieldiskutierte Problem, dass die Hamas ihre militärischen | |
| Einrichtungen in zivilen Gegenden und Gebäuden im ohnehin dicht besiedelten | |
| Gazastreifen unterbringt. Insofern erscheint es doch ausgeschlossen, die | |
| militärischen Strukturen der Hamas zu bekämpfen, ohne zivile Menschenleben | |
| zu gefährden. Wie kann Israel aus diesem Dilemma herauskommen? | |
| Ich räume ein, dass das ein Dilemma ist. Aber um jedem Missverständnis | |
| vorzubeugen: Es ist nach dem humanitären Völkerrecht nicht verboten, bei | |
| Angriffen gegen zulässige militärische Ziele auch Zivilpersonen oder zivile | |
| Objekte in Mitleidenschaft zu ziehen. Das wird leider allzu häufig | |
| missverstanden. Die Regel, die im Übrigen für Israel als | |
| Nichtvertragsmitglied der Genfer Zusatzprotokolle gar nicht verbindlich | |
| ist, besagt nur, dass bei einem Angriff auf ein zulässiges militärisches | |
| Ziel, bei dem zu erwarten ist, dass Zivilpersonen oder zivile Objekte in | |
| Mitleidenschaft gezogen werden, diese sogenannten Kollateralschäden nicht | |
| in einem exzessiven Missverhältnis zum angestrebten militärischen Erfolg | |
| stehen dürfen. Selbst hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung müssen also | |
| nicht per se rechtswidrig sein. | |
| Kann denn in der Situation des dicht besiedelten Gazastreifens eine solche | |
| Verhältnismäßigkeit überhaupt gewahrt bleiben? | |
| Wie gesagt, es ist ein Exzessverbot, es geht nicht um Verhältnismäßigkeit | |
| im allgemeinen Sinne. Aber Sie haben völlig recht: In so einem Gebiet mit | |
| der Größe von Bremen, aber einem Vielfachen von Einwohnern ist das | |
| natürlich unglaublich schwierig. Allerdings muss man auch sehen, dass die | |
| Zivilbevölkerung in Gaza ja nicht nur von den Israelis in Mitleidenschaft | |
| gezogen wird, sondern die Hamas ja auch einiges dafür tut, um die Zahl der | |
| zivilen Opfer möglichst weit nach oben zu treiben. | |
| Inwiefern? | |
| Die Leute werden daran gehindert, in den Süden auszuweichen, was ja heute | |
| auch in den Medien berichtet worden ist. Und aus vorherigen Konflikten gibt | |
| es Videos, in denen man sehen kann, wie Zivilpersonen in Gaza unter | |
| physischer Gewalt gezwungen wurden, sich in Häuser zu begeben, bei denen | |
| die israelische Armee angekündigt hatte, sie anzugreifen. Auch das ist | |
| nichts Neues. | |
| [2][Amnesty International] hat in der vergangenen Woche die | |
| Evakuierungsanordnung des nördlichen Gazastreifens durch Israel als | |
| völkerrechtswidrig kritisiert, weil sie einer Zwangsvertreibung der | |
| Zivilbevölkerung gleichkommen könne. Teilen Sie diese Auffassung? | |
| Im Völkerrecht geht es um Deportationen oder zwangsweise Umsiedlungen. Die | |
| sind einer Besatzungsmacht in der Tat verboten. Jetzt kann man lange | |
| darüber streiten, ob der Gazastreifen besetztes Gebiet ist oder nicht, aber | |
| nehmen wir das einfach einmal an. Man kann auch darüber diskutieren, ob | |
| hier überhaupt eine Deportation oder Zwangsverlegung vorliegt, denn Israel | |
| hat der Bevölkerung ja nur gesagt, dass sie lieber in den Süden gehen | |
| sollte. Aber da die Ankündigung von Gewalt implizit mitschwingt, kann man | |
| da Zwang sehen. Aber selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz | |
| sagt, dass dieses Verbot nicht mehr gilt, wenn es der Sicherheit der | |
| betroffenen Zivilpersonen dient oder überragende militärische Gründe dies | |
| fordern. Und hier haben die Israelis gute Argumente auf ihrer Seite. Denn | |
| sie wollen ja gerade diese Zivilpersonen nicht in Mitleidenschaft ziehen, | |
| wenn sie im Norden des Gazastreifens militärische Operationen durchführen. | |
| Schon kurz nach den Angriffen am 7. Oktober [3][hat Israel den Gazastreifen | |
| komplett abgeriegelt, die Wasser- und Lebensmittelversorgung eingestellt] | |
| und die Grenzübergänge vollständig geschlossen. Es gab diejenigen, die das | |
| in Verbindung mit den einsetzenden Bombardements für eine | |
| völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung erklärt haben. | |
| Schon das Konzept ist fehl am Platze. Dieser Begriff der Kollektivstrafe | |
| wird immer wieder gerne benutzt, aber das ist ein völlig anderer | |
| Rechtsbereich. Wir müssen über das humanitäre Völkerrecht reden, wie es in | |
| bewaffneten Konflikten Anwendung findet. Und da besteht große Einigkeit | |
| darüber, dass es verboten ist, der Bevölkerung vorsätzlich lebensnotwendige | |
| Güter vorzuenthalten. Soviel ich weiß, hat Israel das auch revidiert und | |
| die Wasserlieferungen wieder aufgenommen … | |
| … aber nur für den Süden des Gazastreifens, um einen Anreiz zu schaffen, | |
| den Norden zu verlassen. | |
| Klar, aber Sie müssen die Gesamtsituation betrachten. Allein, dass in einem | |
| Teil des kleinen Gazastreifens die Wasserversorgung gestoppt wird, bedeutet | |
| nicht, dass der Bevölkerung insgesamt lebensnotwendige Güter vorenthalten | |
| werden. Ich kann das von hier aus allerdings nicht wirklich beurteilen – | |
| ich weiß nicht, ob die Abhängigkeit von den Wasserlieferungen so groß ist, | |
| dass die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens nach einigen Tagen des | |
| Wasserentzugs krank wird oder gar stirbt. | |
| Es gibt ja auch ein komplettes Verbot der Treibstoffeinfuhr. Die | |
| Krankenhäuser im Gazastreifen, die ob der vielen Verletzten ohnehin | |
| überfüllt sind, berichten, dass sie bald ihre Generatoren nicht mehr | |
| betreiben können und sprechen von einer humanitären Katastrophe. Die | |
| Krankenhäuser im Norden sagen, dass sie gar nicht Richtung Süden evakuieren | |
| können angesichts der Vielzahl von Patienten. Ist diese Belastung von | |
| Zivilisten noch im völkerrechtlichen Rahmen? | |
| Wir kennen die Situation am Boden nicht hinreichend. Aber grundsätzlich ist | |
| sicherzustellen, dass Krankenhäuser, egal wen sie behandeln, weiterhin | |
| funktionieren. Und wenn sie nur mit Generatoren funktionieren, dann besteht | |
| nicht nur eine Verpflichtung, sie nicht anzugreifen, sondern auch ihre | |
| Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Das würde zum Beispiel | |
| Treibstofflieferungen einschließen. | |
| In politischen Debatten wird oft argumentiert, man könne einen Gegner wie | |
| die Hamas, der sich erkennbar an kein Völkerrecht hält, nicht unter | |
| Einhaltung aller Regeln bekämpfen. Was sagen Sie dazu? | |
| Vor diesem Argument kann ich nur warnen. Ich habe das im Übrigen von | |
| israelischer Seite aus auch noch nie gehört. Das Argument ist an den Haaren | |
| herbeigezogen und widerspricht nicht nur dem Recht, sondern auch der | |
| Staatenpraxis. Das humanitäre Völkerrecht findet gleichmäßig auf alle | |
| Konfliktparteien Anwendung. Es kann nicht eine Konfliktpartei erklären, | |
| sich darum nicht mehr zu scheren, weil es der Gegner auch nicht tue. Die | |
| gleichmäßige Anwendung des humanitären Völkerrechts ist die | |
| Grundvoraussetzung dafür, dass es überhaupt seine Notfunktion erfüllen | |
| kann. Das Völkerrecht hält ja Regeln für eine Situation vor, die es | |
| eigentlich gar nicht geben sollte, nämlich bewaffnete Konflikte. Wenn man | |
| diese Regeln jetzt noch mal in Frage stellt, ist das das Ende des | |
| humanitären Völkerrechts. | |
| Vom US-Angriff auf den Irak bis zum russischen Angriff auf die Ukraine: Ist | |
| das Völkerrecht in den vergangenen Jahrzehnten nicht schon so oft verletzt | |
| worden, dass es ohnehin sehr zahnlos geworden ist? Zumal es zwar eine | |
| Gerichtsbarkeit gibt, die aber keine Durchsetzungsmöglichkeiten hat. | |
| Und die Gerichtsbarkeit, der Internationale Gerichtshof in Den Haag gilt | |
| auch nur für diejenigen Staaten, die sich ihm unterworfen haben. Im | |
| Übrigen: Ja, das Völkerrecht wird immer mal wieder außer Acht gelassen oder | |
| sogar vorsätzlich verletzt. Aber das ist kein Zeichen dafür, dass das ganze | |
| Recht obsolet geworden oder hinfällig sei. Auch im nationalen Recht gibt es | |
| immer Rechtsverstöße – okay, wir können sie mithilfe der Polizei auch | |
| verfolgen, was international so nicht ist. Aber vor allem: Das humanitäre | |
| Völkerrecht wird von Staaten gemacht. Und die Staaten können auch durch | |
| eine Änderung ihrer Praxis und ihrer Vertragsanwendung zu einer Änderung | |
| und Weiterentwicklung – oder Rückentwicklung – des Völkerrechts beitragen. | |
| Im Völkerrecht ist nichts in Stein gemeißelt. | |
| Aber ist denn dann der Verweis auf eine Völkerrechtsverletzung oder der | |
| Appell, sich an das Völkerrecht zu halten, in Konflikten wie jetzt zwischen | |
| Israel und Gaza überhaupt noch etwas wert? | |
| Natürlich! Das ist sogar unsere verdammte Pflicht! Nicht nur als | |
| Völkerrechtler, sondern auch als Regierungen. Da aus politischer | |
| Rücksichtnahme oder schlichter Feigheit zurückzuscheuen, sollten wir | |
| tunlichst unterlassen! Wir müssen Rechtsverstöße benennen, und zwar | |
| ausdrücklich. | |
| 17 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Eskalation-im-Nahost-Konflikt/!5965541 | |
| [2] https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/gaza-evakuierungsbefehl-der-isra… | |
| [3] /Unter-israelischer-Belagerung/!5962725 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernd Pickert | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Gaza | |
| Völkerrecht | |
| Israel | |
| Palästina | |
| Blockade | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| IG | |
| EU-Kommission | |
| Ägypten | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| EU-Gipfel zum Krieg in Nahost: Die richtige Formel | |
| Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU ringen bei ihrem Gipfeltreffen um | |
| ihre Position zum Krieg in Nahost. Doch das hat nur symbolische Bedeutung. | |
| Leiter von Hilfsorganisation über Gaza: „Gesundheitssystem vor dem Kollaps“ | |
| Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal, sagt Tsafrir Cohen | |
| von Medico International. Was erwartet er von der internationalen | |
| Gemeinschaft? | |
| EU-Sondergipfel zu Israel und Nahost: Bemühungen um Deeskalation | |
| In Brüssel werden Meinungsverschiedenheiten zwischen Rat und Kommission | |
| deutlich. Frankreichs Staatschef Macron kündigt Nahost-Reise an. | |
| Humanitäre Lage in Gaza: Alle Wege führen nach Rafah | |
| Seit Tagen laufen Verhandlungen, den ägyptischen Grenzübergang zu öffnen, | |
| um Hilfsgüter nach Gaza zu liefern. Aber das entscheidet Ägypten nicht | |
| allein. | |
| Scholz und Biden besuchen Israel: Zwischen Solidarität und Diplomatie | |
| Israel hat das Recht, sich zu wehren, betont Kanzler Olaf Scholz in Tel | |
| Aviv. US-Präsident Biden wählt mahnende Worte vor seinem Besuch am | |
| Mittwoch. | |
| Israels Dilemma: Es geht ums Überleben | |
| Kein Land der Welt muss sich so für sein schieres Überleben rechtfertigen | |
| wie Israel. Selbst im Angesicht des absoluten Terrors durch seine Feinde. | |
| Israels Pläne für den Gazastreifen: Hamas vernichten – und dann? | |
| Bislang gibt es kein Konzept dafür, was mit dem Gazastreifen passieren | |
| soll. Eine internationale Treuhandschaft könnte ein Weg sein. | |
| Krieg in Nahost: Drahtseilakt im Westjordanland | |
| Die humanitäre Krise in Gaza spitzt sich weiter zu. Nach langem Zögern hat | |
| sich der palästinensische Präsident von dem Angriff der Hamas distanziert. |