| # taz.de -- Leiter von Hilfsorganisation über Gaza: „Gesundheitssystem vor d… | |
| > Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal, sagt Tsafrir Cohen | |
| > von Medico International. Was erwartet er von der internationalen | |
| > Gemeinschaft? | |
| Bild: „Es muss der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden: zerstörte Gebä… | |
| taz: Herr Cohen, am Dienstag gab es eine Explosion an [1][einem Krankenhaus | |
| in Gaza], dabei sollen hunderte Menschen gestorben sein. Welche Folgen wird | |
| das haben? | |
| Tsafrir Cohen: Das steigert die Zahl der Toten in Gaza noch weiter, seit | |
| Kriegsbeginn sind dort schon über 3.000 Menschen gestorben. Und es | |
| verschärft die humanitäre Lage, denn das Gesundheitssystem steht vor dem | |
| Kollaps. Auch wenn noch unklar ist, wer dafür verantwortlich ist, sollten | |
| die Waffen jetzt sofort schweigen. Die Leute im Globalen Süden schauen sehr | |
| genau darauf, wie sich der Westen in diesem Konflikt verhält. Für sie ist | |
| das der Lackmustest, ob sich der Westen an seine eigenen Werte hält – oder | |
| ob er Menschenrechte nur dann ins Feld führt, wenn er seine | |
| Vormachtstellung und seine imperiale Lebensweise rechtfertigen will. Wenn | |
| wir da durchfallen, wird die Entfremdung zwischen dem Globalen Süden und | |
| dem Westen weiter zunehmen, die sich übrigens auch auf deutschen Straßen | |
| niederschlägt. Wir müssen eine Sprache und eine Praxis entwickeln, anhand | |
| derer wir das Menschenrecht von überall, zu jeder Zeit auf gleiche Weise | |
| durchbuchstabieren können, hier wie dort. Das ist das Gebot der Stunde. | |
| Wie geht es Ihren Partnern in Israel und im Gazastreifen? Wie erleben sie | |
| die Situation? | |
| Wir haben eine Reihe von Partnern, mit denen wir teilweise seit 30 Jahren | |
| zusammenarbeiten. Die israelische Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ | |
| zum Beispiel hat sofort Menschen geholfen, die nach den Angriffen der Hamas | |
| aus der Region evakuiert worden sind. Viele von ihnen sind in Hotels am | |
| Toten Meer untergebracht worden. Gastarbeiter aus Thailand, die in der | |
| Landwirtschaft arbeiten, wurden dagegen in größeren Hangars untergebracht. | |
| An beiden Orten gibt es keine ausreichende Gesundheitsversorgung. Ein | |
| anderer Medico-Partner ist die „Palestinian Medical Relief Society“, die | |
| seit vielen Jahren im Gazastreifen arbeitet. Im Moment betreiben sie | |
| Pop-up-Kliniken, um im Kriegsgeschehen ein Mindestmaß an Basisgesundheit | |
| aufrechtzuerhalten. Die meisten Menschen sind auf der Flucht, und es gibt | |
| kaum noch Wasser und Strom. Vor allem der Stopp der Wasserzufuhr führt zu | |
| der Gefahr, dass Menschen kontaminiertes Wasser trinken. Schlimm ist, dass | |
| seit dem 7. Oktober der solidarische Zusammenhalt zwischen progressiven | |
| Israelis und Palästinensern über alle Grenzen hinweg zerrieben wird. Die | |
| gemeinsame Vision und auch Praxis zu erneuern, wird eine Mammutaufgabe. | |
| Die EU hat nun angekündigt, die humanitären Hilfsgelder für den | |
| Gazastreifen zu verdreifachen. Vor einer Woche wollte sie noch alle | |
| Hilfsgelder stoppen. Auch Deutschland wollte seine Hilfsgelder auf den | |
| Prüfstand stellen. Was würde ein Stopp bedeuten? | |
| Das Gros unserer Projekte wird weltweit durch Spenden finanziert. Im | |
| Gazastreifen arbeiten wir aber auch mit staatlichen Geldern. Dort | |
| unterstützen wir Projekte zur Gesundheitsversorgung und progressive | |
| Organisationen, die etwa helfen, Frauen in einer patriarchalen und | |
| bitterarmen Gesellschaft zu ermächtigen. Oder die | |
| Menschenrechtsorganisation Al Mezan, die gleichermaßen | |
| Menschenrechtsverletzungen seitens der israelischen Armee, der Hamas sowie | |
| der Palästinensischen Autonomiebehörde bekämpft. Ihnen würde man das Geld | |
| streichen, nicht der Hamas. | |
| Welchen Spielraum gibt es dafür? | |
| Seit die Hamas 2007 im Gazastreifen die Macht übernommen hat, sind die | |
| Spielräume dort immer kleiner geworden. Aber unsere Partner nutzen die | |
| Spielräume, die sie haben. Das kennen wir auch aus anderen Ländern wie | |
| Iran, Syrien oder Afghanistan. Wenn wir nur dort arbeiten könnten, wo eine | |
| wunderbare Demokratie herrscht, dann müssten wir unsere Arbeit ganz | |
| einstellen. | |
| Wie können Sie verhindern, dass Geld an die Hamas fließt? | |
| Zunächst zum Kontext: Im Gazastreifen leben etwa 2,3 Millionen Menschen auf | |
| 350 Quadratkilometern, das ist in etwa die Größe von Köln. Wir reden von | |
| einer Enklave, die abgeriegelt ist und dadurch abhängig von Hilfsgeldern | |
| aus dem Ausland ist. Die Bundesregierung hat sich, zusammen mit den USA und | |
| der EU, seit den Friedensverträgen von Oslo dazu verpflichtet, Gaza zu | |
| unterstützen, bis eine endgültige Lösung zwischen Israel und den | |
| Palästinensern erzielt wurde. Das ist umstritten, weil es Israel von seiner | |
| Verantwortung für die unter Besatzung lebenden Palästinenser entbindet, die | |
| es aufgrund des Völkerrechts eigentlich trägt. Die Gesundheitsversorgung | |
| etwa interessiert weder Israel noch die Hamas – da springen | |
| Hilfsorganisationen ein, darunter unsere Partner. Diese haben unser | |
| vollstes Vertrauen. | |
| Nun steht eine Bodenoffensive bevor. Was erwarten Sie? | |
| Wir haben in den vergangenen Jahren mehrere Kämpfe innerhalb von Städten | |
| erlebt: Denken Sie an Grosny, an Aleppo, an Mariupol. Der aktuelle | |
| Schrecken wäre dann nur die Vorstufe zu einem noch größeren Grauen. | |
| Es heißt, die Hamas versteckt sich hinter Zivilisten und in Wohngebäuden. | |
| Was ist Ihre Erfahrung? | |
| Die Situation der Zivilbevölkerung Gazas ist seit Jahrzehnten unhaltbar. | |
| Man hat den Eindruck, dass ihr Leben niemandem etwas bedeutet, sie von | |
| allen beteiligten Akteuren zum Spielball gemacht und ihre Menschenwürde | |
| systematisch missachtet wird. Sie leidet nicht nur im Krieg unter der Hamas | |
| und deren kaltblütiger militärischer Strategie. Auch Israel hat als | |
| Besatzungsmacht, die es immer noch ist, die Verantwortung, Zivilisten zu | |
| schützen. | |
| Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock waren beide | |
| [2][in Israel und haben dem Land ihre volle Unterstützung zugesagt]. Was | |
| erwarten Sie von der Bundesregierung? | |
| Deutschland ist der zweitwichtigste Alliierte Israels. Deshalb muss die | |
| Bundesregierung sehr verantwortungsvoll handeln. Es war richtig, direkt | |
| nach den Angriffen zu signalisieren, dass man fest an der Seite der Opfer | |
| und der betroffenen Menschen in Israel steht. | |
| Aber? | |
| Doch es ist brandgefährlich, wenn aus der besonderen Verantwortung | |
| Deutschlands eine bedingungslose Unterstützung des israelischen Vorgehens | |
| abgeleitet wird. In der israelischen Regierung sitzen Rechtsradikale, die | |
| einer ethnischen Säuberung das Wort reden. Zudem hat die Regierung in den | |
| letzten Monaten enorm an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verloren und | |
| versucht, sie durch massive Vergeltung wiederherzustellen. Dies gefährdet | |
| auch das Leben der Geiseln. In dieser Situation ist es sehr wichtig, dass | |
| gerade die Verbündeten Israels auf der Einhaltung des Völkerrechts bestehen | |
| und den Schutz von Geiseln wie Zivilbevölkerung als Bedingung für die | |
| weitere Unterstützung nennen. | |
| Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant hat eine totale Blockade | |
| von Wasser, Strom und Lebensmittelzufuhr in den Gazastreifen verhängt. Wie | |
| bewerten Sie das? | |
| Es ist zumindest ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Die | |
| Bundesregierung muss klarmachen, dass jede Seite für ihre Taten | |
| verantwortlich ist und für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. | |
| Verbrechen der einen Seite können nicht Verbrechen der anderen | |
| rechtfertigen. Die Hamas hat auf brutale Art und Weise Grenzen | |
| überschritten. Das rechtfertigt aber keine Grenzüberschreitungen der | |
| anderen Seite. | |
| Was kann die internationale Gemeinschaft tun? | |
| Am Dringlichsten wäre, darauf hinzuarbeiten, die aktuelle Eskalation zu | |
| beenden. Es gilt, die weitere Brutalisierung und Entmenschlichung zu | |
| stoppen. Es braucht internationalen Druck auf alle Akteure, von allen | |
| Seiten. Die Hamas muss alle Geiseln unverzüglich freilassen, alle Angriffe | |
| auf Zivilisten und auf Gesundheitseinrichtungen müssen aufhören, humanitäre | |
| Hilfe muss ermöglicht und politische Vorschläge jenseits der militärischen | |
| Eskalation entwickelt werden. Medico hat seit Jahrzehnten, vor allem seit | |
| der völkerrechtswidrigen Abriegelung des Gazastreifens 2007, vor einer | |
| solchen Eskalation gewarnt und mit unseren israelischen und | |
| palästinensischen Partnern eine politische Lösung des Konflikts gefordert. | |
| Das gilt auch nach der Zäsur des 7. Oktobers. Es muss [3][der Kreislauf der | |
| Gewalt] durchbrochen werden. Denn ohne ein Recht auf Rechte für alle | |
| Menschen in Israel und Palästina, in welchen staatlichen Formen auch immer, | |
| wird es kein Ende der Gewalt und damit auch keine Sicherheit für Israelis | |
| wie Palästinenser geben. | |
| Hinweis: In einer früheren Version des Interviews stand, eine Rakete sei in | |
| ein Krankenhaus eingeschlagen. Als gesichert gilt, dass es am Dienstagabend | |
| zu einer Explosion auf einem Parkplatz nahe dem Al-Ahli-Krankenhaus in | |
| Gaza-Stadt kam. Die entsprechende Stelle wurde geändert. | |
| 18 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Krankenhaus-in-Gaza/!5963798 | |
| [2] /Scholz-und-Biden-besuchen-Israel/!5963749 | |
| [3] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Bax | |
| ## TAGS | |
| IG | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| GNS | |
| Humanitäre Hilfe | |
| Gaza | |
| Hilfsorganisation | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Ägypten | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| EU-Gipfel zum Krieg in Nahost: Die richtige Formel | |
| Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU ringen bei ihrem Gipfeltreffen um | |
| ihre Position zum Krieg in Nahost. Doch das hat nur symbolische Bedeutung. | |
| Entwicklungsforscher über Gaza: „Radikalisierung droht“ | |
| Entwicklungsökonom Markus Loewe warnt davor, die Hilfen für die | |
| palästinensischen Gebiete auszusetzen. Dies würde nur der Hamas in die | |
| Hände spielen. | |
| Humanitäre Hilfe in Gaza: Weg frei für die Hilfslieferungen? | |
| Medizin, Lebensmittel und Trinkwasser für den Gazastreifen stehen bereit. | |
| Doch es gibt viele Hürden, bis sie Menschen in Not erreichen. | |
| Antiisraelische Proteste in Jordanien: Für das Land der Vorfahren | |
| Nirgendwo leben mehr palästinensische Geflüchtete als in Jordanien. Die | |
| Hamas dominiert hier nicht, aber die Proteste gegen Israel nehmen zu. | |
| Krankenhaus in Gaza: Ein Raketenschlag und viele Fragen | |
| Nach einer Explosion mit vielen Toten bei einem Krankenhaus ist weiterhin | |
| vieles unklar. Das ist bisher bekannt. | |
| Nach Besuch von US-Präsident Biden: Israel stimmt Hilfslieferungen zu | |
| US-Präsident Biden kündigt in Tel Aviv humanitäre Hilfe für den | |
| Gazastreifen an. Israel möchte sich dem nicht in den Weg stellen. | |
| Bundeskanzler reist durch Nahost: Scholz und al-Sisi beraten zu Gaza | |
| Bundeskanzler Scholz ist in Ägypten angekommen. Der ungeklärte | |
| Raketenangriff auf ein Krankenhaus in Gaza erschwert das Treffen mit | |
| Präsident al-Sisi. | |
| Sorge um die israelischen Geiseln: „Sicherheit statt Rache“ | |
| Für viele Israelis hat die Befreiung der Geiseln höchste Priorität. Einige | |
| fordern Verhandlungen statt Bomben. Doch es gibt auch radikale | |
| Gegenstimmen. | |
| Völkerrechtler zum Krieg im Nahen Osten: „Müssen Rechtsverstöße benennen�… | |
| Der Terror der Hamas erlaubt es Israel nicht, mit gleichsam illegalen | |
| Mitteln zu antworten, sagt der Völkerrechtler Wolff Heintschel von Heinegg. |